Von Gisbert Kuhn

Gisbert Kuhn

Wenn sich im Mittelalter Naturkatastrophen wie Überschwemmungen ereigneten oder aber tödliche Krankheiten wie Pest und Cholera wüteten, stand für die Menschen schnell fest: Das ist die Strafe Gottes für unser Lotterleben, oder wegen der Juden, oder wegen angeblicher Hexen oder wegen irgendwelcher sonstigen Okkult-Vorstellungen. Nicht selten wurden danach Kriege vom Zaun gebrochen oder andere Gewalttaten bis hin zu regelrechten Pogromen verübt. Heute kennen Wissenschaftler schon lange die Ursachen von Flutkatastrophen wie jener im Ahrtal oder wie sie kürzlich in Griechenland und dem östlichen Balkan erfolgten. Ganz zu schweigen von dem Drama an der libyschen Mittelmeerküste.  Und für Seismologen war es keine Überraschung, dass Marokko unlängst (wieder einmal) von einem verheerenden Erdbeben heimgesucht wurde. Das eine – nämlich die sich häufenden desaströsen Überschwemmungen und Waldbrände – sind (mittlerweile wirklich unbestreitbar) die Folgen der von Menschen herbeigeführten Erderwärmung. Und was immer wieder die Erde erzittern lässt, wie vor kurzem in der Türkei und jetzt in Marokko, das verursachen tief im Erdinneren liegende Kontinentalplatten, wenn sie aufeinandertreffen und sich reiben. Dieses, einmal nicht von Menschen zu verantwortende, Phänomen lässt sich von Experten vage voraussagen, zu verhindern ist es nicht.

Was beiden Geschehnissen gemeinsam ist, das sind Tod und Zerstörung, Trauer, Leid, Vernichtung von Existenzen und Lebenswerken. Tragödien also, die nach Hilfe schreien, nach gegenseitigem Beistand, Mitgefühl, Solidarität. Das geschieht ja auch, und die Appelle treffen in aller Regel auf offene Ohren. Auch hierzulande werden, wie aktuell wieder, die technischen und karitativen Hilfsorganisationen tätig, und die finanziellen Spenden gehen erneut wieder ins Millionenfache. Das sei doch selbstverständlich, mag da die Eine oder der Andere einwenden, sei gar nicht der Erwähnung wert, sondern eine ganz natürliche Reaktion der Menschlichkeit. Das leuchtet ein, sollte man wenigstens meinen. Und tatsächlich jedes Mal wieder, wenn Menschen und Regionen von Naturgewalten getroffen werden, scheinen für Momente die Zeit und die Welt stehenzubleiben. Und Platz zu machen für das, was gemeinhin als Humanitas, also Menschlichkeit, bezeichnet wird. Also für das eigentlich ausschließlich Gute und Schöne im Leben.

Doch leider existiert eine solche wunderbare Ausschließlichkeit nicht. Zumindest nicht auf diesem Planeten. Das ist keine neue Erkenntnis. Schon die die Denker in der Antike verstanden unter „Menschsein“ durchaus auch dunkle Seiten, wenn sie „Humanitas“ mit den Normen und Werten übersetzten, die eben den Menschen ausmachen. Auf die Realität übertragen, bedeutet dieser Exkurs in Philosophie und Geschichte ganz einfach – schaut doch bloß auf das Tagesgeschehen. Wladimir Putin sind die zigtausend Flut- und Erdbebenopfer in Nordafrika natürlich völlig schnuppe bei seinem Krieg gegen die Ukraine. Auch in diesem Krieg am Schwarzen Meer, sterben täglich Menschen. Aber, ganz nebenbei bemerkt, was die dortigen Kriegsmaschienerien mit ihren Panzern, Flugzeugen und Kanonen täglich an Kohlendioxid und anderen Giftstoffen in die Luft blasen, kann wahrscheinlich durch keinerlei Maßnahmen in Deutschland und anderswo zur Klimaverbesserung aufgewogen werden.

Wir beschreiben uns, unser Land, unseren Kontinent, ja eigentlich unsere gesamte Erde als „zivilisiert“. Es stimmt, wir haben uns Gesetze und Normen auferlegt, an deren Einhaltung wir uns (zumeist jedenfalls) ausrichten. Unser Zusammenleben sollte wenigstens zu einem möglichst friedlichen und aggressionsfreien Miteinander führen. Mit anderen Worten: In unseren Tagen kann man doch sehen, dass die Zeiten von Steinmesser, Bogen und Pfeil, vom Diktat des Stärkeren und von der Überlegenheit der Gewalt gegenüber dem Geist zugunsten von Frieden und Fortschritt überwunden sind! Bevor nun hier jemand beim Lesen in lautes Gelächter ausbricht und auf die allein in diesem Moment rund um den Globus lodernden Konflikte und lauernden Bedrohungen hinweist – hier das Eingeständnis: Auch in diesen Zeilen übertrifft natürlich die Skepsis bei weitem die Zuversicht, dass die Menschen einer wirklichen Zivilisierung nähergekommen sind, seit sie sich vom Vier- zum Zweibeiner entwickelten. Na klar, wir haben elektrisches Licht und Wasserspülung. Wir gehen (zumindest sollte es so sein) zur Schule und entwickeln Raketen und sind dabei, die (sofern vorhanden) eigene Intelligenz durch eine künstliche anzureichern – möglicherweise sogar zu ersetzen.

Aber – wenn das Fortschritt ist, warum haben die Menschen im Verlauf ihrer „Zivilisierung“ bis heute nicht begriffen, dass es nicht nur moralisch höherwertig ist, Frieden zu halten, den gemeinsamen Nutzen zu mehren und sich – siehe bei den oben erwähnten Katastrophen – beizustehen, als nach immer mehr Land, Besitz und Macht zu gieren und aufeinander zu schießen? In Libyen, dort wo gerade die reißenden Fluten praktisch eine ganze Großstadt zerstörten, herrscht seit Jahren ein erbarmungsloser Bürgerkrieg. Nicht anderes im Nordosten des afrikanischen Kontinents, dazu in Mali oder auch in Niger. Teilweise lassen Großmächte wie Russlands und China aber auch die USA dort Stellvertreterkriege ausfechten. Gleichzeitig erfolgen aus Mittelost und Afrika die mit Abstand größten Völkerwanderungen in der menschlichen Geschichte vor allem in Richtung Europa, was hier – gar keine Frage – recht bald zu einer gefährlichen sozialen, gesellschaftlichen und damit auch politischen Instabilität führen kann. Und zwar keineswegs nur in Deutschland, dessen führende Parteien und deren Köpfe diese Wahrscheinlichkeit freilich immer noch verdrängen.

Es ist wirklich nicht sicher, ob die Menschheit den Zivilisationsweg parallel zu der Entwicklung einer ausgeprägten, humanistisch-moralisch geprägten Vernunft genommen hat. Natürlich sind alle Individuen anders geprägt und gestimmt, ist Intelligenz unterschiedlich verteilt, so wie es auch Talente und Begabungen, Fleiß und Behäbigkeit sind. Immerhin steht aktuell ein Test an. Wie wird sich nach der verheerenden Flutkatastrophe, den tausenden Toten und den materiellen Verwüstungen die Lage in Libyen entwickeln? Die Zustände zwängen eigentlich geradezu ein Ende des Bürgerkriegs herbei. Und wenn die warlords nicht einlenkten, müssten sie von der Bevölkerung zum Teufel gejagd werden. Aber unter welcher Führung? Wer könnte das verwüstete Land wieder einigen?

Der Schriftsteller Erich Kästner war nicht nur ein begnadeter Lyriker. Er war, vor allem, ein genauer Beobachter seiner Zeitgenossen. Vieles von dem, was er einst niederschrieb, gilt daher weit über seine Jahre hinaus.

Dazu zählt ganz gewiss Kästners Gedicht „Die Entwicklung der Menschheit“. Hier, vielleicht zur Appetits-Anregung“, ein paar kurze Auszüge. Passen sie nicht genau in unsere Zeit?

Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt,

behaart und mit böser Visage.

Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt

und die Welt asphaltiert und aufgestockt, bis zur dreißigsten Etage.

Da saßen sie nun, den Flöhen entflohn,

in zentralgeheizten Räumen.

Da sitzen sie nun am Telefon.

Und es herrscht noch genau derselbe Ton

wie seinerzeit auf den Bäumen.

….

So haben sie mit dem Kopf und dem Mund

den Fortschritt der Menschheit geschaffen.

Doch davon mal abgesehen und

bei Lichte betrachtet sind sie im Grund

noch immer die alten Affen.

 

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.

      

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