Wolfsburger „Autostadt“
Wo die Herzen von Technikfreaks höher schlagen

Vor einem Jahr hat das Image des VW-Konzerns durch den Abgasskandal die ersten Kratzer bekommen. Seither sind die Verkaufszahlen gesunken, die Aktienkurse fielen, die finanziellen Verluste und die Gefährdung der Arbeitsplätze sind nur vage abschätzbar. Dieses Desaster hat aber den Besucherstrom zur Wolfsburger „Autostadt“ erstaunlicherweise nicht beeinflusst. Allein im vergangenen Jahr haben über 2,4 Millionen Menschen aus aller Welt den eindrucksvollen Showroom des Konzerns besichtigt, ein neuer Rekord. Sei es aus Interesse an automobiler Technik oder als Abholer eines Neuwagens. Auch aktuell sind die Zahlen auf gleichbleibend hohem Niveau. In den 15 Jahren seit Bestehen der Autostadt zählte man insgesamt 33 Millionen Besucher.
Kontrast Mensch – Roboter

Als Touristenattraktion ist die Stadt Wolfsburg wahrlich nicht bekannt und trotzdem lohnt sich hier wenigstens ein Zwischenstopp – zum Beispiel auf einer Autofahrt zu den Stränden der Ostsee. Denn hier befindet sich ein sehenswertes Herzstück der „mobilen Gesellschaft“, die unser Leben tagtäglich beeinflusst. Wer mit dem Zug anreist, nutzt am besten die Schiffsverbindung über den Mittellandkanal, um in die Autostadt zu gelangen. Vom Hauptbahnhof sind es nur wenige Schritte bis zur Anlegestelle. Das Boot fährt vorbei an riesigen Werkshallen, deren gigantisches Ausmaß den Besucher ahnen lässt, dass er sich hier auf das weltweit größte Automobilwerk zubewegt. Bei der anschließenden Exkursion mit der Panoramabahn taucht man ein in die Welt der automatisierten Kfz-Fertigung.
Nicht nur Technikfreaks geraten ins Staunen und erleben einen atemberaubenden Einblick in programmierte Produktionsabläufe. Es ist Ingenieurskunst auf höchstem Niveau, die hier Kraftfahrzeuge zusammenbaut. Die hektischen, fast utopisch wirkenden Verrenkungen ungezählter Fertigungsroboter stehen im Kontrast zu den wenigen Menschen, die hoch konzentriert an verschiedenen Kontrollpunkten die Abläufe überwachen. Erst am Ende dieses Hightech-Fließbandes wächst die Zahl der Mitarbeiter, welche die soeben entstandenen Autos einer minutiösen Endkontrolle unterziehen. Alles muss stimmen: Der Glanz der Lackierung, die Wirkung der Bremsen, und auch der Klang der Autotüren beim Zuschlagen darf nicht von der Norm abweichen.
Das Herzstück

Nach diesem Einblick in die Fertigung gelangt der Besucher zur Dauerausstellung, dem Kernstück der Autostadt. Acht Pavillons in einer 28 Hektar großen Park- und Lagunenlandschaft präsentieren verschiedene Themenschwerpunkte rund um Technik und Design. Hier wird fast jedes Interesse befriedigt, egal ob Diesel-Fahrer, Oldtimer-Fan, Rennsportler oder der typische Familienvater, der geräumige Vans liebt. Die großen Weltmarken des Konzerns wie Audi, Lamborghini, Seat, Porsche, Skoda, etc. stellen ihre Produkte vor. Und natürlich spielt das Kultfahrzeug VW-Käfer, von dem bis 2003 immerhin 21 Millionen produziert wurden, eine besondere Rolle. Wer nach all den Eindrücken noch Lust auf ein fahrerisches Highlight verspürt, dem sei ein Besuch des nahegelegenen Geländeparcours empfohlen. Hier kann jeder die Fahrtauglichkeit der Konzern-SUV‘s Tiguan, Touareg oder Amarok testen. Riskante Hindernisse, Böschungen, extreme Schräglagen oder Wasserdurchfahrten bieten reichlich Nervenkitzel. Anschließend weiß man jedenfalls, wie wichtig ein elektronischer Assistent für das Berganfahren oder Bergabfahren ist.
Im Guinness-Buch der Rekorde
Nach einer Erfrischungspause in einem der 13 Restaurants, die für jeden Geschmack und jeden Geldbeutel etwas bieten, geht es weiter zur Turmfahrt. Dieses Erlebnis, das einen gigantischen Blick über das gesamte VW-Werk bietet, sollte man keinesfalls verpassen. In den beiden Autotürmen werden jeweils bis zu 400 Fahrzeuge bis kurz vor ihrer Auslieferung zwischengelagert. (max. 48 Stunden). Die neu produzierten Autos gelangen durch eine gläserne Röhre direkt aus den Werkshallen in die Autostadt; sie müssen nicht einmal von Mitarbeitern gefahren werden.

Es soll sich angeblich um das schnellste automatische Parksystem der Welt handeln, und daher werden die Türme auch im Guinness-Buch der Rekorde aufgeführt. Dieser Superlativ zeigt, dass VW dem „Erlebnis Abholung“ von Neuwagen eine ganz besondere Bedeutung zumisst – auch als Mittel, um die Kundentreue zu fördern. Allein 2015 haben hier 168 514 „persönliche Auslieferungen“ stattgefunden.
Evolution einer Marke
Wem diese Fülle an Erlebnissen und Emotionen nicht reicht, der kann sich im „AutoMuseum Volkswagen“ (Zentrum, Dieselstr. 37) einen tiefen Einblick in die technisch-historischen Aspekte des Volkswagenkonzerns verschaffen. 130 seit Produktionsbeginn in Wolfsburg entwickelte Modelle – wie „Beetle“, „Bulli“ oder „Bora“ – vermitteln auf 5.000 qm Ausstellungsfläche einen faszinierenden Eindruck von der VW-Werksgeschichte. Die Evolution einer Marke wird greifbar, Erinnerungen werden wach. Was im Mai 1933 mit der Fabrikation des „Kraft-durch-Freude-Wagens“ als nationalsozialistisch gesteuerte Volksbeglückung begann, hat im Laufe der Jahrzehnte manche Verwerfungen, aber auch eine Menge innovativer wie origineller Fahrzeuge hervorgebracht. Und daher liegt die Vermutung nahe, dass trotz der gegenwärtigen Krise die Konzern-Geschichte weitergeht, ganz nach dem bekannten Käfer-Motto: „Und läuft, und läuft und läuft.
Karl-Rüdiger Himmes / Rotger Kindermann
Info
Automobile Technik und Kultur
„Cirque Nouveau Mobile“ heißt das diesjährige Sommerfestival in der Autostadt vom 23. Juni bis 31. Juli. Die Gäste erwarten fantasievolle Shows, atemberaubende Akrobatik internationaler Compagnien, Walk-Acts und poetische Luftfiguren. Das Programm auf vier Bühnen verwandelt die Autostadt sechs Wochen lang in eine große Open-Air-Bühne.
Ab Ende November wird der gesamte Park wieder in eine Winterlandschaft verzaubert. Mehr Infos unter www.autostadt.de