Von Werner Schneider

1939 und 2022 – Hitlers und Putins nahezu identische Kriegsbegründungen

Am 24. Februar 2022 hat nicht nur Europa, sondern die gesamte Welt erneut eine Zeitenwende erlebt. Wladimir Putin hat unter dem grotesken Vorwand, die Ukraine entnazifizieren und entmilitarisieren zu müssen, seine Truppen völkerrechtswidrig in die Ukraine einmarschieren lassen.  Putins Krieg gegen die Ukraine verursacht bei den Streitkräften beider Länder und unter der Zivilbevölkerung der Ukraine ungeheures Leid, Zerstörung, Tod.

 Die vom Machthaber im Kreml zudem bewusst herbeigeführte Energieverknappung führt nicht nur weltweit zu vervielfachten Energiepreisen, sondern zu einer viele Millionen Menschen betreffende Hungersnot. Zynisch nennt Putin seinen Krieg eine „Spezial-Operation“. Wer sich in Russland kritisch zu dieser Spezial-Operation äußert und dabei das Wort Krieg verwendet, muss mit einer hohen Gefängnisstrafe rechnen.

“Den Sieger fragt keiner”

In seinen Lügen verunglimpft Putin die Mitglieder der ukrainischen Regierung als „Bande von Drogenabhängigen, Neonazis und Terroristen“. Den jüdischen, demokratisch gewählten Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selensky, erklärt er gar zum „Staatsfeind Russlands“ und bezeichnet als eines der Ziele seines mörderischen in die Ukraine deren „Entnazifizierung“. Die Lügen der Zeitenwende des 24. Februar 2022 haben eine Parallele in den dreisten Lügen der Zeitenwende vom 1. September 1939. Am 22. August 1939, also eine Woche vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, sagte Adolf Hitler auf dem Obersalzberg vor 50 höchstrangigen Offizieren, die auf seinen Befehl in Zivil erschienen waren:

Ich werde propagandistischen Anlass zur Auslösung des Krieges geben, gleichgültig, ob glaubhaft. Der Sieger wird später nicht danach gefragt, ob er die Wahrheit gesagt hat oder nicht. Bei Beginn und Führung des Krieges kommt es nicht auf das Recht an, sondern auf den Sieg.“

Adolf Hitler mit Offiziere

Keiner der angetretenen Elite-Offiziere wagte es seinerzeit, Adolf Hitler zu widersprechen, selbst nachdem er die folgenden, drohend-brutalen Sätze gesprochen hatte:

„Ich habe den Befehl gegeben – und ich lasse jeden füsilieren, der auch nur ein Wort der Kritik äußert – dass das Kriegsziel nicht im Erreichen von bestimmten Linien, sondern in der physischen Vernichtung des Gegners besteht. So habe ich, einstweilen nur im Osten, meine Totenkopfverbände bereitgestellt mit dem Befehl, unbarmherzig und mitleidslos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken. Nur so gewinnen wir den Lebensraum, den wir brauchen.“

Der Sturm auf den Sender Gleiwitz

Eine ganze Woche hätten die bei dieser Rede anwesenden Oberkommandierenden der Wehrmacht Zeit gehabt, wenigstens zu versuchen, Hitler von seinen Kriegsplänen abzubringen. Sie haben es nicht getan. Am 1. September 1939 befahl der zum Kriegsverbrecher gewordene Führer und Reichskanzler den Angriff auf Polen und behauptete wahrheitswidrig, deutsche Truppen erwiderten lediglich den Überfall polnischer Soldaten auf den deutschen Radiosender Gleiwitz. Aus ihren Volksempfängern hörten die Deutschen Adolf Hitlers Lügen, die in dem Satz kulminierten „Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen.“ In Wirklichkeit hatte ein deutsches Kommando in polnischer Uniform den Sender gestürmt. Erkennt jemand die Parallelen?

Mit der Zeitenwende des 1. September 1939, das heißt mit der Nazidiktatur, mit ihren Verbrechen und mit den mutigen Menschen, die Widerstand dagegen wagten, habe ich mich mehr als 60 Jahre lang intensiv sowohl beruflich als auch privat beschäftigt.

Warum habe ich das getan?

