Vom Kaukasus bis zum Tegernsee – Helmut Kohl und Michail Gorbatschow

Von Gisbert Kuhn

v.l.n.r.: Norbert Blume, Bundeskanzler Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher und Praesident Michail Sergejewitsch Gorbatschow ©seppspiegl

Es ist der 16. Juli 1990. Zwei Boeing 707 der Luftwaffe befinden sich auf dem Rückflug vom südrussischen Kurort Mineralnije Wodi (auf deutsch: Mineralwässerchen) am Fuße des Kaukasus nach Bonn. An Bord der ersten, der „Otto Lilienthal“: Bundeskanzler Helmut Kohl, Außenminister Hans-Dietrich Genscher, Finanzminister Theo Waigel mit ihren jeweiligen Chefberatern, dazu eine halbe Hundertschaft Journalisten aus aller Welt. Die zweite, etwa 20 Minuten dahinter folgende „Konrad Adenauer“, noch einmal randvoll gefüllt mit Pressevertretern sowie technischem Regierungspersonal. Kohl war bereits kurz nach dem Start nach hinten zu der aufgeregt diskutierenden Meute gekommen und hatte jedem ein Glas Sekt offeriert, damit man miteinander anstoße. Dazu gab es auch jeden Grund der Welt. War es doch während der vergangenen drei Tage – zunächst in Moskau, vor allem aber danach in einer malerisch an einem rauschenden Gebirgsbach gelegenen Datscha – in langen, intensiven Verhandlungen mit Staatspräsident Michail Gorbatschow und Außenminister Georg Schewardnadse gelungen, die letzten großen Hemmnisse für die deutsche Wiedervereinigung zu beseitigen.

Journalisten-Jubel und Kanzler-Demut

In der „Otto Lilienthal“ bietet sich dem aufmerksamen Beobachter eine eigenartige Szene. Ein Großteil der Journalisten lässt den Kanzler geradezu euphorisch hochleben. So, wie zum Beispiel Erwin Behrens, damals Bonner Studioleiter des WDR-Hörfunks: „Das war ein Meisterstück, Herr Bundeskanzler!“ Oder Bernt Conrad, Diplomatischer Korrespondent der „Welt“: „Wir gratulieren aus vollem Herzen“. Keine Frage – Helmut Kohl nimmt die Glückwünsche erfreut entgegen. Doch dies gepaart mit einer beim ihm ansonsten total ungewohnten Bescheidenheit, ja Demut. Er habe, sagt er, „auch viel Fortune gehabt“. Und weiter: „Ich will mein Licht nicht unter den Scheffel stellen und werde mich auch nicht dagegen wehren, wenn später einmal geschrieben werden sollte, ich habe zu diesem Prozess mein Teil beigetragen“. Aber, fügt er sofort zu, „das war nur möglich in dieser außergewöhnlichen, vielleicht sogar einmaligen Situation, in der mit George Bush sen., Michail Gorbatschow, Francois Mitterrand und mir an den entscheidenden Stellen Personen standen, die einander vorbehaltslos vertrauten. Und weil wir wirtschaftlich in der glücklichen Lage sind, die Lasten der Vereinigung und – nicht zuletzt – der Rückführung der sowjetischen Truppen zu stemmen“. Ganz unvermittelt fügt er hinzu: „Ich glaube, auf diesem Werk liegt Gottes Segen“. Schließlich prostet der Kanzler den beiden Ministern Genscher und Waigel zu: „Wir waren ein gutes Team“.

