Von Gisbert Kuhn

Gisbert Kuhn

Ein aufmerksam beobachtender, kritischer und trotzdem liberaler (im Sinne von tolerant) Zeitgenosse hatte ganz offensichtlich die Nase voll. Er ärgerte sich richtig über den zunehmend aggressiven Ton in unserer Gesellschaft, über die abnehmende Bereitschaft, einander zuzuhören, über die Selbstverständlichkeit, mit der Wohlstand und Komfort sozusagen als grundgesetzliche Rechte betrachtet werden und um noch einiges mehr. Allerdings war die Erregung, ohne Frage, einseitig. „Ich bin“, so schrieb der Zeitgenosse, „Jahrgang 65 und muss mir heute anhören, wir ruinierten der Jugend das Leben“.

Nun gehört zur Wahrheit (und sollte deshalb auch nicht unerwähnt bleiben), dass der Mann nie die Herausforderungen und Gefahren infrage stellen würde, die sich schon seit Jahren und heute im Besonderen nicht erst jetzt auftürmen. Schon gar nicht den von Menschen gemachten Klimawandel, die dramatisch schmelzenden Gletscher und Eisberge, die an Zahl und Umfang zunehmenden Stürme, Dürren oder auch Überschwemmungen. Und ganz gewiss unterstützt er, ohne Einschränkung, jede Forderung und, natürlich, auch umsetzbare Maßnahme, um diesen Bedrohungen der Bevölkerung und des Kontinents entgegen zu wirken. Und deshalb würde er ganz gewiss mit keinem Wort die Notwendigkeit bestreiten, dass die Menschheit nicht darum herumkommen wird, sich (vielleicht sogar massiv) einzuschränken, auf manch lieb Gewonnenes (wie etwa billige Flugreisen an exotische Ziele) zu verzichten oder bei Wünschen an den Staat nicht außer Acht zu lassen, dass jeder Euro zuerst einmal verdient werden müsse.

Was in dem Eintrag in einem der „sozialen“ Netze hingegen zum Ausdruck kommt ist, dass wir – unsere Gesellschaft – offensichtlich vor einem heftigen Bruch der Generationen stehen. Ja, sich möglicherweise schon mittendrin befindet. Alt gegen Jung, Jung gegen Alt. Und, in einem Art Zwischenfeld, zwei bis drei Eltern- und Großeltern-Generationen, die sich häufig nur ratlos fragen: „Was haben wir denn bloß falsch gemacht? Wir wollten doch nur das Beste; die Kinder sollten es einfach besser haben“. Da sind, zum einen, die Älteren bis Alten, die vielleicht noch den Krieg erlebt haben, auf jeden Fall aber noch Mangel kennen und Entbehrung. Die dann den Aufschwung erlebten, aber von Ferien auf den Malediven, in Spanien oder Mallorca nicht einmal zu träumen wagten, sondern als Jugendliche allenfalls Freude an Zeltlagern und Radtouren entlang des Rheins, der Weser und Mosel hatten. Und denen in ihrer Kindheit beigebracht Wurde, dass Bildung ein Privileg ist, weil höhere Schulen und Unis noch bezahlt werden mussten.

Und dann sind, zum anderen, jene, für die das neueste Smartphone zu besitzen so selbstverständlich ist wie damals das Taschentuch in der Lederhose. Und die, Fridays for Future oder noch deutlicher Extinction Rebellion zum Beispiel, die mit dem Wort „Umwelt“ auf den Lippen sich auf Straßen festkleben und mitunter auch vor Sachbeschädigung nicht zurückschrecken. Wenn etwa Kohlebagger blockiert werden, dringen bei den „Aktivisten“ Mahnungen in aller Regel kaum durch, dass ohne das Laufen von Kraftwerken und den dadurch erzeugten Strom die Wirtschaft nicht funktionieren, nicht produzieren und keine Arbeit beschafft werden kann. Und damit, letztlich, weder eine gesellschaftliche Grundsicherung noch das BAFÖG zu finanzieren sein werden. Hier findet zunehmend ein nicht nur fruchtloser, sondern – mehr noch – zerstörerischer Dialog zwischen Stummen und Tauben statt. Und das auch noch mit – nicht selten – hochmütiger Selbstgerechtigkeit. Auch bei den Alten, besonders aber bei den Jungen.