Es gibt hierfür nicht nur einen einzigen Grund. Aber einen der frühesten und folgenreichsten Gründe sehe ich in meinem Auschwitz-Ur-Erlebnis, wie ich ein für mein gesamtes Leben relevantes Erlebnis zu nennen pflege. Dieses Ereignis wurde für mich zu einer persönlichen Zeitenwende. Es geschah an einem Samstagnachmittag im Gasthof meiner Eltern in dem kleinen Eifelort Urft. Der Gasthof sowie das Elternhaus meiner Eltern waren am 18. Dezember 1944 bei einem Angriff von mehr als 30 Bombern auf Urft völlig zerstört worden. Meine Großeltern sowie fünf weitere Personen aus unserem Familien- und Freundeskreis kamen dabei ums Leben.

Ein einziger Raum mit Ofen

Urft, vor dem 2.Weltkrieg

In den Jahren des Wiederaufbaus der zerstörten Häuser lebten 11 Menschen in einer engen Wohnbaracke. Die Küche als einziger Raum hatte in der kalten Jahreszeit einen wärmenden Ofen. Die Enge der Wohnbaracke spiegelte sich in den Räumlichkeiten der Volksschule in Urft wider, die ich fünf Jahre lang besuchte. Dort unterrichtete ein einziger Lehrer rund 60 Jungen und Mädchen der Klassen 1 – 8 in einem einzigen Raum in allen Fächern außer in Katholischer Religionslehre.  Auch hier gab es für den gesamten Raum nur einen einzigen Holzofen. Als Hilfskraft des betagten Lehrers durfte ich im Vorraum der Schule mit einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern Lese- und Rechenübungen machen. Dabei ist wohl mein pädagogisches Interesse erwacht.

Die Hauptpersonen meines folgenreichen Auschwitz-Erlebnisses waren ein ehemaliger Wehrmachtssoldat und dessen früherer kommandierender Offizier. Beide gehörten während des Zweiten Weltkriegs zu einem Erschießungskommando in Auschwitz. Nach dem Krieg arbeitete der Soldat als Gärtner eines Industriellen, der in der Nähe von Urft eine luxuriöse Villa als Zweitwohnsitz besaß.  Der Gärtner wohnte in einem der Gästezimmer des Gasthofs meiner Eltern. Der einstige Offizier wurde ein angesehener und wohlhabender Geschäftsmann in einem Nachbarort. Bis zu einem Samstag im Herbst 1955 wussten allerdings beide nicht, dass sie nur wenige Kilometer voneinander entfernt lebten.

In letzter Sekunde Mord verhindert

An jenem Samstag begegneten sie sich – unerwartet und zufällig – in dem wieder aufgebauten Gasthof meiner Eltern. Wie fast an jedes Wochenende Samstag spielte der Gärtner Skat mit mir und einem meiner älteren Freunde. Der Geschäftsmann stand an der Theke und unterhielt sich mit einem anderen Gast. Ich bemerkte, dass der Gärtner immer wieder zu dem Geschäftsmann hinschaute und unruhig wurde. Als dieser einmal zum Toilettengebäude ging, folgte ihm der Gärtner und wenig später ein weiterer Gast, ein Hüne von Gestalt. Dieser konnte im letzten Augenblick den Gärtner daran hindern, den Geschäftsmann mit seiner Gartenschere zu erstechen.

Des Rätsels Lösung: Jahre vorher, bei einer Erschießungsaktion in Auschwitz hatte der dorthin abkommandierte Soldat sein Gewehr zur Seite geworfen und geschrien: „Ich will nicht mehr, ich mache nicht mehr mit.“ Daraufhin war ihm von seinem Offizier die Pistole an die Schläfe gesetzt worden mit den Worten: „Mach weiter. Oder du liegst in fünf Sekunden tot in der Grube.“

Eine kaum glaubliche Versöhnung

Es war nicht einfach, die beiden Männer wieder miteinander zu versöhnen. Aber -man glaube es oder nicht – es ist meinen Eltern gelungen. Allerdings nur in Andeutungen sprachen die beiden Ex-Soldaten über ihre Erlebnisse in Auschwitz. Grauenvoll waren aber selbst diese Andeutungen.  Nicht nur bei meinen späteren Besuchen in Auschwitz und in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem habe ich mich an mein Ur-Erlebnis erinnert. Es ist mir in meinem gesamten Leben unvergesslich und beruflich folgenreich geblieben.

