Vor 113 Jahren wurde Oskar Schindler geboren/“Ein denkender Mensch muss doch einfach helfen“

Von Werner Schneider

Steven Spielbergs eindrucksvollen „Schindlers Liste“ Film haben Millionen Menschen rund um den Erdball gesehen. Oder sollte man besser sagen: „erlebt“? Denn dieser Schindler war keine fiktive Person, sondern hat wirklich gelebt. Er wurde am 28. April 1908 im mährischen (heute tschechischen) Zwittau noch als Bürger der k.u.k-Donaumonarchie geboren. Manchmal durchaus zwielichtig, dem Geld, gutem Leben und schönen Frauen zugeneigt, wandelte er sich – angewidert von den Brutalitäten der SS – zum Lebensretter. Zusammen mit seiner Frau bewahrte er rund 1 200 jüdische Zwangsarbeiter vor der Ermordung durch die Nazis. Der folgende Bericht ist geprägt von persönlichen Erlebnissen und intensiver Recherche.

 Im Januar 2020 hielt ich vor Schülerinnen und Schülern der Oberstufe eines Siegburger Gymnasiums einen Vortrag über Oskar Schindler und Steven Spielbergs Film Schindlers Liste.  Schwerpunkte des Vortrags waren Schindlers Entwicklung vom Kriegsgewinnler zum Lebensretter, seine Zivilcourage sowie Schlüsselszenen des Films, die eine überzeitliche Bedeutung haben. Nach dem Vortrag fragte ein Schüler, wann und warum ich begonnen hätte, mich mit der Thematik des Widerstands gegen den Rassismus der Hitlerdiktatur zu beschäftigen.

 Ein Ur-Erlebnis

Ein genaues Datum konnte ich natürlich nicht angeben. Aber ich vermute, dass mein Nachdenken über mutige Widerständler gegen den Nationalsozialismus und über das Massenvernichtungs-KZ Auschwitz zumindest in meinem Unterbewusstsein gefördert wurde durch ein Ur-Erlebnis in meiner Jugend. Die Hauptpersonen dieses Erlebnisses waren ein ehemaliger Soldat der deutschen Wehrmacht und sein kommandierender Offizier. Beide gehörten während des Zweiten Weltkriegs zu einem Erschießungskommando in Polen.

Emilie und Oskar Schindler

Bei einer Erschießungsaktion in Auschwitz hatte der dorthin abkommandierte Soldat seine Maschinenpistole weggeworfen und zu seinem Offizier gesagt: „Ich will nicht mehr, ich mache nicht mehr mit.“ Daraufhin hatte ihm sein Offizier eine Pistole an die Schläfe gehalten und gedroht: „Mach weiter. Oder du liegst in 10 Sekunden ebenfalls tot im Graben.“

Karriere nach dem Krieg

Nach dem Krieg wurde der Soldat Gärtner eines Industriellen, der in meinem Heimatort eine luxuriöse Villa besaß. Und der ehemalige Offizier wurde ein angesehener und wohlhabender Geschäftsmann im Nachbarort. Bis zu einem Samstag im Herbst 1955 wussten die Beiden nicht, dass sie nur fünf Kilometer voneinander entfernt lebten. Als sie sich an diesem Samstag im Gasthof meiner Eltern durch einen Zufall trafen, konnte der Gärtner im letzten Augenblick daran gehindert werden, seinen einstigen Offizier mit der Gartenschere auf der Herrentoilette zu erstechen.

Es war nicht einfach, die Beiden miteinander zu versöhnen. Aber es ist uns gelungen. Auch in meinem Heimatort in der Eifel hatte es fanatische Nazis gegeben. Meine Eltern und Großeltern gehörten nicht dazu. Ebenso wenig wie der damals unverzichtbare Fleischbeschauer, der die Qualität eines hausgeschlachteten Tieres zu begutachten hatte. Wenn auf dem Hof meiner Eltern ein Tier geschlachtet worden war, kam der Fleischbeschauer am selben Tag zur Begutachtung. Unser Haus betrat er mit erhobenem rechten Arm und den Worten:  „Heil Hitler ! Wo hängt das Schwein?“

 Alles über Cäsar, aber nichts über Hitler

Werner Schneider am Grab von Oskar Schindler in Jerusalem

Damals war ich Schüler an einem anspruchsvollen Gymnasium. Ich hatte mehrheitlich hervorragende, aber auch einige humorlose und schlagkräftige Lehrer. Diese Letzteren sahen in mir zu sehr nur den aufmüpfigen Widerspruchsgeist.  Meine Mitschüler jedoch haben mich gerade wegen dieser Bereitschaft zum Widerspruch gegen Autoritäten zum Schulsprecher gewählt. Über Julius Caesar, Karl den Großen und Napoleon erfuhren wir im Unterricht mehr als über Adolf Hitler, Hermann Göring und Josef Goebbels, von Auschwitz ganz zu schweigen. Dies ist kein nachträglicher Vorwurf an meine Schule, sondern die Feststellung zu einer Situation, die in den 1950er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland vorherrschendend war.

Einen Film wie Schindlers Liste gab es nicht. Als Spielbergs Meisterwerk auf VHS-Kassette und DVD schließlich erhältlich war, wurde er für mich – inzwischen war ich Lehrer geworden – zu meinem Favoriten. In vierwöchigen Unterrichtsreihen meiner Leistungskurse im Fach Englisch haben meine Schülerinnen und Schüler mit mir zusammen den Film analysiert. In Fortbildungsseminaren zur Filmanalyse konnte ich zudem Kolleginnen und Kollegen für das Werk begeistern. Drei Jahre habe ich an einer Dissertation über Schindlers Liste gearbeitet. Sie wurde in Deutschlands angesehenster überregionaler Tageszeitung ausführlich positiv rezensiert.

