Wirtschaft: Doppelter Türöffner
Wie begann die Abhängigkeit der deutschen Industrie von China? Felix Lee gibt spannende Einblicke in die Anfänge von VW in der Volksrepublik.
Und immer wieder die Automobilindustrie: Sei es in der Debatte um die Abhängigkeit von ausländischen Staaten in Folge des russischen Krieges gegen die Ukraine oder bei der Frage, wie innovativ und konkurrenzfähig die deutsche Wirtschaft überhaupt noch ist – VW, Mercedes, Audi und Co. stehen im Mittelpunkt. Genauer gesagt, deren China-Geschäft, das den großen deutschen Autoherstellern in den vergangenen Jahrzehnten fantastische Gewinne bescherte. Audi, BMW und Volkswagen verkaufen mittlerweile mehr als jeden dritten Neuwagen in China, vor allem: Verbrenner. Auf dem Elektromarkt hingegen fristen die einstigen Platzhirsche ein Schattendasein und haben gegen neue chinesische Wettbewerber deutlich das Nachsehen. Und die Konkurrenz drängt nun sogar auf den europäischen Markt.
Doch wie kam es zu der Abhängigkeit der deutschen Automobilindustrie, generell von großen Teilen der deutschen Wirtschaft, vom China-Geschäft? In seinem Buch China, mein Vater und ich: Über den Aufstieg einer Supermacht und was Familie Lee aus Wolfsburg damit zu tun hat gibt Felix Lee nicht nur darauf Antworten. Anhand seiner Familiengeschichte skizziert der langjährige China-Korrespondent der taz und heutige Redakteur bei China.Table den Aufstieg der Volksrepublik seit den späten 1970er Jahren.
Sein Vater, Wenpo Lee, arbeitete zu jener Zeit als Ingenieur bei Volkswagen in Wolfsburg. Am 17. April 1978 erhielt er einen Anruf aus der Presseabteilung des Konzerns, vor dem Werkstor stünden ein paar Chinesen, von denen einer behauptete, er sei Minister. Wenpo Lee, der 1948 als kleiner Junge von seinen Eltern wegen des Bürgerkriegs aus seiner Heimatstadt Nanjing allein mit seiner Schwester nach Taiwan geschickt wurde, dort von einem Lehrerpaar von der Straße aufgenommen wurde und so zu Bildung kam, die ihn zur Promotion nach Deutschland und letztlich zu VW führen sollte, hatte eigentlich nicht mehr damit gerechnet, jemals wieder groß mit China zu tun zu haben. Da er aber der einzige Mitarbeiter bei VW war, der Chinesisch konnte, musste er nun übersetzen.
Nur knapp eineinhalb Jahre nach dem Tod von Mao Tse-tung und noch ganz zu Anfang der Reform-Ära von dessen Nachfolger Deng Xiaoping lautete die chinesische Devise, vom Ausland zu lernen. Unkonventionell und improvisierend ging man dabei vor, und wenn es sein musste, wurde eben bei einem deutschen Autohersteller an der Tür geklingelt. Vor den Toren von VW stand unangekündigt der Minister für Land- und Industriemaschinen, Yang Keng. Die Volksrepublik sei an Nutzfahrzeugen interessiert, an Bussen und Lkw.
Felix Lee verwebt in seinem Buch spannend die Geschichte seines Vaters mit seiner eigenen und der von VW in China.
Eine zweite, diesmal vorab angekündigte Delegation im Herbst des Jahres sprach dann davon, Volkswagen könne doch auch Pkw in China produzieren – in vertraglich abgesicherter Zusammenarbeit mit einem chinesischen Staatsbetrieb. Der Begriff „Joint Venture“ beginnt die Sprache der deutschen Wirtschaftsmanager zu erobern. Mit diesem Modell sicherte sich Volkswagen in den folgenden Jahren einen großen Anteil am rasant wachsenden Automarkt in China: Santanas, Jettas und der Audi 100 C3, in China Hongqi („rote Fahne“) genannt, bestimmten bald das Stadtbild der aufstrebenden Städte im fernen Osten. Große Teile der deutschen Industrie folgen VW ins Reich der Mitte.
