Spiel mit hohem Einsatz

Machtspiele bei den Haushaltsverhandlungen führen in Polen beinahe zur Staatskrise. Ausgerechnet die Linke eilt der rechtskonservativen PiS zu Hilfe.

 

Die politische Landschaft Polens erlebt gerade ein Beben mittlerer Stärke: Die Fraktion der Linken (Polska Lewica) im Parlament hat sich mit der regierenden rechtskonservativen PiS (Recht und Gerechtigkeit) von Jarosław Kaczyński auf Bedingungen geeinigt, unter

© pixabay.com

denen die Linke der Verabschiedung des EU-Haushalts und des „NextGenerationEU“-Fonds im polnischen Unterhaus Sejm zustimmen wird. Die unmittelbaren Reaktionen des liberalen Establishments nahm, so ein Kommentar in der heutigen Ausgabe der Tageszeitung Rzeczpospolita, „beinahe hysterische Züge an“.

Die Grenze zu Infamie und Idiotie überschritt vor allem der frühere Außenminister Radosław Sikorski sehr entschlossen: Der Europaabgeordnete der Bürgerplattform verglich die Absprache tatsächlich mit dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939. Der Anlass dieser Aufregung ist eine Absprache zwischen Lewica und der PiS als größter Regierungspartei: Die Linke stimmt im Sejm für den EU-Haushalt und den „nationalen Aufbauplan“ (KPO) zur Verwendung der Mittel aus dem EU-Wiederaufbaufonds. Im Gegenzug verpflichtet sich die Regierung, sechs Forderungen der Linken in dem Aufbauplan zu verankern:

Erstens: Mindestens 30 Prozent der Mittel sollen über kommunale Selbstverwaltungen abgewickelt werden (vor allem die Großstädte Polens werden von der Opposition regiert). Zweitens: Aus den EU-Mitteln sollen 75 000 billige Mietwohnungen gebaut werden. Drittens: 800 Millionen Euro der Mittel sollen in Kreiskrankenhäuser investiert werden. Damit soll die Gesundheitsversorgung in der Fläche gestärkt werden. Viertens: 300 Millionen Euro sollen an Branchen gehen, die unter der Covid-Pandemie besonders gelitten haben (v.a. Gastgewerbe und Transport). Fünftens: Die Ausgabenplanung des Aufbauplans soll detailliert dargestellt und veröffentlicht werden. Sechstens: Die Ausgabepraxis soll durch ein Monitoring-Komitee kontrolliert werden, um Nepotismus und Parteibuchwirtschaft zu begrenzen.

Hintergrund der Absprache ist das bisher ungeklärte Schicksal des EU-Haushalts im Sejm. Obwohl Polen in den Jahren bis 2027 bis zu 171 Milliarden Euro aus den kombinierten Mitteln des EU-Haushalts und des Wiederaufbaufonds (inkl. Kreditlinien) erhalten würde, war bis vor kurzem nicht klar, ob die Verabschiedung im Sejm gesichert ist. Denn die Regierungskoalition rund um die PiS verfügt nicht über eine eigene Mehrheit für diese. Einer der zwei kleineren Koalitionspartner, die nationalkonservative Kleinstpartei Solidarna Polska des Justizministers Zbigniew Ziobro, will dem Haushalt nicht zustimmen, da die damit verbundene Rechtsstaatskriterien ihrer Meinung nach die Souveränität Polens untergraben werden.

Ein Scheitern des EU-Haushalts im Sejm hätte Auswirkungen für die gesamte Europäische Union und würde einen hohen ökonomischen Schaden für das Land verursachen.

Lange Zeit sah es so aus, als ob die Verabschiedung dennoch unproblematisch wäre, weil die „proeuropäische“ Opposition sich einer Zustimmung nicht entziehen würde. Der Vorsitzende der Bürgerplattform (PO) Borys Budka erklärte vor einigen Monaten die Verabschiedung des Haushalts zum Element der „polnischen Staatsräson“. Von dieser Position begann die EVP-Mitgliedspartei allerdings in den letzten Wochen klammheimlich abzurücken. Stattdessen gewannen – so zumindest die Darstellung in verschiedenen Medien – Überlegungen die Oberhand, über ein Scheitern des EU-Haushalts eine Regierungskrise auszulösen und vorgezogenen Neuwahlen zu erzwingen.

Mit ihrer Initiative hat die Lewica einem solchen Vabanque-Spiel mit viel zu hohem Einsatz nun die Grundlage entzogen. Ein Scheitern des EU-Haushalts im Sejm hätte Auswirkungen für die gesamte Europäische Union und würde einen hohen ökonomischen Schaden für das Land verursachen. Die Linke habe mit diesem Entschluss zu zeigen versucht, so ein Kommentar in der an sich der Linken nicht sehr zugetanen liberal-konservativen „Rzeczpospolita“, dass „Politiker in der Politik sind, um Dinge für die Menschen zu ermöglichen, nicht um sich mit sich selbst zu beschäftigen“.

