Rituale statt Wissenschaft

Die Rechte nutzt radikale progressive Forderungen dazu, Gesellschaften zu polarisieren. Linke Aktivisten machen es ihr dabei einfach.

© Alexander Grey auf Pixabay.com

Viel ist in den letzten Jahren über den „Kulturkrieg“ in Westeuropa und Nordamerika geschrieben worden. Geführt wird dieser Krieg von populistischen Konservativen, und ihre verbalen Waffen sind Kampfbegriffe wie „politische Korrektheit“, „Cancel Culture“, „Wokeness“, „Kulturmarxismus“, „Gender-Ideologie“ und „Critical Race Theory“. Damit wird suggeriert, die mit diesen Begriffen beschworenen Dämonen hätten sich von der Normalbevölkerung und ihrem vermeintlichen Wertekanon weitgehend abgekoppelt.

Gegen die von Konservativen geschwungenen Begriffskeulen setzen viele Aktivistinnen und aktivistische Wissenschaftler sich dadurch zur Wehr, dass sie jede Kritik an ihren im Namen der sozialen Gerechtigkeit geltend gemachten Forderungen abtun – und behaupten, diese Kritik sei Ausdruck einer jahrhundertealten Kultur der Repression und Privilegienbewahrung oder, wenn sie aus dem linken Spektrum kommt, eines Einvernehmens mit den Rechten. Mit den Jahren zeigt sich jedoch immer deutlicher, dass die Kritik an der „Identitätspolitik“ oder „Intersektionalität“ nicht so leicht von der Hand zu weisen ist, wenn sie von progressiver Seite geäußert wird – also von Marxisten, Liberalen, Feministinnen sowie Verfechterinnen und Verfechtern der Schwulen- und Lesbenrechte.

Die antipluralistische Rechte nutzt die radikalsten progressiven Forderungen im Westen dazu, antidemokratische Maßnahmen zu legitimieren.

Ich habe die Diskurse verglichen, mit denen die extreme Rechte in Deutschland und die illiberale Rechte in Ungarn über das Thema „Gender“ sprechen: Die antipluralistische Rechte nutzt die radikalsten progressiven Forderungen im Westen dazu, antidemokratische Maßnahmen zu legitimieren. Indem diese radikal-progressiven Forderungen zu sehr auf das „situierte Wissen“ abheben und Gender auf eine Frage der subjektiven Identität reduzieren, liefern sie den autoritären Rechten ein bequemes Feindbild und bedienen das Klischee vom „dekadenten“ Westen, der die Bodenhaftung verloren hat. Hinzu kommt, dass diesen progressiven Positionen die Verankerung in einem universellen Normensystem fehlt. Diese Verankerung bräuchten sie aber, um die ebenso partikularistischen Gegenpositionen der autoritären Rechten infrage stellen zu können, die sich auf „traditionelle Werte“, den „Osten“ und die eigene „Außenseiter“-Rolle berufen.

Im Kern geht es bei dieser Auseinandersetzung um die „Meinungsfreiheit“ an den Hochschulen. Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik ist in der Tat vertrackt. Die beiden Sphären lassen sich nicht so leicht voneinander trennen, wie „wertfreie“ Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen uns weismachen wollen.

Im Kern geht es bei dieser Auseinandersetzung um die „Meinungsfreiheit“ an den Hochschulen.

Zu Recht kritisieren die Soziologinnen Sarah Speck und Paula Villa „die Verflechtung von Politik und Wissenschaft, auch wenn sie auf guten und fortschrittlichen Absichten beruht“. Als Beispiel nennen sie „Dozentinnen und Dozenten oder Studierende, die nicht zwischen einem Universitätsseminar und dem Training für eine Aktion unterscheiden“, und ausschließlich nach „politischen Präferenzen zusammengestellte Lektürelisten“ oder eine „Forschung, die ihre Fragestellungen und Kategorien bedenkenlos aus einer aktivistischen Agenda entlehnt“. Forschung, so Speck und Villa, müsse „aufgeschlossen und von allzu direkten politischen Nützlichkeitserwägungen frei bleiben“.

Von hier gibt es eine Querverbindung zu den Einsichten einiger Autorinnen und Autoren, die kürzlich in einer deutschen Philosophiezeitschrift über „Cancel Culture“ debattierten. Konsens sollte sein, dass in einer demokratischen Gesellschaft kein sexistischer, rassistischer, homo- oder transphober Sprachgebrauch geduldet werden darf. Was diese Begriffe heute konkret bedeuten, ist allerdings selbst Gegenstand einer Debatte, die nicht autoritär unterbunden werden sollte.

Konsens sollte sein, dass in einer demokratischen Gesellschaft kein sexistischer, rassistischer, homo- oder transphober Sprachgebrauch geduldet werden darf.

Solche Einsichten werfen zentrale Fragen auf, die heftig kontrovers diskutiert werden. Auf welchem Terrain sollen wir für Ideale kämpfen, die uns am Herzen liegen? Wie viel Pluralismus ist denkbar und sogar geboten, wenn Ungerechtigkeiten (wie wir sie verstehen) jetzt sofort aufhören müssen? Sind eine Fehlinterpretation von Antonio Gramscis Hegemoniebegriff (als bloße Dominanz und nicht als gesicherter Konsens) und die daraus abgeleitete Meinung, jede auf Argumenten und Überzeugungen aufbauende Strategie sei eine Kapitulation vor den Mächtigen, tatsächlich der richtige Weg, um Gerechtigkeit für die Angehörigen bislang marginalisierter und unterdrückter Gruppen zu erreichen? 

Außerdem fragt sich: Was geschieht eigentlich, wenn die politischen Forderungen derer, die sich als Vertreter unterdrückter Gruppen verstehen, sich gegenseitig widersprechen? Und wie geht man verantwortungsvoll mit der eigenen Macht um – etwa als Hochschullehrerin und Hochschullehrer oder als jemand, der eine führende Position in der öffentlichen Verwaltung oder in den Medien bekleidet?

In bestimmten Zusammenhängen haben sich bei manchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die aktivistisch agieren, die Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit so sehr verfestigt, dass sie mit religiösen Dogmen vergleichbar sind.

In bestimmten Zusammenhängen haben sich bei manchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die aktivistisch agieren, die Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit so sehr verfestigt, dass sie mit religiösen Dogmen vergleichbar sind. Für Magdalena Grzyb ist die „queere Version von LGBTQ+“ eine solche „neue säkulare Religion“. Einige Forderungen und Praktiken lassen sich durchaus in die Nähe des Fanatismus rücken – wenn zum Beispiel „Rituale, Glaubensakte und Bekenntnisse eingeführt werden, Gewalt gegen Gegner legitimiert wird, wenn Konzepte wie der Begriff der Geschlechtsidentität, der der katholischen Vorstellung von einer metaphysischen Seele täuschend ähnelt, sakralisiert werden und Häretiker (also Schwule oder Transsexuelle, die sich kritisch äußern, und Lesben, die sich gegen die Dekonstruktion der Kategorie ‚Frau‘ wehren) ausgegrenzt werden und noch schlechter angesehen sind als unverhohlene Feinde“. 

Solche religiösen Einstellungen können eine immunisierende Wirkung gegen alternative Argumente haben, aber wenn Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner in Gläubige und Ketzer eingeteilt werden, kann das der akademischen Forschung und der offenen politischen Debatte schaden. Wie Mark Fisher 2013 in einem überzeugenden Essay dargelegt hat, drückt diese Art des Moralisierens sich vor der mühsamen politischen Arbeit, die eine linke Politik und der Kampf für die gerechte Sache erfordern, und verlegt sich stattdessen auf eine Ersatzhandlung. Diese besteht darin, dass die richtige Position zu einem bestimmten Thema lautstark verkündet wird und diejenigen, die nicht mitziehen, drangsaliert und schikaniert werden.

Dass jemand im Kulturkampf auf der „richtigen Seite“ steht, wird zum Beispiel durch die Verwendung gendergerechter Formulierungen und Pronomen signalisiert. Die Verwendung der Pronomen „er/ihn“ oder „sie/ihr“ (in E-Mail-Signaturen, bei Online-Meetings usw.) soll, auch wenn die schreibende Person sich selbst nicht als trans oder nicht-binär identifiziert, die Stigmatisierung dieser Gruppen als „Andere“ beenden. Das ist jedoch mehr als bloße Höflichkeit, denn es vermittelt darüber hinaus auch eine ganz bestimmte Ideologie: Mein Geschlecht ist mir nicht anzusehen; damit es für andere erkennbar wird, braucht es einen Sprechakt.

Der emeritierte Journalistikprofessor Robert Jensen vergleicht diese in westlichen Universitäten und multinationalen Unternehmen inzwischen weit verbreitete Praxis mit der Tradition, eine Zusammenkunft mit einem Gebet zu eröffnen. Jemandem diese Einstellung aufzuzwingen, ist eine Verletzung der Gewissensfreiheit und somit ein fundamentalistischer Akt.

Durch die akademischen Normen, die vom Westen (und insbesondere von den USA und Großbritannien) vorgegeben werden, sowie durch internationale Geldgeber, Nichtregierungsorganisationen und Unternehmenskulturen werden all diese Praktiken nach Osteuropa und in den globalen Süden exportiert. Dort werden sie unter Umständen von den heimischen Eliten übernommen, die „sich damit bei den westlichen Eliten den nötigen moralischen Kredit verschaffen wollen, damit sie von ihnen akzeptiert werden“. Oder aber diese Praktiken provozieren – weil sie im heimischen kulturellen Umfeld und der dortigen politischen Vorstellungswelt in keiner Weise verwurzelt sind – entsprechende Gegenreaktionen und werden von weniger fortschrittlichen politischen Akteuren instrumentalisiert.

Die Akademikerschaft und die Aktivisten, die sich der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet fühlen, sollten solche Widerstände nicht als Indikatoren für Rückständigkeit betrachten, sondern maßvoller und besonnener an die Thematik herangehen.

Dies ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.

Aus dem Englischen von Christine Hardung

Eszter Kováts ist Post Doc Assistentin im Forschungsbereich Politik und Geschlecht am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Sie hat in Politikwissenschaft an der Universität ELTE in Budapest promoviert. Von 2012 bis 2019 war sie für das ostmitteleuropäische Genderprogramm der Friedrich-Ebert-Stiftung verantwortlich.

 

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