Felix Lee verwebt in seinem Buch spannend die Geschichte seines Vaters mit seiner eigenen und der von VW in China. Eindrücklich beschreibt er die Brutalität des Bürgerkrieges, dem der Vater entkommt, und die Armut, die zum Ende der Mao-Zeit in China herrscht und die der Autor bei seinem ersten Besuch 1979 erlebt. Lee beschreibt auch den anschließenden rasanten Aufstieg der Volksrepublik, den er persönlich miterlebt. Denn sein Vater wird vom Leiter einer Forschungsabteilung bei VW zu einer der prägenden Personen des China-Geschäfts des Konzerns – Mitte der 1980er Jahre zieht die Familie nach Peking, Wenpo Lee wird Generalvertreter von Volkswagen in China.
Die Eindrücke, die Felix Lee schildert, geben einen spannenden Einblick in die Zeit, in der sich China westlichen Unternehmen öffnete, so etwa wenn er beschreibt, wie die kleine, aber stetig steigende Zahl ausländischer Geschäftsleute in den hergerichteten Gästehäusern des einstigen Alten Sommerpalastes der Qing-Kaiser untergebracht werden. Eines Tages dürfen Lee und sein Bruder für mehrere Stunden nicht aus dem Haus: Franz Josef Strauß, bayerischer Ministerpräsident, der innenpolitisch seinen Antikommunismus stets mit Pathos vor sich hertrug, war zu Besuch beim Vertreter von Messerschmitt-Bölkow-Blohm, dem größten deutschen Rüstungskonzern der Zeit, der in einem anderen Flügel des Gästehauses lebte. Beim Treffen von Strauß und Deng Xiaoping im Oktober 1985 ging es offenbar um Waffengeschäfte mit dem Systemrivalen, schreibt Lee.
Felix Lee beleuchtet auch die Konsequenzen des China-Geschäfts der deutschen Wirtschaft: die Abhängigkeit der hiesigen Konzerne.
China, mein Vater und ich ist aber nicht nur ein historischer Blick auf die Anfänge des China-Geschäfts der deutschen Wirtschaft. Felix Lee beleuchtet auch dessen Konsequenzen: die Abhängigkeit der hiesigen Konzerne. China sei erst von Volkswagen abhängig gewesen, mittlerweile jedoch Volkswagen von China. Die Lage der deutschen Autohersteller sieht Lee daher wenig überraschend äußerst pessimistisch. Die hätten im E-Mobilitäts- und Digitalisierungsbereich nur noch ein Nischendasein. Immerhin habe es die deutsche Automobilindustrie verstanden, dass die Zukunft elektrisch sei; die deutsche Politik führe hingegen Phantomdebatten um die Frage, ob der Verbrenner noch eine Zukunft habe. Diese Entscheidung treffe China, ist sich Lee sicher. Oder genauer: China hat sie bereits getroffen, und zwar vor einigen Jahren schon, als hohe Quoten für E-Mobilität festgelegt wurden. Die deutsche Automobilindustrie, einst weltweit führend, ist nun Getriebene. Zudem bestehe nicht nur die Gefahr für die hiesigen Automobilhersteller, abgehängt zu werden. Sollte der Taiwan-Konflikt an Schärfe gewinnen, droht den deutschen Unternehmen gegebenenfalls eine harte Entkopplung von ihrem China-Geschäft. Gegenseitige Sanktionen könnten jeglichen Handel zwischen China und den USA sowie deren Verbündeten unmöglich machen.
Dass China, mein Vater und ich den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis gewonnen hat, ist absolut berechtigt. Fesselnd nimmt Lee die Leserschaft mit durch seine außergewöhnliche Familiengeschichte, die zugleich ein Stück deutscher Wirtschaftsgeschichte und -gegenwart ist. Wer die Abhängigkeit der hiesigen Industrie von China verstehen will, sollte das Buch unbedingt lesen.
Alexander Isele ist seit 2022 Redakteur beim IPG-Journal. Zuvor arbeitete er als Redakteur bei der Tageszeitung nd-aktuell und als freier Journalist.