Vom Aufstieg und Niedergang der Volksparteien
Als Lesebuch unseren Volksvertretern empfohlen
Von Harald Bergsdorf
Aktuell wachsen Inflations-, Abstiegs- und Zukunftsängste in Deutschland. Das zeigen Repräsentativumfragen. Gerade steigende Energie- und Lebensmittelpreise beunruhigen zahlreiche Menschen konkret in ihrem Alltag, darunter viele Leute aus dem schlechter gestellten Milieu, aber auch aus der so genannten gesellschaftlichen Mitte. Im Sorgenkatalog der Deutschen rangiert das Inflationsthema derzeit sogar auf dem ersten Platz – noch vor Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine, vor Migration und Klimawandel.
Zwar sieht die Mehrheit der Deutschen die Substanz ihres Wohlstandes aktuell nicht gefährdet. Bislang droht tatsächlich auch keine Massenarbeitslosigkeit; die deutsche Wirtschaft leidet momentan vielmehr unter einem massiven Mangel an Fach- und ungelernten Arbeitskräften. Doch gerade viele Betriebe mit energieintensiver Produktion befürchten nun mit ihren Beschäftigten, nach bislang schon zwei Corona-Wintern, einen wirtschaftlichen Niedergang. Das gilt ebenfalls für andere Unternehmen, die eine massive Kaufzurückhaltung wegen der Inflation erleben oder erwarten. Allerdings kann, um gegenzusteuern, der Staat wegen gestiegener Zinsen kaum übermäßig Schulden aufnehmen.
Wer profitiert von der Krise?
Ob sich die Lage in den kommenden Monaten weiter verschärfen wird und ob davon eher Extremisten verschiedener Couleur oder demokratische Parteien (mit wahrgenommener Wirtschaftskompetenz) profitieren werden, lässt sich aktuell kaum präzise prognostizieren. Umso wichtiger bleibt es gerade in Krisenzeiten, kontinuierlich durch Repräsentativumfragen zu analysieren, wie die verschiedenen Segmente der Gesellschaft das wirtschaftliche, soziale und politische Geschehen wahrnehmen und bewerten. Manfred Güllner, erfahrener und bekannter Demoskop, präsentiert dazu aktuell sein Buch „Der vergessene Wähler. Vom Aufstieg und Fall der Volksparteien“.
Darin geht es ihm darum, tiefergehend zu untersuchen, wer wen warum wählt. Deshalb will er nicht nur die sozialstrukturelle Zusammensetzung der jeweiligen Wahlangebote analysieren, sondern auch herausfinden, welche Interessen und Befindlichkeiten die Wähler zur Stimmabgabe für eine bestimmte Partei führen oder von ihr entfernen. Zum Beispiel bei der Bundestagswahl 2021 und in den Jahrzehnten davor. Bereits dieser Ansatz Güllners scheint ungewöhnlich und gerade in Krisenzeiten hilfreich, um die diversifizierte und wechselhafte Wählerschaft besser zu verstehen.
Schon Adenauer schaute dem Volk aufs Maul
Schon Konrad Adenauer interessierte sich, wie Güllner erinnert, intensiv für Demoskopie. Auf Basis von Umfragen setzte der „Alte“, im Kontrast zu seinen Konkurrenten, strategisch weniger auf abstrakt-moralische Themen, sondern eher auf konkrete Ziele, darunter Wirtschaftskompetenz und die ökonomische Entwicklung. Daran war die Mehrheit damals, wenig überraschend, stark interessiert. Mit der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und der steigenden Zufriedenheit der Mehrheit wuchs daher auch die Zustimmung zu Adenauer. Gerade auch deshalb, weil der Kanzler die politische Stimmung, u.a. durch demoskopische Analysen, genauer eingeschätzt und entsprechend kampagnefähige Themen gesetzt hatte, gewann er laut Güllner die ersten Bundestagswahlen.
1957 förderte dann u.a. die Rentenerhöhung für sechs Millionen Deutsche erneut den Wahlsieg Adenauers. Sogar mit absoluter Mehrheit. Dass der erste Kanzler – und später auch Helmut Kohl – freilich auch immer wieder bereit und entschlossen waren, gegen starke Widerstände in der Bevölkerung wichtige Entscheidungen durchzusetzen und (vorübergehend) Popularitätsverluste hinzunehmen, zeigen das Luxemburger Abkommen („Wiedergutmachung“), die Wiederbewaffnung, die NATO-Nachrüstung und der Beschluss des Euro. Umfragen ähneln als Momentaufnahmen letztlich eben eher einem Seismographen als einem Kompass. Die SPD hingegen interessierte sich, wie Güllner analysiert, in den 50-er Jahren weniger für Demoskopie (also, einfach gesagt, dem Volk aufs Maul zu schauen) und schien seinerzeit auch deshalb auf dem Weg zur Volkspartei weniger vorangekommen – sowohl programmatisch als auch sozialstrukturell.
Der soziale Strukturwandel
Später, nach ihrer „Godesberger“ Modernisierung, sank der Arbeiteranteil nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Partei, unter ihren Funktionären und unter ihren Wählern rasant. Zu den Ursachen für die wachsende Marginalisierung von Arbeitern in der SPD in den 70-er Jahren gehörten massive Mitgliedergewinne der Partei, nicht zuletzt ein großer Anteil akademisierter und gleichzeitig eher links-ideologisierter „Bürgerkinder“ aus Beamten- und Pfarrerhaushalten mit hoher Distanz zu den Realitäten etwa in Kleinbetrieben und Industrie. Gerade daraus resultierte die Entfernung der Partei von pragmatischen Lösungen, von der politischen Mitte und damit von einstigen Stammwählern, wie Güllner darlegt.
Nicht zuletzt deshalb konnten die Unionsparteien die SPD ab Mitte der 70er Jahre bei Bundestagswahlen wieder deutlich überflügeln – auch wenn sie, weil ihnen ein Koalitionspartner fehlte, bis 1982 den Sozialdemokraten als zweitstärkster Partei das Kanzleramt überlassen mussten. Essentiell für Wahlerfolge einer Volkspartei und damit die Stabilität der gesamten Demokratie nennt Güllner mit guten Gründen einen Kurs der politischen Mitte, der reale Probleme der Mehrheit wahrnimmt und darauf mit differenzierter Politik reagiert. Deshalb gehöre es zu den Hauptaufgaben sowohl der CDU/CSU als auch der SPD, jeweils bei Arbeitnehmern und Arbeitgebern hohe Zustimmung zu erringen.
„Sozialdemokratisierung“ der Union?
Besonders zu Zeiten von Angela Merkel als CDU-Chefin erklang der Vorwurf einer „Sozialdemokratisierung“ der Union. Die Urheber verkennen dabei allerdings die ureigene Identität von CDU und CSU als Arbeiterparteien. Tatsächlich gewannen die Unionsparteien bei mehreren Bundestagwahlen einen höheren Stimmenanteil unter Arbeitern als die SPD; umgekehrt allerdings errang die SPD phasenweise erhebliche Zustimmung unter Betriebsinhabern. Fatal wäre es hingegen, warnt Güllner, wenn die (ehemaligen) Volksparteien sich jeweils übermäßig auf Randthemen konzentrierten. Vielmehr bleibe es für CDU/CSU und SPD bedeutsam, zentrale Themen nicht unter den Teppich zu kehren, sondern diese differenziert und deutlich aufzugreifen. Zum Beispiel die Integration von Migranten und den Klimawandel, aber eben auch wirtschaftlich-soziale Herausforderungen.
So bemerkt Güllner über die Reformpolitik Gerhard Schröders: „Anders als bis heute in weiten Teilen der SPD gemutmaßt, brachte nicht der Schröder´sche Modernisierungskurs die SPD in Schwierigkeiten, sondern die mangelnde Unterstützung dieses Kurses durch die SPD“. Infolgedessen verloren die Sozialdemokraten, die Güllner besser kennt als andere Parteien, nach 1998 wieder massiv insbesondere an wahrgenommener Wirtschaftskompetenz und an Geschlossenheit. Hingegen blieb, im Widerspruch zu Kritikern der damaligen Reformpolitik, die wahrgenommene Kompetenz der SPD für soziale Gerechtigkeit seinerzeit stabil.
