Sprachpolizei
Von Gisbert Kuhn

Man muss schon einigermaßen sorgfältig sortieren, damit nichts durcheinander gerät bei all den „Worten“ und „Unworten“, die einem zur Zeit um die Ohren fliegen. Da wurde (gerade noch rechtzeitig vor Weihnachten) das „Wort des Jahres 2017“ auf den gemischten Markt der Politiker, Journalisten und sonstigen Wirklich- oder Pseudo-Intellektuellen geworfen: „Jamaika-Aus“. Preisrichter war die „Gesellschaft für deutsche Sprache“ in Wiesbaden. Bereits Mitte November überraschte der Langenscheidt-Verlag mit dem „Jugendwort des Jahres 2017“. Die Münchener präsentierten die verbale Neuschöpfung „I bims“, womit die „Generation Kopf runter“ in ihrer digitalen Display-Kommunikation angeblich zu erkennen gibt „Ich bin“ bzw. „Ich bin es“. Und schließlich, nicht zu vergessen, das vor wenigen Tagen unter zumeist wohlwollendem, medialen Beifall von der in Frankfurt ansässigen „Sprachkritischen Aktion: Unwort des Jahres“ bekannt gegebene „Unwort des Jahres 2017“. Es heißt: „Alternative Fakten“.
Nun ist es ja durchaus lobenswert, wenn sich Persönlichkeiten von Rang oder wegen ihrer besonderen Qualifikation speziell ausgesuchte Gremien um die Einhaltung eines möglichst hohen Sprach-Standards kümmern. Eigentlich. Und zwar sowohl in gesprochener wie geschriebener Form. Wer jemals mit Bewerbungsschreiben zu tun hatte, weiß, was gemeint ist. Und beim bloßen Überfliegen von facebook-Texten ist man ja schon geneigt, im Geiste zu gratulieren, wenn es den „Autoren“ mitunter gelingt, ihre Texte mit weniger als fünf Schreibfehlern zu platzieren – von den Interpunktions-Künstlern (also jenen, die fröhlich-freihändig mit Punkten und Kommas jonglieren) ganz zu schweigen.
Hier anzusetzen, ist freilich nicht die Absicht der diversen Jahreswort-Jurys. Denen geht es vielmehr darum, von ihrer hohen Bildungswarte aus so etwas Ähnliches wie Sprachmoral zu predigen. Was bedeutet ihnen schon das banale Problem, dass „dass“ (mit 2 „s“) in mindestens der Hälfte der Anwendungsfälle falsch genutzt wird, im Vergleich mit der hehren Absicht, „verschleiernde und irreführende“ Ausdrücke für den Versuch aufzudecken, „Falschmeldungen als legitimes Mittel der öffentlichen Auseinandersetzung salonfähig zu machen“. Letzteres ist die Begründung des Frankfurter Unwort-Zirkels mit Blick auf seine Entscheidung für „Alternative Fakten“. Um diesen, von Donald Trumps Medienberaterin Kellyanne Conway im Zusammenhang mit der Amtseinführung des US-Präsidenten vor einem Jahr geprägten, Begriff dreht sich mittlerweile eine breite öffentliche Auseinandersetzung, die längst bis in die Hörsäle der Universitäten gelangt ist.
Dabei wäre es doch ganz einfach, dem Vorgang einen Namen zu geben: „Unverschämtheit“. Denn Fakten – also Tatsachen – sind nun einmal Tatsachen. Die lassen sich nicht „alternativ“ verschieben. Wer etwas anderes als Fakten in die Diskussion einbringt, bezieht sich also auf Tratsch und Gerede, oder der lügt. So wie vor einem Jahr Donald Trump, als er behauptete, zu seiner Inthronisation seien genauso viele Menschen gekommen wie bei seinem Vorgänger Barack Obama. Für sich genommen, ist diese Geschichte unbedeutend. Trotzdem hat die Conway´sche Wortschöpfung auch bei uns durchaus Wirkung gezeigt – und zwar sowohl in den politischen Auseinandersetzungen, als auch (sogar besonders) in den so genannten sozialen Medien. Längst hat dort die Praxis Einzug gehalten, den Austausch von Argumenten auf der Basis von beweisbaren Tatsachen durch nicht belegte Behauptungen zu ersetzen. Zuhören, abwägen? Wozu denn?!
Das ist, fraglos, keine fröhlich stimmende Entwicklung. Insofern ist das erklärte Ziel der sechs sprachkritischen Frankfurter Akteure im Prinzip durchaus lobenswert, „auf öffentliche Formen des Sprachgebrauchs aufmerksam zu machen und dadurch das Bewusstsein und die Sensibilität für Sprache in der Bevölkerung zu fördern“. Nur – gelingt das tatsächlich auch? Oder sollen die jährlichen, medienwirksamen, Inszenierungen möglicherweise vor allem die Eigenreklame befördern? Nach den Beobachtungen des Augsburger Sprachwissenschaftlers Professor Helmut Berschin hat die Brandmarkung „unangemessener“ Begriffe oder Sprachwendungen deren weitere Verwendung keineswegs eingedämmt, sondern – nicht selten – sogar noch befördert.
Berschin belegt das u. a. mit Hinweis auf zwei zu „Unworten“ erklärte Begriffe: „Lügenpresse“ (2014) und „“Volksverräter“ (2016). In der Tat gehören beide inzwischen ganz offensichtlich zum zentralen verbalen Waffenarsenal der politischen Rechtsaußen in Deutschland. Und nicht nur dieser unverbesserlichen Ultras. Mehr als ein halbes Jahrhundert war etwa „Lügenpresse“ praktisch aus dem deutschen Sprachschatz verschwunden. Inzwischen aber gehört es wieder zum allgemeinen Gebrauch. Auf die Frage: „Finden Sie an dem Vorwurf der ´Lügenpresse` etwas dran, oder finden Sie das nicht“, antworteten im vergangenen Jahr immerhin 39 Prozent der Befragten mit „Ja“, gegenüber 36 Prozent „Nein“ und 25 Prozent „Unentschieden“ (Allensbach Umfrage Nr. 11049).
Was war geschehen? 2015 vollzog sich der – praktisch unkontrollierte – Zustrom von Kriegsflüchtlingen und Asylsuchenden nach Deutschland. Es war, in der Folge, nicht zuletzt die mediale Berichterstattung, die in breiten Teilen der Öffentlichkeit immer größere Zweifel an einer „zutreffenden“ Berichterstattung aufkommen ließ. Dass „die Presse“ besonders in jener Zeit offensichtlich ihre ur-eigentliche Aufgabe einer möglichst leidenschaftslosen Beobachtung und entsprechend publizierten Widergabe von Fakten zumindest nicht genügend nachkam, ist leider nicht ganz von der Hand zu weisen. Mehr noch – mit einer umfassenden, inhaltsanalytischen Untersuchung von 35 000 Texten zur Flüchtlingskrise untermauerte der Medienwissenschaftler Michael Haller (Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien, Juni 2017) diese, durchaus bis ins bürgerlich-liberale Lager reichende, Empfindung. Da hilft mediale Empörung über Pegida- und andere rechtsradikale Angriffe nicht. Hier müssen sich die Redaktionen von Zeitungen, Fernseh- und Rundfunksendern schon selbst an die Nase fassen…
Und die Moral von der Geschichte? Zumindest wohl nicht die von den sprachkritischen Gremien erhoffte erzieherische oder gar sprachpolizeiliche Wirkung. Mochten die Initiatoren bei ihren Entscheidungen vielleicht erwartet haben, die jährlich angeprangerten Wörter würden (weil tatsächlich meistens unerträglich) relativ schnell wieder aus dem allgemeinen Sprachgebrauch verschwinden – das hat sich jedenfalls nicht erfüllt. Oft sogar passierte das Gegenteil. Trotzdem erledigt sich so manche Aufregung von allein. Wem ist zum Beispiel in den vergangenen Jahren noch so ein Kampfbegriff wie „betriebsratsverseucht“ begegnet? Oder „Sozialleiche“? Oder „Opfer-Abo“? Anscheinend sämtlich sprachliche Eintagsfliegen.
Ist demnach also alles paletti? Schön wär´s. Sprachwächter hin oder her – in den Bereichen, in denen sich bisher schon genügend Mitbürger genüsslich auf unterster sprachlicher Ebene ausgelassen haben, werden sie dies ganz sicher zu ihrer eigenen Freude auch zukünftig tun. Wobei sich bei vielen Texten die Frage aufdrängt, was dort vorherrscht: Mangelnde Bildung oder ganz einfach nur fehlender Anstand.