Weirichs Klare Kante
Zeitenwende schluckt Sommerloch

Das „politische Berlin“ hat sich in die parlamentarische Sommerpause verabschiedet. Kurz zuvor, am „Internationalen Tag des Kusses“, haben die von Abgeordneten eingeladenen Besuchergruppen noch einen Blick auf die „East Side Gallery“ und das weltbekannte Bild von den sich umarmenden und mit einem Kuss Freundschaft heuchelnden kommunistischen Machthabern Leonid Breschnew und Erich Honecker werfen können. Bis Anfang September währt die Sitzungspause des Deutschen Bundestages – es sei denn, ein unvorhergesehenes Ereignis erfordere eine Sondersitzung. Danach startet bereits die heiße Phase in den Landtagswahlkämpfen von Bayern und Hessen.
Mit der nach dem Krieg in der Ukraine, der Energiekrise und dem fortschreitenden Klimawandel ausgerufenen Zeitenwende verschwindet aber auch das aus früheren Zeiten bekannte „sogenannte“ Sommerloch. Also die Saure-Gurken-Zeit, die scherzhaft für nachrichtenarme Zeiten steht. Dieser sprichwörtliche Ausdruck steht seit dem 18. Jahrhundert für einen Zeitraum, der von Verzicht und Leiden gekennzeichnet ist. Wenn im Winter wegen der Kälte kaum Gemüse- und Obstanbau möglich war, griffen die Menschen gezwungenermaßen auf die sauer eingelegten Gurken zurück. Bei den Briten nennt man das die Jahreszeit der kleinsten Kartoffeln.
Für die Publizistik gibt es kein größeres Unglück als Nachrichtenarmut. Deswegen haben früher phantasievolle Schreiber und politische Hinterbänkler das Sommerloch mit nicht selten erfundenen, originellen Berichten zu füllen gewusst. So forderte ein Abgeordneter jedes Jahr, Mallorca als Bundesland zu kaufen, eine Landrätin verlangte, die Ehe auf sieben Jahre zu begrenzen, eine Gewerkschaftsfunktionärin regte eine Mittagsschlafpause mit Liege am Arbeitsplatz als Beitrag zur „Siesta-Kultur“ an. Auch tauchte immer wieder das Ungeheuer von Loch Ness an deutschen Gestaden auf. Rudi Carrell widmete den sauren Gurken und Story-süchtigen Journalisten sogar ein eigenes Lied.
Das alles ist vorbei. Mit der Zeitenwende ist auch das Sommerloch verschwunden. Wer es besichtigen will, es liegt in der Nähe von Bad Kreuznach, ist eine kleine Gemeinde tatsächlich mit diesem Namen. Die Dauerkrise sichert übrigens journalistische Arbeitsplätze, obwohl es genügend erfundene Geschichten auch außerhalb von Saure-Gurke-Zeiten gibt.
Dieter Weirich (Jg. 1944), gelernter Journalist, kommentiert jede Woche mit spitzer Feder seine Sicht auf das aktuelle Geschehen in rantlos; mit freundlicher Genehmigung der “Zeitungsgruppe Ostfriesland (ZGO)”. Weirich war von 1989 bis 2001 Intendant des deutschen Auslandsrundfunks Deutsche Welle. Zuvor gehörte er eineinhalb Jahrzehnte als CDU-Abgeordneter dem Hessischen Landtag und dem Deutschen Bundestag an, wo er sich als Mediensprecher seiner Partei und als Wegbereiter des Privatfernsehens einen Namen machte. Außerdem nahm er Führungspositionen in der PR-Branche in Hessen wahr. Weirich, der sich selbst als “liberalkonservativen Streiter” sieht, gilt als ebenso unabhängig wie konfliktfreudig.