Das ist es wohl, was unseren Zeitgenossen, so in Rage versetzt hat. Zum Beispiel die Behauptung, allein zu wissen was „Nachhaltigkeit“ ist. „Ich muss Euch enttäuschen“, wettert er daher ins facebook, „denn in meiner Jugend wurde nachhaltig gelebt. Strümpfe und Strumpfhosen wurden gestopft, an Pullover wurden längere Bündchen gestrickt. Hosen wurden mit bunten Borten verlängert. Zum Einkaufen und zur Schule musste ich mehrere Kilometer zu Fuß laufen… Wir sammelten Altpapier und Flaschen mit der Schule und halfen bei der Kartoffelernte. Stattdessen muss man sich von (den in der Folge verwandten Begriff verschweigt die Höflichkeit), die sich mit dem SUV zur Schule kutschieren lassen, allein wahrscheinlich einen 20 mal höheren Stromverbrauch haben als wir in unserer gesamten Jugend, sagen lassen, wir ruinierten ihr Leben“. Und so weiter, und so weiter… Das danach eingesetzte Echo vermeldet 20 784 (!) Eintragungen. Und, wie kaum anders zu erwarten, zählt die weitaus überwiegende Mehrheit zu jenen Mitbürgern, die ihre Pubertät ganz sicher bereits geraumer Zeit hinter sich hat. Aber wie viele davon mögen am (soweit er denn überhaupt noch gepflegt wurde) mit ihren Kindern am Mittagstisch wirklich einmal eine argumentative, wenn es hätte sein müssen vielleicht auch streitige Diskussion geführt haben? Aus den vieltausendfachen digitalen Antworten geht das jedenfalls nicht hervor.

Vielleicht hat es ja in den Familien diesen nicht nur sättigende Wirkung, sondern – wichtiger noch – für die soziale Bindung ungemein wichtigen gemeinsamen „Tisch“ schon gar nicht mehr gegeben, an dem einfach erzählt werden konnte, Probleme besprochen, Ärgernisse und Freuden aus der Schule ausgebreitet wurden, möglicherweise sogar über einen Liebeskummer hinweggetröstet werden konnte. Eine Hightec-Abzugshaube in einer von Computern gesteuerten Küche vermag eine Familienrunde nicht zu ersetzen – sei sie fröhlich oder von ernsten Problemen bestimmt. Aber natürlich ist nicht ausgeschlossen, dass von den Nachfolgenden mit der Bemerkung „Vorsicht, Opa erzählt vom Krieg“ ohnehin die Ohren verschlossen würden. Genauso gut aber könnte es auch sein, dass sie mit ihren Sorgen und Ängsten vor den Gefahren der Zukunft auf, unerwartete, Aufmerksamkeit bei den „alten weißen“ Menschen stießen.

Karl Marx war auf die Erkenntnis gestoßen, der Mensch sei das Produkt seiner Umwelt. Das bezieht sich weniger auf seinen Charakter als auf sein Tun. Und dies, wiederum, fängt ganz sicher in der Kindheit an. Deshalb bedarf es wohl keines speziellen empirisch abgesicherten Nachweises für die These, dass sich jenes immer wieder zu vernehmende „Das Kind soll es doch einmal besser haben“ in den allermeisten Fällen auf die materielle Ausgestaltung bezog. Dass war, im Prinzip ja auch sehr verständlich. Man wollte den Kindern eben jenen sozialen und damit materiellen Aufstieg ermöglichen, der einem selbst wegen der Herkunft, durch den Krieg oder die darauffolgende Hungerzeit verwehrt war. Und man wollte sich, auch kaum zu beanstanden, dann wenigstens ein wenig darin sonnen. Bloß: Die Ansprüche wuchsen, die Wohltaten des immer wohlhabender werdenden Staates ebenso. Und wer heute bereits den Gedanken an einen drohenden Verzicht des dritten oder vierten Kurzurlaubs als Vorzeichen einer sich abzeichnender „Armut“ empfindet, dem mag in den Augen realistisch gebliebener Zeitgenossen das Gespür für das richtige Maß fehlen. In nicht unerheblichen Teilen der „anderen“ Gesellschaft hingegen würde ein solch zweifelndes Kopfschütteln allerdings Unverständnis auslösen.

Die Politik kennt ein solches Phänomen gut. Egal ob (natürlich zumeist vor Wahlen) die Renten erhöht werden, der Mindestlohn steigt, Steuern (zugegeben selten) gesenkt oder sonstige Geschenke verteilt werden – die Bürger streichen es ein, die Wohlfahrtsverbände und Kirchen kritisieren den „viel zu geringen Umfang“, und das war´s. Die nächsten Forderungen liegen ja bereits auf den Tischen. Interessanterweise basiert unser politisches, soziales und wirtschaftliches System, die Soziale Marktwirtschaft also, gleichermaßen auf der christlichen wie sozialistischen Sozialordnung. Und diese, wiederum, hat das so genannte Subsidiaritätsprinzip zur Grundlage. Das, in aller Kürze, liest sich so: Zunächst einmal ist jeder einzelne für sich und die Seinen verantwortlich. Und nur dort – natürlich gibt es solche Fälle zuhauf – wo jemand dazu nicht in der Lage ist, hat die Solidarität der Gemeinschaft einzuspringen. Ist jemand wirklich noch der Auffassung, dass dies heute noch gilt? Wo bereits die Aufforderung, doch selbst den Gehsteig zu reinigen, nicht selten mit dem patzigen Hinweis beantwortet wird: „Wieso, ich zahle doch Steuern“.

Das ist nicht gut für eine Gesellschaft, die eine Krise meistern muss, wie es sie in der Nachkriegszeit noch keine vergleichbare gegeben hat. Die Zweifel sind nicht unberechtigt, ob sie genügend gefestigt ist. Natürlich gibt es ungezählte Beispiele, wie gerade junge Leute sich nicht beeindrucken lassen von Kritikastern, Angstmachern, politischen Rattenfängern am rechten wie am linken Rand. Es sind phantasievolle Unternehmensgründer, Künstler, Mutmacher jeglicher Richtung. Doch wie wird die Gesellschaft umgehen mit Situationen, die nicht nur wirtschaftlich und sozial gefährdet sind? Wie wird sie bestehen, wenn – und dies auch noch unter Kriegsgefahr – wenn wirklicher Verzicht gefordert werden sollte, wo doch die Reisewelle auch jetzt noch ungebrochen ist und trotzdem niemand weiß, wie auf Dauer das Flüchtlingsproblem bewältigt werden kann? Wie werden die gesellschaftlichen Blöcke vielleicht doch zusammenrücken, von denen gegenwärtig der eine unbeeindruckt nach 100 Milliarden Staatsgeldern zur Rettung von Umwelt und Klima ruft und auf der anderen Seite selbst jene politischen Kräfte der bitteren Realität Tribut zollen müssen, die selbst einmal aus jenen „grünen“ Wurzeln entsprossen?

Es droht kalt zu werden in unserem Land. Und nicht nur, was die Temperaturen angeht. Hoffentlich rächt sich nicht, dass mehrere Generationen ihre Kinder in dem Glauben erzogen, dass Wohlstand einen Grundrechtsbestand habe.

 

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel

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