Diese Reise, über Moskau, in den Kaukasus gehört mit ihren Ergebnissen und dem ganzen Drum und Dran ohne Zweifel zu den absoluten Höhepunkten einer mehr als vier Jahrzehnte währenden und von aufregenden, ja dramatischen Ereignissen gewiss nicht armen  Journalisten-Karriere. Noch auf dem Hinflug war sich die Bonner Verhandlungsdelegation noch gar nicht im Klaren darüber, was am Ende herauskommen müsse , damit man daheim von einem Erfolg sprechen könne. Kohl hatte, hoch über der Ostsee, sogar noch einen lautstarken (damit die Journalisten hinten in der „Holzklasse“ ihn auch ja mitkriegen) Streit mit dem freidemokratischen Außenminister Genscher losgetreten, weil dieser den Sowjets von vornherein eine Verkleinerung der Bundeswehr auf 250 000 Mann anbieten wollte. „Wir bieten“, tönte der Pfälzer, „erstmal gar nichts an, denn das würden die sofort einsacken. Wir warten auf die Ergebnisse. Wenn Du damit nicht einverstanden bist, lasse ich sofort die Maschine umkehren!“ Tatsächlich einigte man sich am Ende auf eine Verkleinerung der Bundeswehr von 550 000 auf 370 000 Mann. Eine Zahl, die in der Realität später (wie man heute sehen kann) sogar noch deutlich unterschritten wurde

„Was heißt ´chill`auf deutsch?“

In zwangsloser Runde, mit Strickjacke und Pullover bekleidet, verhandeln Helmut Kohl (rechts) und Michail Gorbatschow (Mitte) im Juli 1990 im Kaukasus, über die Deutsche Einheit. Mit dabei Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher.

Die damaligen Bilder von dem Verhandlungsort im Kaukasus, der Regierungs-Datscha mit den sie umgebenden Berghütten, den Plausch am Holztisch, Gorbatschow und Kohl in Strickjacken und ihren Abstieg zum Gebirgsbach – sie sind in den späteren Jahren oft gesendet worden und vielen Zeitgenossen ohnehin noch gut in Erinnerung. Was allerdings bei der Pressekonferenz im Anschluss an die Verhandlungen im großen Hörsaal des   Lungensanatoriums von Schelesnowodsk von den beiden Staatsmännern verlesen und erläutert wurde, raubte den meisten Anwesenden schier den Atem. Und das, obwohl der seinerzeit noch immer Allmächtige im Kreml vorgewarnt hatte: „Sie können auf interessante Nachrichten gefasst sein“. Ein Beispiel für das fast grenzenlose Staunen mag diese Szene sein: Der mitgereiste Bonner Korrespondent der „Los Angeles Times“, George Tyler Marshall, beugte sich zu seinem Nachbarn und Kollegen von der Augsburger Allgemeinen : „Was heißt ´chill` auf deutsch?“ Dessen Antwort: „Mir geht es genauso. Das Wort kann man hier mit ´Gänsehaut` umschreiben“. Darauf Marshall noch einmal: „Was hier gerade verkündet wurde, ist die Rücknahme fast aller Ergebnisse von Teheran, Jalta und Potsdam. Ihr Deutschen habt im Nachhinein den Krieg gewonnen“.

Präsident Michail Sergejewitsch Gorbatschow ©seppspiegl

Was in jenen Juli-Tagen vor mittlerweile 33 Jahren erst an der Wolga und dann im Kaukasus für das 40 Jahre lang geteilte Deutschland und seine Bürger erreicht wurde, soll hier nicht noch einmal aufgezählt werden. Obwohl es nicht selten den Anscheint hat, als hätten die Deutschen (und keineswegs nur die jungen) längst vergessen, verdrängt oder gar nicht erst zur Kenntnis genommen, was ihnen damals an Freiheit, Sicherheit, Wirtschaft und politischem Einfluss geschenkt worden war. Allerdings besiegelte das Ringen in der Kaukasus-Datscha um – bei Weitem nicht nur – Deutschlands Zukunft eine von da an lebenslange Freundschaft zwischen zwei bedeutenden Männern. Eine Freundschaft, nach der es zunächst fdreilich überhaupt nicht aussah. Denn während Mitte der 80-er Jahre der junge, neue Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion im Westen recht schnell in den Ruf eines „Hoffnungsträgers“ gelangte, langte ausgerechnet Helmut Kohl rhetorisch erst einmal ordentlich zu. In einem (autorisierten) Interview mit dem US-Magazin Newsweek gestand der Kanzler dem neuen Mann im Kreml zwar die Fähigkeit zu, erfolgreich Öffentlichkeitsarbeit – also Public Relation – zu betreiben. Aber das sage überhaupt noch nichts über dessen politischen Absichten aus. Denn: „Goebbels verstand auch was von PR“. Joseph Goebbels, für historisch weniger Kundige, war Hitlers Chefpropagandist. Kein Wunder, dass danach die deutsch-sowjetischen Beziehungen erst einmal für geraume Zeit auf Eis lagen und die Diplomaten alle Hände voll zu tun hatten, um wieder für freundlicheres Klima zu sorgen.

