Anmerkungen zum Wahlkampf
von Günter Müchler

Das Leben ist kein Wunschkonzert. Die Spruchweisheit hat sich auch im Bundestagswahlkampf bewahrheitet. Gewünscht hätte man sich vor allem Bewegung, und es sprach ja auch allerhand dafür. Regierungskoalition geplatzt, Gefühle aufgeschäumt, Lage ernst wie lange nicht mehr: Die Erwartung eines reinigendes Gewitters war durchaus begründet. Erfüllt hat sie sich nicht. Gewiss, die Bundesrepublik steht vor einem Kanzlerwechsel. Der nötige Politikwechsel ist jedoch keineswegs gesichert. Denn die Fesselung durch nicht hinreichende Zahlen dürfte den Wahlabend überdauern.
Es ist keine Risikowette, wenn man von folgender Nachwahl-Konstellation ausgeht: Der neue Bundeskanzler wird Friedrich Merz heißen. Das Podest, auf dem er und die ihn stützenden Unionsparteien dann stehen, wird allerdings mit um die dreißig Prozent viel zu niedrig sein, um durchzuregieren. Merz wird einen bis zwei Koalitionspartner brauchen. Realistisch betrachtet sind dafür nur die Restposten aus der Ampel- Zeit im Angebot. Wochen wird es dauern, vielleicht Monate, bis sich am Verhandlungstisch zusammenfindet, was nach Selbstauskunft der Akteure im Wahlkampf nicht zusammengehört. Solange wird Olaf Scholz im Kanzleramt auf gepackten Umzugskisten sitzen: keine schöne Aussicht angesichts von Herausforderungen, die nach einer handlungsfähigen Exekutive schreien.
Dass die Demoskopen ein derart flaues Geschäft hatten und die Zahlen des Anfangs mit denen des Endes nahezu identisch sind, bedarf einer Erklärung, die nicht so einfach zu haben ist. Sind die Meinungsblöcke so zementiert, weil man sich nicht mehr zuhört? Weil Bewegung Austausch voraussetzt, aber der Austausch nicht stattfindet? Eine andere Erklärung würde den Wahlkampf selbst betreffen. Tatsächlich war dieser Wahlkampf bei größtmöglicher objektiver Dramatik maximal langweilig. Die mediale Dauerbefeuerung durch Duelle, Trielle, Quadrelle und sonstige Formate bewirkte, je länger desto mehr, nur Langeweile. Kaum Pointen, keine Ausrutscher. Ängstlich bemüht, Zufallseffekte wie ein Grinsen zum falschen Zeitpunkt zu vermeiden, agierten die Matadore äußerst kontrolliert, das heißt sie verharrten in den Trampelpfaden, die ihnen die Spindoktores eingebläut hatten.
Ins Bild einer weitgehend höhepunktfreien Kampagne passt, dass die größten Aufreger von außen kamen. Die AfD-Wahlempfehlung durch Elon Musk, bei dem man noch immer rätselt, ob er nur ein Hofnarr ist (ein Wort, das Olaf Scholz in einem anderen Bedeutungszusammenhang entglitt) oder jemand, der neue Wege der privaten Profitmaximierung sucht, war eine Anstandslosigkeit ohne Beispiel. Das zweite Schrapnell aus Washington hatte ein größeres Kaliber. Für seine Rede hätte J.D.Vance, der neue US-Vizepräsident, im Schulaufsatz eine sechs bekommen: Thema verfehlt. Eingeladen war er zur Münchner Sicherheitskonferenz. Erwartet hatte man Worte zum Ukraine-Konflikt und Anmerkungen zum Zustand der nordatlantischen Allianz. Auf allerlei Kritik war man gefasst, nicht aber auf eine Vorlesung über die Werte der liberalen Demokratie. Sie machte sprachlos, obwohl man über den einen oder anderen Punkt, den Vance den Europäern vorhielt, durchaus diskutieren könnte. Aber bekanntlich kommt es darauf an, wer etwas sagt. Und wenn in Sachen Demokratie und Freiheit ausgerechnet der Sprecher eines Regimes den Lehrmeister gibt, das Rechtsstaatsregeln für Plunder hält und nur solche Wahlen respektiert, die es gewinnt, wirkt das bestenfalls wie unfreiwillige Satire. Lustig ist es nicht. Nach Vance‘ Rede verdichtet sich der Eindruck, dass man die Administration Trump-zwei-Punkt-null nicht für ein Remake der ersten Amtszeit halten darf. Offenbar glaubt die aktuelle Präsidentschaft, eine Mission zu haben. Sie fordert Europa zum Kulturkampf heraus, und dass sie sich hierbei einer Beweisführung bedient, die der Putins stark ähnelt, macht die Sache nur noch finsterer. Wer noch immer geglaubt hatte, Trump werde nicht ernst machen, ist jetzt desillusioniert. Trump gibt die Ukraine preis. Wer wird den Vereinigten Staaten in Zukunft noch vertrauen?
Für die Demokraten in Deutschland ist die Entwicklung in Washington ein Schock. Den Amerikanern dankbar zu sein, gibt es rückblickend viele Gründe. Und für Europas Sicherheit gilt bis auf weiteres: Kein hinreichender Schutz ohne Amerikas Atomschirm. Sollte die Bündnisgarantie zum nice to have heruntergewirtschaftet werden, wäre das die wahre Zeitenwende. „Den Westen“ gäbe es nicht mehr. Die Vorfreude im Kreml ist jetzt schon spürbar, und in Deutschland reiben sich die Extremisten von links und rechts die Hände. Sie waren schon immer eins im Antiamerikanismus.
