Weirichs Klare Kante
„Korsar“ ohne Kompass

Gleich mit zwei Alleinstellungsmerkmalen wartete soeben Bundeskanzler Olaf Scholz beim Treffen der wichtigsten Führer der westlichen Welt in Indien auf. So klärte er im verwegenen„Korsaren-Look“, seine Kollegen über Sturzgefahren beim Jogging auf. Bei der Diskussion über die Belebung der Weltwirtschaft musste er allerdings den ökonomischen Absturz seines Landes erklären. Deutschland ist mit seinem schrumpfenden Wirtschaftswachstum unter den Industrienationen der Welt inzwischen Klassenletzter. Selbst Frankreich und Italien haben in Europa die Nase vorn.
Dabei hatte es der wenig beliebte Regierungschef verstanden, mit seiner Augenklappe im Inland zunächst zu punkten. So erklärte er sein Aussehen mit Humor, eine bislang bei ihm nicht registrierte Eigenschaft. Er freue sich auf die Kommentare im Internet, die dann auch massenhaft eingingen. Das ZDF, zum Beispiel, twitterte maliziös, so sei die Sender-Kampagne, „mit dem Zweiten sieht man besser“, nun auch wieder nicht gemeint.
Ob es die vorübergehende heitere Nähe zum Publikum war, die den einäugigen Kabinettschef veranlasste, einen Deutschlandpakt unter Einbeziehung aller politischen Akteure mit Ausnahme der AfD anzuregen, um die Wirtschaftskrise zu überwinden und Deutschland schneller, moderner und sicherer zu machen? Ist der Versuch, die Opposition einzubinden, reine Verzweiflung oder will er mit dem Vorschlag, seine eigenen Truppen in der brüchigen Koalition disziplinieren? Es könnte sich freilich, nach Zeitenwende und Doppel-Wumms, auch nur um einen schlichten PR-Gag handeln.
Plötzlich haben die Augenklappen für Kritiker des Kanzlers eine neue symbolische Bedeutung, stehen für Eindimensionalität und Kurzsichtigkeit, fehlenden Weitblick. Scholz wird zu Recht angemahnt, er solle doch lieber zuerst einen mit klaren Konzepten ausgestatteten Pakt mit seinen Partnern in der Regierung abschließen. Wer keinen Kompass hat, fährt auf Sicht, hangelt sich durch die Konflikte in einer Koalition, in der die Bruchlinien überdeutlich sind. Dabei bräuchte das Land dringend Zuversicht und die Bereitschaft zu einem neuen Anfang: