Gegen Populisten hilft nur eines: Wahlpflicht.

Während die großen Vereinfacher in Europa und jenseits des Atlantiks gegenwärtig scheinbar unaufhaltsam von Wahlerfolg zu Wahlerfolg eilen, bekommen sie interessanterweise in anderen Teilen des Erdballs keinen Fuß auf den Boden.  Zum Beispiel in Australien. Dort fanden imvorigen Sommer Parlamentswahlen statt, bei denen die rechtspopulistische One Nation Partei keinen einzigen Parlamentssitz und gerade einmal vier Senatssitze für sich erobern konnte.

Die Ursache hierfür liegt nicht in politisch paradiesischen Zuständen in Down Under, sondern vielmehr an den Besonderheiten des dortigen Wahlsystems: einer komplexen Präferenzwahl, die kleinere Parteien benachteiligt, und einer gesetzlichen Pflicht, wählen zu gehen. „Beides zusammengenommen ist der Grund, weshalb Unterstützung für Rechtspopulisten in Australien bislang stets regional begrenzt geblieben ist”, erläutert Peter Brown vom Swinburne Institute for Social Research das Phänomen.

Tatsächlich formuliert der 1924 ergänzte australische Commonwealth Electoral Act so unzweideutig wie knapp „die Pflicht, in jeder Wahl zu wählen”. Das darauf beruhende Modell ist weltweit ein Sonder- aber kein Einzelfall. Tatsächlich besteht in einer ganzen Reihe von Staaten Wahlpflicht, zumindest auf dem Papier. Doch anders als etwa in den Niederlanden, Belgien, Italien oder Thailand wird das Fernbleiben von der Wahlurne in Australien tatsächlich mit einem Bußgeld geahndet – derzeit in Höhe von umgerechnet rund 15 Euro. Die Folge: eine Beteiligung, von der man anderswo nur träumen kann. 95 Prozent waren es im Juli – noch drei Prozent mehr als in den Wahlen 2013.

Angesichts des Anwachsens populistischer Bewegungen und des immer größer werdenden Vertrauensverlustes der etablierten politischen Parteien in Europa diskutiert auch die deutsche Politik seit geraumer Zeit, wie auf niedrige Wahlbeteiligungen reagiert werden könnte. Die Vorschläge reichen von der Senkung des Wahlalters über die Verlängerung der Wahltermine bis zu Wahllokalen im Supermarkt. Aber natürlich gibt es auch kräftigen Gegenwind. Weshalb eigentlich die verbreitete Skepsis gegenüber einer Wahlpflicht?

Internationale Erfahrungen, nicht zuletzt in den zurückliegenden Wahlen in den Vereinigten Staaten und in den Referenden des vergangenen Jahres, zeigen, dass einiges dafür spricht, das Wahlrecht in eine Bürgerpflicht zu verwandeln. Die Folge wäre nicht zuletzt eine Transformation des politischen Systems, die den populistischen Vereinfachern auf dem rechten und linken Spektrum den Wind aus den Segeln nehmen könnte.

Die Folge wäre nicht zuletzt eine Transformation des politischen Systems, die den populistischen Vereinfachern den Wind aus den Segeln nehmen könnte.

Zunächst das Offensichtliche: Wenn 95 Prozent der Wahlberechtigten tatsächlich wählen gehen, liefert das ein sehr viel genaueres Abbild des öffentlichen Willens als Voten, an denen sich nur die Hälfte der Bevölkerung beteiligt – wie zuletzt in Bremen. Somit wäre der Zwang zur Stimmabgabe nicht anti-demokratisch, sondern ein Zugewinn an politischer Legitimität. Denn Wahlpflicht – auch das zeigt der internationale Vergleich – egalisiert die politische Beteiligung. Sie relativiert den Einfluss von Protestwählern und schmälert die Macht organisierter Interessensgruppen, die an Wahlen stets überproportional teilnehmen. Dies betrifft auch die Frage der Schichten- und Generationengerechtigkeit. So zeigt eine Untersuchung von Armin Schäfer, dass die Beteiligung junger Wähler siebenmal niedriger ausfällt, wenn eine Wahl ohne Beteiligungspflicht abgehalten wird. Dagegen führe eine Wahlpflicht „zu Entscheidungen, die sich stärker an den Interessen derjenigen ausrichten, die sonst der Wahlurne besonders häufig fernbleiben“.