Interessant ist, dass die AfD weder als Partei noch in Gestalt ihrer gebauchpinselten Spitzenkandidatin Alice Weidel vom Ritterschlag durch das Adelskomitee Musk/Vance zu profitieren scheint. Aufwind hätten sie sich wohl auch von anderen Ereignissen erhofft, zum Beispiel von der Terrorserie mit den Ortsnamen Magdeburg/Aschaffenburg/München. Die Anschläge haben abermals das Zerstörungspotential einer Migrationspolitik ohne Augenmaß unterstrichen, und zwar in schauerlicher Weise. Doch es sieht so aus, als habe das Quantum der Wähler, die sich für eine plumpe Ausländer-raus-Politik gewinnen lassen, eine Obergrenze erreicht.
Auch die Provokation des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz mit seinem Fünf-Punkte-Antrag zur Einwanderungspolitik hat der AfD nichts genutzt. Das apokalyptische Höllentor, das SPD-Chef Rolf Mützenich sperrangelweit offen erklärte, hat sich als Eigentor eines Politikers erwiesen, der allzu gern die Union mit der AfD in einen Sack stecken würde. Allerdings hat Merz mit seinem Vorstoß auch die Union nicht vorangebracht. Insgesamt hat sich der Sauerländer im Wahlkampf gut behauptet. Seine personenbezogenen Werte sind besser geworden. Eingezwängt durch den Bremsklotz Schuldenbremse und behindert durch Erblast und Machinationen Angela Merkels, ist es ihm jedoch nicht in dem erforderlichen Ausmaß gelungen, ein Feuer für den Politikwechsel anzufachen.
Über die SPD ist wenig zu sagen. Sie wirkt wie keine andere Partei abgelebt an Haupt und Gliedern. An Olaf Scholz hat sie über die Jahre schwer zu tragen gehabt, immer im Zweifel mit sich. Erst ließ sie ihn nicht Parteivorsitzender werden. Dann musste sie den populären Verteidigungsminister Boris Pistorius zurückpfeifen, weil Scholz, wenn schon seine Zeit als Kanzler abgelaufen war, wenigstens Kandidat sein wollte. Dass Scholz je daran geglaubt hat, er könne das Scheitern seiner Regierung vergessen machen und das Aufholmanöver von 2012 wiederholen, darf man trotz seiner bisweilen autistischen Verweigerung der Wirklichkeit bezweifeln. Immerhin vollbrachte er im Wahlkampf eine Energieleistung. Es muss eine Tortur sein, über Wochen so zu tun als ob. Die rhetorischen Kniffe, die er auf der Schlussstrecke anwandte, halfen nicht mehr. Das formelhaft wiederholte „habe ich entschieden“, „ist mein Verdienst“, mit dem er seine Koalition als eine Art Ich-AG hinstellte, wirkte lächerlich. So vergesslich sind die Menschen nun auch wieder nicht. Genauso in die Leere ging Scholz‘ Versuch, Putin als alleinige Ursache der deutschen Wirtschaftsmisere zu brandmarken. Für die erdrosselnde Bürokratie in Deutschland kann Putin ebenso wenig wie für die Defizite im Wohnungsbau.
Olaf Scholz wird der nächsten Regierung nicht angehören, so viel steht fest. Hinter der Personalie Robert Habeck steht ein Fragezeichen. Die Grünen haben in den letzten Wochen keinen Boden gutmachen können. Der Wahlkampf war ein reiner Habeck-Wahlkampf, in dem sich der Spitzenkandidat ganz auf seine unbestreitbaren Fähigkeiten als Kommunikator verließ. Aber Habecks vorgeführte Nachdenklichkeit nutzt sich ab. Als Wirtschaftsminister kam er aus der Defensive nicht heraus. Als Klimaminister war er seltsam zurückhaltend, was seinem Klientel kaum gefallen haben dürfte. Werden die Grünen nach der Wahl zur Mehrheitsbeschaffung gebraucht, wird an Habeck trotzdem kein Weg vorbeiführen. Es sei denn, er macht ihn frei.
Bleiben wir noch einen Augenblick bei den kaum besetzten Stellen im großen Sprechsaal des Wahlkampfs. Tauchte das Thema Klima wenigstens noch am Rande auf, war von Europa überhaupt nicht die Rede. Europa braucht gemeinsame Streitkräfte. Deutschland braucht die Wehrpflicht. Aber die Wahrheit soll das Volk nicht erfahren, jedenfalls nicht vor der Wahl. Fern wie das Mittelalter erscheint die Zeit, in der Helmut Kohl seinem Außenminister Hans-Dietrich Genscher die Europa-Kompetenz abnahm und sie ins Kanzleramt verlagerte. Für Kohl war Europa Kernthema. Dagegen hatten seine Nachfolger Schröder, Merkel und Scholz für das mühsame Geschäft einfach keine Lust. Die deutsch-französische Partnerschaft hat unter Scholz einen Tiefpunkt erreicht. Zugleich steht Europa in der größten Krise der Nachkriegsgeschichte. In den Arenen des Wahlkampfs war darüber kaum ein Wort zu hören.
Die Restanten im Wahlkampffeld reiten allesamt die Rasierklinge. Hier werden kleinste Zuckungen über Absturz oder Überleben entscheiden. Die Linke sehen viele Auguren auf der sicheren Seite. Dagegen stehen die Auspizien für das Ehepaar aus dem Saarland, das unter dem Kürzel BSW antritt, wohl ziemlich schlecht. Beides kommt einigermaßen überraschend. Und die FDP? Sie ist die Partei, die die größte Erfahrung hat mit Auf- und Abstieg. Schafft sie den Klassenerhalt nicht, hätte das Folgen. Der Politikwechsel, den Deutschland braucht, wäre dann noch schwieriger zu bewerkstelligen.
Schreibe einen Kommentar