Hermann-Josef-Kolleg in Steinfeld ©wikipedia

Damals war ich Schüler am Hermann-Josef-Kolleg in Steinfeld in der Eifel. Über Julius Caesar, Karl den Großen und Napoleon erfuhren wir im Unterricht mehr als über Adolf Hitler, Hermann Göring und Joseph Goebbels. Von Auschwitz und der Ermordung von 6 Millionen Juden ganz zu schweigen. Dies ist kein nachträglicher Vorwurf an meine Schule, sondern die Feststellung zu einer Situation, wie sie bis zum Anfang der 1960-er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland vorherrschend war:  Über die Nazi-Diktatur wurde von der Mehrheit der Bevölkerung nicht gesprochen oder geschrieben, sondern bewusst geschwiegen.  Man wollte, wie es so schön hieß, nach vorne blicken und die furchtbare Vergangenheit verdrängen und vergessen.

Die Wissenslücke füllt sich allmählich

Meine nicht geringen Wissenslücken über die Nazi-Diktatur konnte ich in den ersten Jahren meines Studiums an der Universität Bonn stark reduzieren. In der dreimonatigen vorlesungsfreien Zeit zwischen Sommer- und Wintersemester arbeitete ich als Werkstudent bei der Bundeszentrale für Heimatdienst, der Vorläuferin der heutigen Bundeszentrale für politische Bildung. Dank der Großzügigkeit des damaligen Direktors, Dr. Paul Franken, füllten bald Standardwerke über die Entstehung des Nazi-Regimes, über den Zweiten Weltkrieg und über die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden mein studentisches Bücherregal. Das für mich damals finanziell kaum erschwingliche Sammelwerk „JUDEN IM DEUTSCHEN KULTURBEREICH“ hat noch heute einen Ehrenplatz in meiner Hausbibliothek.

Abiturfeier mit Folgen

Eine Konsequenz dieses langjährigen Schweigens in der Gesellschaft über die Nazi-Diktatur habe ich 1968 in meinem zweiten Ausbildungsjahr für das Lehramt am Dreikönigsgymnasium in Köln selbst erlebt. An dieser Schule hatten, nach allgemeiner Auffassung, die bundesweiten 1968-er Schülerproteste ihren Ursprung. Die Rede des Schulleiters bei der feierlichen Abiturfeier des Jahres 1968 in der Aula wurde abrupt dadurch beendet, dass der Schülersprecher sich neben den Rektor stellte, ihm das Mikrofon entriss und anklagende Sätze in die Aula schrie. Der Schulleiter und das gesamte Kollegium verließen daraufhin wortlos die Aula und begegneten in deren Vorhalle einer Gruppe von Medienvertretern, die von den Abiturienten vorinformiert und dorthin bestellt worden waren.

Als ich am nächsten Tag ohne meinen Ausbildungslehrer zum ersten Mal eine Obersekunda (heute heißt sie Jahrgangsstufe 11) betrat, um mit 30 Schülern eine von mir ausgewählte Rede John F. Kennedys zu analysieren, empfing mich der Klassensprecher mit den Worten „In dieser Klasse wird im Englischunterricht nur Deutsch gesprochen“.  Sein Nachbar sprang auf ein Pult, fuchtelte mit einem langen Messer über seinem Kopf und schrie „Hier herrscht Kampf bis aufs Messer.“ Neben ihm stand ein anderer Schüler mit einem grundlos aufgespannten Regenschirm.

Meine unerwartet humorvolle Reaktion auf diesen chaotischen Unterrichtsbeginn hat dann wohl zur Beruhigung beigetragen und anschließend das Interesse für den wenige Jahre zuvor ermordeten amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy geweckt. Dessen berühmte Berliner Rede gipfelte in dem Satz   “All free men, wherever they may live, are citizens of Berlin. And therefore, as a free man, I take pride in the word  Ich bin ein Berliner.” Dieser Satz war offensichtlich hoch attraktiv für 17- bis 18-jährige Schüler, die zusammen mit der 68-er Studentengeneration gegen das Schweigen ihrer Eltern und Großeltern über die Nazi-Diktatur rebellierten. (Wird fortgesetzt)

 

Dr. Werner Schneider war Studiendirektor am Rhein-Sieg-Gymnasium. 2000 Promotion an der Universität Bonn über Steven Spielbergs Film “Schindlers Liste”. 2016 Veröffentlichung des Buchs “Oskar SCHINDLER Steven SPIELBERG – Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt”. 2000 – 2020 Filmgestützte Vorträge an Schulen und öffentlichen Institutionen über Zivilcourage in der Nazi-Diktatur am Beispiel von Oskar Schindler.

 

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