Das Interesse lässt nach

Aber als ich bemerkte, dass im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts   in den gedruckten und digitalen Medien in Deutschland das Interesse an Oskar Schindler und Spielbergs Film in auffallend starkem Maße nachließ, habe ich das Buch veröffentlicht: Oskar SCHINDLER Steven SPIELBERG  Wer ein einziges LEBEN rettet, rettet die ganze WELT. Ein selbstbewusster Fachbereichsleiter der Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn ließ sich von dem Satz seines Präsidenten Über Oskar Schindler ist alles gesagt. Der ist heute nicht mehr aktuell.  nicht beeindrucken, sondern bestellte eine hohe Zahl des Buches und ließ es Institutionen zukommen, die sich im engen und weiten Sinne mit der Nazidiktatur und dem Holocaust befassen.

Bei meinen Vorträgen habe ich immer wieder bemerkt, wie beeindruckt in besonderem Maße junge Menschen von Oskar Schindlers zwiespältiger Lebensgeschichte waren. Das heißt von der Biographie eines Mannes, der in den 1960er Jahren verarmt und allein  hinter dem Frankfurter Hauptbahnhof wohnte und auf die Frage eines TV-Journalisten des Hessischen Rundfunks, warum er im Oktober 1944  sein  bis zu diesem Zeitpunkt erworbenes Millionenvermögen eingesetzt habe, um 1200 Juden vor Auschwitz zu retten,  antwortete:

„Ein denkender Mensch, der seinen inneren Schweinehund überwunden hatte, musste einfach helfen. Es war keine andere Wahl.“

Früher Beitritt zur NSDAP

Von der Lebensgeschichte eines Mannes, der früh der Nazi-Partei beitrat und dies mit dem Goldenen Parteiabzeichen an seinem eleganten Jackett auch demonstrierte. Dessen anfängliche Geldbesessenheit nicht nur von bestechlichen Nazis geschätzt wurde. Von der Biographie eines Mannes, der das Gymnasium ohne Abitur verließ und auf kritische Nachfragen als erfolgreicher Fabrikbesitzer selbstbewusst antwortete: Ich bin Kaufmann, nicht Gelehrter. Dessen Treulosigkeit nach Aussage seiner Ehefrau grenzenlos war. Der wegen seiner geradezu krankhaften Vorliebe für die Damenwelt in den Augen seiner Kirche ein großer Sünder war. Der jedoch im wirklichen Leben keineswegs als Bußübung für seine Sünden, sondern aus menschlicher Überzeugung, Mitgefühl und Zivilcourage Leben gerettet und dabei sein eigenes Leben in Gefahr gebracht hat.

Aktuell auch noch in unserer Zeit

Wie aktuell auch noch im Jahr 2021 Oskar Schindlers Lebenseinstellung und Handlungsmotivation sind, kann man den folgenden, geradezu bekenntnisartigen Worten des Regisseurs Steven Spielbergs entnehmen. Dabei ist es hilfreich zu wissen, dass Spielberg Jude ist und lange Zeit bemüht war, dies zu verbergen.

Originalfoto der Ankunft der für die Gaskammer bestimmten Deportierten in Birkenau/Auschwitz

„Schindlers Liste ist weitaus mehr als nur ein Film für mich, weil ich damit eine tiefgreifende Reise in die Seele eines einzigartigen Menschen unternommen habe und, wie sich herausstellen sollte, auch in meine eigene Seele.  Schindlers Liste zu drehen, das hat nicht nur meinen Glauben vertieft, sondern meinen Lebensweg verändert. Denn dadurch, dass ich die Geschichte von Oskar Schindler erzählte, habe ich gelernt, wie ein einziger Mensch, nicht eine Armee, sondern ein einziger Mensch die Welt verändern kann.“

 Dieser einzige Mensch, der die Welt verändern kann, muss kein Oskar Schindler sein.  Jede und jeder von uns kann dieser einzige Mensch sein. Aber dieser einzige Mensch muss denken können und bereit sein, dies auch zu tun.

Oskar Schindlers Handlungsmotivation ist zeitlos.

Sie galt für die Widerständler in der Zeit der Nazidiktatur. Sie gilt jedoch auch im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Sie kann zur Zivilcourage und zum mutigen Widerstand gegen Rassismus und Extremismus, gegen Verschwörungstheorien und vernunftfernes Querdenken motivieren, bevor es erneut zu spät ist.

Zu Schindlers Geburtstag am 28. April geschrieben.

Dr. Werner Schneider (Jg. 1940), Philologe und Anglist, von 1974 – 1997 Studiendirektor am Rhein-Sieg-Gymnasium St. Augustin, schrieb seine Doktorarbeit über „Steven Spielberg: Schindler´s List. Ein filmanalytisches Projekt im Englischunterricht als Möglichkeit für fachintegrierten Ethikunterricht“. Von 2000 an Veröffentlichungen in Printmedien und Vorträge in Schulen über Oskar Schindler und Spielbergs Film über ihn. Autor des Buchs „Oskar SCHINDLER Steven SPIELBERG Wer ein einziges LEBEN rettet, rettet die WELT“.   

 

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