Von Günter Müchler

Autor Günter Müchler

Die Transformation des Politikers Olaf Scholz schreitet voran.  Bei der Bewerbung für das Amt des Bundeskanzlers vor einem Jahr hatte er sich als Merkel hoch zwei vorgestellt, ein erprobter Gleichgewichtskünstler auf dem Feld des Inneren. Im Fach Außenpolitik gab er dagegen ein leeres Blatt ab. Russlands Krieg gibt Scholz die unverhoffte Chance, sein Profil nutzbringend zu erweitern. Während selbst Ampel-Freunde einräumen müssen, dass die Leistungen des Kanzlers auf seiner Hausstrecke bestenfalls durchmischt sind, hat er als Außenpolitiker Punkte gesammelt.

Nach dem 24. Februar fackelte der einstige Ober-Hamburger nicht lange. Nur drei Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine verkündete er die „Zeitenwende“. Unmissverständlich schied er, wer in dem kriegerischen Konflikt Täter und wer Opfer ist, sicherte den Überfallenen Unterstützung zu, versprach die Aufrüstung der Bundeswehr und setzte die Pazifisten in SPD und Koalition durch Überrumpelung matt. Damit wurde die „Zeitenwende“ nach Berlin verlagert und krempelte die Prioritäten im eingeübten Politikverständnis um.

 Denn dass der Staat zuallererst die Aufgabe hat, für die Sicherheit seiner Bürger zu sorgen, hatte man im Lande durch die Bequemlichkeit jahrzehntelanger Wohlfühlpolitik beinahe vergessen. Verteidigung stand auf dem Abstellgleis. Man flanierte unter der regenbogenen LGBTQIA-Fahne und wollte Klima-Primus sein. Die harten Fakten der Energiesicherung wurden konsequent ausgeblendet. Scholz selbst gehörte zu den Exponenten dieser Politik. Mit ihr brach er im Februar und erfand sich dabei neu.

Unlängst in Prag legte der Kanzler rhetorisch nach. Für die Verhöhnung des Völkerrechts gibt es deutscherseits auch sechs Monate danach keinen Rabatt. Was die Hilfsleistungen für die Ukraine angeht, soll sich Putin keine falschen Hoffnungen machen. Es bleibe dabei, erklärte der Kanzler an der Moldau, und zwar „so lange wie nötig“. Der Halbsatz ist dick zu unterstreichen. Scholz rechnet nicht mit einer kurzfristigen Lösung. Zugleich ist ihm bewusst, dass Langstreckenlauf normalerweise nicht die Stärke von Demokratien ist. Die Klopfzeichen sind hörbar. Noch sind es nur ein paar frei-floatende Intellektuelle, die sich den Standpunkt der AfD zu eigen machen, man solle Putin schalten und walten lassen. Aber es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis der linke SPD-Flügel aus seiner Schockstarre erwacht.

Dabei geht es um Europa, um den Behauptungswillen des Kontinents der Freien. Scholz sieht klar, dass Putins Ziel, die Wiedererrichtung des großrussischen Reiches sowjetischer Provenienz, eng verwoben ist mit der Absicht, es dem Westen richtig zu zeigen, den er gleichzeitig für dekadent und für bedrohlich hält. Eine Konfliktlösung, die der Stalin-Nachfolger im Kreml von Moskau als Sieg verkaufen könnte, wäre mithin eine Niederlage des Westens, die Verabschiedung Europas als ernstzunehmender Faktor der Weltpolitik. In dieser grundlegenden Einsicht kann sich der Kanzler auf die Koalitionspartner verlassen, auf die eigene Genossenschaft aber nur bedingt.

Mag sein, dass man in Putin eines Tages den Mann sehen wird, der Europa bei seiner Suche nach Selbstertüchtigung Schrittmacherdienste geleistet hat. Was der amerikanische Trumpismus, dessen Wiederkehr ja alles andere als ausgeschlossen ist, und der immer unverhohlener hervortretende Egozentrismus Chinas nicht vermocht haben, könnte die russische Aggression bewirken: Die Erkenntnis nämlich, dass Europa auf eigenen Füßen stehen muss. Europa muss lernen, geopolitisch zu denken, und es braucht die Fähigkeit, eigenständig zu handeln.

In Prag sprach sich Scholz, nicht zum ersten Mal, für eine baldige Aufnahme der West-Balkan-Staaten in die EU aus. Die Ukraine und Moldau haben Kandidatenstatus, Georgien ist er in Aussicht gestellt. Obwohl Scholz das Wort nicht in den Mund genommen hat, ist klar, was gemeint ist. Europa steht vor einer zweiten Osterweiterung. Die wird es jedoch nur dann geben können, wenn die (Alt-)Europäer sich endlich dazu verstehen, die Spielregeln des Staatenverbunds zu ändern. Die Ablösung des Einstimmigkeitsprinzips gehört auf die Tagesordnung.

Ähnlich denkt man in Paris. Solange Angela Merkel in Berlin regierte, waren europäische Reformideen des Élysée zuverlässig in freundlicher deutscher Unverbindlichkeit versickert. Kein Wunder, dass der Prager Rede jetzt laut applaudiert wurde. Wenig Zustimmung kam hingegen aus den osteuropäischen Hauptstädten. Zumal in Warschau hält man alles, was in Brüssel mit zwei Geschwindigkeiten oder mit qualifizierten Mehrheiten in Verbindung gebracht werden kann, für Gotteslästerung.

Es ist eine Tragik und schier unbegreiflich, dass ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo sich die Geographie Europas in puncto Beachtung nach Osten verschiebt, die polnische PiS-Regierung mal wieder wild mit den Hufen schlägt. Zum 83. (!) Jahrestag des Überfalls von Nazi-Deutschland vom heutigen Bündnispartner Deutschland Reparationen in Billionenhöhe zu fordern, während die Russen an der polnischen Grenze stehen, ist eine kaum zu überbietende Torheit.

Es bleibt dabei, Europa tut sich schwer mit sich selbst. Das Haus umzubauen und es dann zu erweitern, wird Kraft und Energie kosten. Scholz sollte sich dennoch nicht von seinem Weg abbringen lassen und gemeinsam mit Emanuele Macron jede Gelegenheit nutzen. Die gegenwärtige Mehrfach-Krise ist kein Grund, das Dringliche beiseite zu schieben und zu resignieren. Im Gegenteil: Äußerer Druck hat schon in der Vergangenheit oft geholfen, das schwergängige Gefährt der Gemeinschaft in Bewegung zu bringen. Warum soll das diesmal nicht gelingen? Als Außenpolitiker könnte der Kanzler Statur gewinnen, als europäischer Reformpolitiker könnte er in Helmut Kohls Fußstapfen treten. Allerdings müssten dann den Worten von Prag Taten folgen.

 

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.

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