Der Fluss lässt sich nicht ewig stauen…

Kohl hatte diese Entgleisung sehr rasch bedauert. Eigentlich, so betonte er immer wieder, habe er sie auch gar nicht negativ verstanden haben wollen. Was ihm bei der folgenden Annäherung half, war seine Fähigkeit, es im Umgang miteinander „menscheln“ zu lassen. Und bei Gorbatschow traf er auf einen Gleichgesinnten. Beide Männer waren etwa gleich alt – der Russe Jahrgang 1931, der Deutsche Jahrgang 1930. Beide waren in ihrer Kindheit nicht auf Rosen gebettet, alle zwei haben die Schrecken des Krieges erlebt. Der eine die deutsche Besatzung, der andere verlor noch in den letzten Tagen des Völkermordens seinen Bruder. Auf dem Rückflug vom Kaukasus erzählte der Pfälzer zum wiederholten Male, wie er beim Deutschland-Besuch Gorbatschows im Sommer 1989 mit seinem Gast des abends durch den Park des Kanzleramts bis an die Mauer geschlendert sei, an der nur wenige Meter entfernt der Rhein entlang fließt. Kohl sprach von der deutschen Teilung und der Sehnsucht der Menschen wieder zueinander zu kommen. Diese Sehnsucht verglich der Kanzler mit dem da draußen fließenden Strom. Man könne ihn stauen, doch eines Tages werde er überfließen, und das werde auch bei immer höheren Mauern passieren. Diese Parabel, berichtete der Kanzler habe Gorbatschow sehr nachdenklich gemacht.

Michail Sergejewitsch Gorbatschow und Bundeskanzler Helmut Kohl ©seppspiegl

Helmut Kohl war keineswegs der einzige Deutsche, der seine Worte zu Gorbatschow am liebsten ziemlich schnell wieder unausgesprochen gemacht hätte. Bei jenem Besuch, auf dem „Gorbi“ in Bonn von einer kaum zu überschauenden Menschenmenge zugejubelt wurde, gab es auch einen Empfang im historischen Rathaus. Dabei hielt der damalige Bonner Oberbürgermeister Hans Daniels eine Rede, in der er die bloße Stellvertreter-Rolle Bonns als Hauptstadt hervorhob. Und die Sehnsucht betonte, diese Rolle wieder an Berlin abgeben zu können. Das arme Stadtoberhaupt konnte ja nicht ahnen, wie dramatisch schnell die Dinge sich entwickeln und sich schon zwei Jahre später im Deutschen Bundestag Mehrheiten zugunsten eines Umzugs an die Spree bilden würden. Hans Daniels jedenfalls hätte diesen Teil seiner Rede liebend gerne wieder verschluckt…

Noch einmal über den Parteitag gerettet

Nach dem denkwürdigen Ereignis im Kaukasus dauerte es gar nicht lange, bis der deutsche Kanzler seinem sowjetischen Kollegen zur Seite springen musste – und zwar als Nothelfer im Sinne des Wortes. Dem im Ausland gefeierten sowjetischen Staats- und Parteichef geriet die innenpolitische Lage immer mehr zum Chaos. Die Wirtschaft kollabierte, es kam zu großen Versorgungsschwierigkeiten, die ursprünglich – wegen der ungewohnten Freiheiten – positive Stimmung drohte zu kippen. In Moskau stand im Juli ein Parteitag vor der Tür, dessen Delegierte angesichts der schweren Krise die Daumen zu senken drohten, ja sogar ein Putsch nicht auszuschließen war. Das einstige, scheinbar allmächtige Riesenreich war pleite, praktisch zahlungsunfähig. In dieser Situation verschafften die Deutschen dem Kreml-Chef noch einmal Luft mit einem – vom Bund verbürgten – 5-Milliarden-Mark-Kredit. Zusammen  mit den Zahlungen als Hilfe für die Rückführung der sowjetischen Truppen, den Wohnungsbau für die heimkehrenden Soldaten, Lebensmittel-Lieferungen usw. beliefen sich die Bonner Zahlungen und Unterstützungen im September 1990 auf rund 20 Milliarden Mark. Eine stolze Summe, keine Frage. Theo Waigel, seinerzeit Bundesfinanzminister, sah das freilich ganz anders. Und tut das noch heute: „Ein billiger Preis, um dafür die Wiedervereinigung zu bekommen“.

v.l.n.r.: Helmut Kohl, Michail Gorbatschow, Raissa Maximowna Gorbatschowa und Hannelore Kohl, beim Empfang auf Schloß Bruehl ©seppspiegl

Der Schnellkredit half, den wankenden Gorbatschow noch einmal über den Parteitag zu retten. Völlig vergessen, weil leider auch nicht umgesetzt, ist freilich ein anderes Ereignis aus jenen Tagen. Am 5. Juli 1991 war Helmut Kohl für einen Tag zu Gorbatschow nach Kiew geflogen. Bei diesem Treffen sollte, so hatten es sich kluge Leute ausgedacht, ein Projekt ausgehandelt werden, von dem beide Seiten zu profitieren hofften. In groben Strichen skizziert, sah dieses so aus: Die Bundesregierung stellt – durch Hermes-Bürgschaft abgesichert – der Sowjetunion und den Mitgliedländern der einstigen östlichen Wirtschaftsgemeinschaft COMECON rund 30 Milliarden Mark Kredit zur Verfügung, mit denen Sie von den ehemaligen „Volkseigenen Betrieben“ (VEB) in Ostdeutschland noch für geraume Zeit dringend benötigte Ersatzteile kaufen können. Das, wiederum, versetzt die für den Weltmarkt völlig veralteten Betriebe zwischen Elbe und Oder in die Lage, zunächst weiter zu produzieren und den notwendigen Strukturwandel „sanft“ und für die Beschäftigten sozial zu gestalten. Also Massenarbeitslosigkeit zu vermeiden.

Die Freundschaft blieb erhalten

Präsident Michail Sergejewitsch Gorbatschow ©seppspiegl

Wie man weiß, wurde daraus nichts. Kurze Zeit nach dem Treffen in Kiew putschte das Militär gegen Michail Gorbatschow, der daraufhin zunächst die Hälfte der Macht an seinen Retter, Boris Jelzin, abgeben und schließlich ganz abtreten musste. Was allerdings hielt, war die Freundschaft mit Kohl. Diese bewährte sich nicht zuletzt in jener Zeit, in der bei Gorbatschows geliebter Frau und wichtigster Stütze eine seltene, besonders gefährliche Art von Leukämie festgestellt wurde. Auf Vermittlung des (inzwischen ebenfalls nicht mehr im Amt befindlichen) Ex-Kanzlers kam Raissa Gorbatschowa in eine Spezialabteilung der Universitätsklinik Münster, wo sie allerdings trotz aller Bemühungen der Ärzte am 20. September 1999 starb. Damit aber endete keineswegs das ganz offensichtlich immer enger werdende Verhältnis des einstigen, mächtigen Kreml-Chefs zu Deutschland. In Rottach-Egern, am Tegernsee, kaufte er sich irgendwann ein Haus (na ja, der Begriff Villa träfe vermutlich eher zu) und verbrachte dort regelmäßige Ferien. Das Anwesen ist mittlerweile verkauft. Aber Gorbatschows Tochter Irina mit ihren beiden Töchtern lebt weiterhin in Deutschland.

Es ist dies die Beschreibung von Erlebnissen aus einer scheinbar fernen Zeit. Dabei sind nur etwas mehr als 30 Jahre vergangen. Aber halt drei Jahrzehnte, in denen Weltgeschichte geschrieben wurde, in den sich Sehnsüchte von Menschen erfüllten, neue geweckt wurden und – wie zur Zeit – andere zerstoben oder brutal im Bombenhagel endeten. Im Hagel jener Bomben und Raketen, die ein Nachfolger ausgerechnet des Mannes abfeuern lässt, der einst selbst eine bessere Welt und ein gemeinsames Haus Europa erträumte…

  Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.

     

 

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