Die Pflicht zur Stimmenabgabe jedoch würde auch die Wahlkämpfe positiv beeinflussen. Klientelistische Versprechen lediglich an die eigene Stammwählerschaft wären ebenso unpassend wie Versuche, die Anhänger der politischen Konkurrenz durch asymmetrische Demobilisierung von der Stimmabgabe abzuhalten. Zudem könnten sich Parteien in ihren Botschaften stärker auf Inhalte konzentrieren, anstatt darauf, die eigenen Anhänger am Wahltag vom Sofa in die Wahlkabine zu befördern.

Damit aber könnte die Wahlpflicht zugleich die Verankerung politischer Parteien in der Bevölkerung stärken. Geht es also darum, über die Wahlpflicht die Bevölkerung durch die Hintertür in Parteien zu zwingen? Keineswegs. Hier widerlegt das Beispiel Australien jeden direkten Effekt. Wie in Deutschland ist auch in Down Under die Mitgliedschaft in einer Partei die Ausnahme. Tatsächlich spotten australische Beobachter gern über die Tatsache, dass trotz Wahlpflicht alle Parteien des fünften Kontinents zusammengenommen weit weniger Namen in ihren Mitgliederverzeichnissen aufweisen als der Cricket Club von Melbourne auf seiner Beitrittswarteliste.

Zudem könnten sich Parteien in ihren Botschaften stärker auf Inhalte konzentrieren, anstatt darauf, die eigenen Anhänger am Wahltag vom Sofa in die Wahlkabine zu befördern.

Der Effekt wäre eher in der Gegenrichtung zu beobachten: nämlich in einer inhaltlichen Wiederannäherung der Parteien an den Mainstream. „Eine Wahlpflicht würde das strategische Kalkül von Parteien verändern“, meint so etwa Thorsten Faas, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Mainz. „Die Parteien müssten sich wieder um Wähler kümmern, ihnen ein attraktives Angebot machen“. Die weitgehende Entkoppelung der politisch Organisierten von der Mehrheitsgesellschaft und das Füllen dieser Lücke durch Populisten, wie derzeit in zahlreichen westlichen Demokratien zu beobachten, wäre so deutlich erschwert.

In vielerlei Hinsicht haben sich nicht zuletzt die zurückliegenden US-Präsidentschaftswahlen als Gegenprogramm zur australischen Wahlpflicht erwiesen. Denn statt wie in Australien die Teilnahme der Bevölkerung per Gesetz zu fördern, setzte auch im vergangenen Wahlgang eine Vielzahl von US-Staaten auf sogenannte Voter Suppression Laws, die Kritikern zufolge vielen Wählern faktisch das Stimmrecht entzogen.

Der Ausschluss breiter Bevölkerungsschichten durch selbstgewähltes Fernbleiben der Wähler oder per Gesetz verstößt jedoch nicht nur gegen das Prinzip von allgemeinen und gleichen Wahlen, sondern verzerrt im Resultat auch die politische Agenda. Gerade in den Vereinigten Staaten ist zu beobachten, wie Entscheidungen die politische Debatte bestimmen, die entweder nur für eine mobilisierte Minderheit relevant sind oder von einer Mehrheit abgelehnt werden. Ein Beispiel hierfür ist etwa der gut dokumentierte Wunsch der meisten Amerikaner nach schärferen Waffengesetzen, der politisch nicht umzusetzen ist. Die Situation ist inzwischen so kritisch, dass Präsident Obama im Sommer höchstpersönlich die Einführung einer Wahlpflicht ins Spiel brachte. Vor Studierenden der Universität Chicago pries Obama die australische Wahlpflicht als „transformativ“ und lobte unmissverständlich das australische Modell.

Doch ist die Einführung einer Wahlpflicht nicht ein Angriff auf die Freiheit? Gehört zum Wahlrecht nicht auch das Privileg, sich der Stimmabgabe zu entziehen? Sicher, doch die Wahlpflicht muss sich eben nicht zwangsläufig auf das tatsächliche Abgeben eines korrekt ausgefüllten Stimmzettels erstrecken. Protestverhalten, etwa durch das Ungültigmachen des Stimmzettels, wäre weiterhin möglich – auch das zeigt das Beispiel Australien. Dort allerdings hält sich selbst dieses als „informal voting“ bezeichnete Phänomen sehr in Grenzen: Im Sommer machten lediglich fünf Prozent der Wähler davon Gebrauch. Wie hoch der Anteil in Deutschland wäre, ist zwar unklar. Doch selbst ein deutlich höherer Anteil wäre allemal besser als ein fortgesetzter Siegeszug der Populisten.

Dr. Michael Bröning leitet das Referat Internationale Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin. Zuvor war er Landesvertreter der FES in Ost-Jerusalem und in Jordanien sowie Lehrbeauftragter an der Freien Universität Berlin.

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