Geschlossenheit und Einheit in Vielfalt
CDU/CSU errangen in der Geschichte der Bundesrepublik ebenfalls vor allem dann Wahlerfolge, wenn sie einen Kurs der politischen Mitte fuhren, sich also programmatisch und personell „plural“ aufstellten und sowohl christlich-soziale („Herz-Jesu-Marxismus“) und liberale als auch konservative Akzente setzten – im Sinne einer Einheit in Vielheit. Wie wichtig, bei aller internen Diskussionsfreude, insbesondere personelle Geschlossenheit für Wahlerfolge von Volksparteien ist, demonstrierte die jüngste Bundestagswahl deutlich. Wenig hilfreich wäre es hingegen, CDU/CSU einseitig konservativ aufzustellen und auszurichten, was Kritiker Angela Merkels fordern.
Das wäre eine Strategie, um CDU/CSU in Marginalparteien zu verwandeln, wie gerade Matthias Jung, ein anderer prominenter Meinungsforscher, seit langer Zeit warnt. Denn CDU/CSU verlieren aufgrund ihrer eher älteren Wählerschaft erfahrungsgemäß zwischen zwei Bundestagswahlen durch Tod jeweils eine Million Wähler. Um ihre Wahlergebnisse auch nur zu halten, müssen sie daher jeweils bei Wahlen üblicherweise eine Million Stimmen zusätzlich einfahren. Allein deshalb müssen sie fest in der politischen Mitte verankert bleiben, wo die mit Abstand meisten (Wechsel-) Wähler zu gewinnen sind, darunter mehrheitlich Normalbürger, also keine sogenannten Besserverdiener.
Brandthema Innere Sicherheit
Zu den inhaltlichen Topthemen der politischen Mitte gehört der Kampf u.a. gegen Einbrüche, Raub, Raser, Drogen und Gewalt bis hin zu Mord und Totschlag. Also die Innere Sicherheit. Trotz gebiets- und zeitweise sinkender Zahlen an Straftaten bzw. einzelner Deliktarten zählt hohe Kriminalität aus Sicht vieler Leute mancherorts zu den realen Problemen. Deshalb ist es bedeutsam, Bürger wirksam vor Verbrechen zu schützen. Das gehört zu den Hauptaufgaben einer rechtsstaatlichen Demokratie. Hier gilt es darum eben auch, haushaltspolitische Prioritäten zu setzen. Denn vor allem im schwachen Staat erklingen Rufe nach einem „starken Mann“, nach einfachen Lösungen und nach „gated communities“.
Im Unterschied zu früheren Zeiten bedrohen heute keine staatlichen, sondern primär private Verbrecher die Freiheit und Sicherheit münden Ohne Sicherheit würde Freiheit letztlich in Anarchie und Sozialdarwinismus. Das wäre auch höchst unsozial. Denn gerade schwächere Menschen, darunter Kinder, Frauen und Ältere, leiden, wenn der Staat im Kampf gegen Kriminalität größere Schwächen zeigt. „Kleine Leute“ sind immer besonders betroffen. Denn während Höherverdiener abends nach Opern-, Konzert- oder Kinobesuch üblicherweise mit dem Taxi oder dem eigenen PKW nach Hause fahren können, müssen Geringverdiener in der Regel den Bus nutzen oder zu Fuß oder mit dem Fahrrad unsichere Orte bzw. „Angsträume“ überwinden. Dazu zählt, nicht zu vergessen, auch das Krankenpflegepersonal nach der Spätschicht.
Es geht um die Stärke des Rechts
Gegen das Recht des Stärkeren gilt es deshalb, die Stärke des Rechts durchzusetzen. Umso wichtiger ist es für die Volksparteien, durch differenziert-konsequente Politik als kompetent in Fragen der öffentlichen Sicherheit zu gelten. Güllner hat ein sowohl empirisch fundiertes als auch meinungsfreudiges Buch vorgelegt. Der Band bietet eine gute Grundlage für weitere Debatten in Politik und Politikwissenschaft über die Zukunft gerade der Volksparteien in Deutschland.
Manfred Güllner:
Der vergessene Wähler
Nomos-Verlag Baden-Baden 2022, € 19,95.
Harald Bergsdorf ist Politikwissenschaftler aus Bonn mit Schwerpunkten Parteiendemokratie, Extremismus, Terrorismus und Zeitgeschichte.