Der Ansatz der Lewica in dieser Frage entspricht zudem ganz klar den Erwartungen der polnischen Bevölkerung insgesamt: Bei einer am 28. April veröffentlichten repräsentativen Umfrage sprachen sich 66 Prozent der Befragten dafür aus, dass die Opposition zusammen mit der Regierung den EU-Haushalt verabschieden sollte.

Der eigentliche Grund für die hyperventilierende Reaktion der beiden oppositionellen EVP-Mitgliedsparteien PO und PSL (Polnische Bauernpartei) dürfte denn auch weniger in der Substanz der Absprache selbst liegen. Beide Parteien müssten im Gegenteil froh sein, dass damit jeglichen taktischen Abstimmungs-Spielchen die Grundlage entzogen ist. Ein Scheitern des EU-Haushalts an der Stimmenthaltung von zwei EVP-Parteien (zusammen mit dem Widerstand rechtsextremer und ultranationalistischer Kräfte) hätte einen gesamteuropäischen politischen Sturm ausgelöst, der die ohnehin angeschlagene Parteiführung der PO mit Sicherheit verschlungen hätte.

In der nervösen Reaktion zeigt sich vielmehr, dass sich die bürgerlich-liberalen Oppositionskräfte politisch gründlich verfahren haben.

In der nervösen Reaktion zeigt sich vielmehr, dass sich die bürgerlich-liberalen Oppositionskräfte politisch gründlich verfahren haben. Nach sechs hintereinander verlorenen Wahlen seit 2014 ist die Bürgerplattform in ihrer Strategie der „totalen Opposition“ gescheitert. Die Unterordnung aller anderen politischen Kriterien unter das Mantra „die PiS muss weg“ drohte im Falle des EU-Haushalts in offene Verantwortungslosigkeit umzuschlagen. Nun beginnt die Bürgerplattform auch noch, ihre gewohnte Hegemonie unter den Anti-PiS-Kräften zu verlieren. Sie muss dabei zusehen, wie die polnische Linke sich wieder stärker als eigenständiger Akteur in der politischen Landschaft etabliert und erfolgreich Teile des linksliberalen großstädtischen Milieus anspricht. In der Mitte wird der PO – die gegenwärtig in den Umfragen nur noch bei 16-20 Prozent steht – von der neuen Bewegung des liberal-katholischen TV-Moderators Szymon Hołownia Konkurrenz gemacht.

Noch beunruhigender muss für die PO eine vor kurzem veröffentlichte Umfrage zu den Wahlabsichten von Jung- und Erstwählern sein: Hier erklärten 49 Prozent für die „Lewica“ stimmen zu wollen, aber nur 3 Prozent für die PO und null Prozent (!) für die zweite EVP-Partei, die PSL. Die Linke erntet mit diesen Ergebnissen nicht zuletzt auch die Früchte ihrer klaren Haltung in der Abtreibungsfrage, zu der sich die PO aus Rücksicht auf ihren konservativen Flügel nicht richtig durchringen kann.

Die Umfragen sind auch deswegen von Bedeutung, weil die Frage nach vorgezogenen Neuwahlen tatsächlich im Raum steht. Die Spannungen in der Regierungskoalition zwischen gemäßigt christdemokratisch orientierten Kräften und nationalistisch-fundamentalkatholischen Kreisen werden immer offenkundiger. Sollte sich die Partei des Justizministers bei der Abstimmung zum EU-Haushalt tatsächlich gegen die PiS stellen, wäre ein Punkt erreicht, der in jedem anderen Land als Ende der Regierungskoalition betrachtet werden würde. Dann wäre die Frage nicht mehr, ob es zu vorgezogenen Neuwahlen kommt. Sondern eigentlich nur noch die, wann Jarosław Kaczyński den richtigen Zeitpunkt dafür gekommen sieht.

Dr. Ernst Hillebrand ist Büroleiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Warschau. Zuvor war er Referatsleiter der Internationalen Politikanalyse, des Referats für Mittel- und Osteuropa sowie Leiter der Büros in Paris, London und Rom.

- ANZEIGE -

Related Posts

Programme und Versprechen zur Bundestagswahl 2025

Programme und Versprechen zur Bundestagswahl 2025

Deutsche Redewendung: „Den Nagel auf den Kopf treffen“

Deutsche Redewendung: „Den Nagel auf den Kopf treffen“

Bundeskanzler – wirklich kein Traumjob

Bundeskanzler – wirklich kein Traumjob

No Comments Yet

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert