Von Wolfgang Bergsdorf

Prof. Wolfgang Bergsdorf

Bundespräsidenten und Vorstandsvorsitzende, Geschäftsführer und Vereinsverantwortliche nutzen die „Tage zwischen den Jahren“, um das zu Ende gehende Jahr für ihren Verantwortungsbereich zu bilanzieren und einen prognostischen Blick auf das kommende Jahr zu werfen. Entwicklungen und Ereignisse werden rekapituliert, Forderungen gestellt, Ermahnungen erteilt. Die berühmtesten Bilanz-Reden sind die jeweils im Fernsehen übertragenen Weihnachtsansprachen des Bundespräsidenten und die Silvester-Adresse des Bundeskanzlers, die den Zuschauern Hoffnung machen und Zuversicht für das neue Jahr vermitteln sollen. Dies geschieht in wohlgesetzten und wohlüberlegten Worten, in denen dem üblichen Politjargon abgeschworen wird, damit es vielen Menschen ermöglicht wird, diese Ansprachen zu verfolgen.

Diese Texte sind regelmäßig sehr subjektiv. Der persönliche Blick auf die Geschehnisse des abgelaufenen Jahres dominiert. Eine andere, deutlich weniger subjektive Bilanzierung des Jahres, bieten die Daten der Umfrageforschung. Sie fragt systematisch und periodisch eine die Gesamtbevölkerung repräsentierende Anzahl von Bürgern nach ihren Meinungen zu bestimmten Themen und ihren Wahlabsichten. An diesem Jahresüberblick kann der Kundige einen Sorgenkatalog der Menschen im Land entwickeln, ihre Bewertung von Ereignissen nachvollziehen und eine Prognose für die Wahlchancen der Parteien ausarbeiten. Thomas Petersen hat in der Weihnachtswoche in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (21.12.2022) für das renommierte demoskopische Institut Allensbach unter dem Titel „Ein Funken Hoffnung“ eine interessante Jahresbilanz gezogen, auf die im Folgenden immer wieder Bezug genommen wird.

Petersen, der an der Universität Dresden Politikwissenschaft lehrt, gehört seit Jahrzehnten zu den führenden Mitarbeitern dieses Institutes, das 1947 von Professor Elisabeth Noelle-Neumann („Pythia vom Bodensee“) gegründet und heute von Professor Renate Köcher geleitet wird. Dieses Institut versendet seit vielen Jahrzehnten zum Jahresende eine Weihnachtskarte, die Auskunft gibt, ob die Bevölkerung dem neuen Jahr mit Hoffnungen oder mit Befürchtungen entgegensieht. Weil eine deutliche Mehrheit der Deutschen das Jahr 2022 als annus horribilis (also schreckliches Jahr) wahrgenommen hat, gibt es für 2023 mehr Hoffnung.

Diese Frage nach den Hoffnungen und Befürchtungen wird seit Jahrzehnten gestellt. So kann eine Zahlenreihe wie eine Fieberkurve des Optimismus seit den fünfziger Jahren erstellt werden. Es gibt nicht wenige Beobachter, die diese Jahresabschlussdaten als wirkliches Stimmungsbarometer bewerten und an ihm ihre finanziellen Dispositionen für das kommende Jahr ausrichten. 2022 war jedenfalls das Jahr, das durch eine Vielfach-Krise gekennzeichnet wurde: durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und den überraschend erfolgreichen Widerstand der Ukrainer, durch eine neue Variante des Corona-Virus, die trotz leichterer Krankheitsverläufe unser Gesundheitssystem an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gebracht hat. Hinzu kam die Explosion der Energiekosten als Konsequenz der kriegsbedingten Neuorientierung der Lieferquellen, der unerwartete Anstieg der Inflation, der zu einem guten Teil den Energiekosten und damit dem Krieg geschuldet ist. Schließlich gehört auch der Kampf gegen die Erderwärmung in die politische Bilanz des vergangenen Jahres, dessen mäßiger Erfolg ebenfalls dem Krieg angelastet werden kann.

Die Last der politischen Probleme des jetzt auslaufenden Jahres war so groß, dass es in den verschiedenen Problemfeldern einiger Entlastung bedarf, um die kommenden zwölf Monate am Ende als besser zu bewerten. Die Allensbacher Demoskopen stellen seit 1996 die Frage: „Finden Sie, dass die Verhältnisse in Deutschland heute Anlass zur Beunruhigung bieten oder finden Sie das nicht?“ Damals fanden 73 Prozent der Bevölkerung, dass die Verhältnisse Anlass zur Beunruhigung boten. 2010 war der Wert auf 51 Prozent gesunken. Corona trieb ihn 2021 wieder hoch auf 65 Prozent, im Oktober 2022 erreichte die Beunruhigung mit 80 Prozent ihren bisherigen Höchststand. Im Dezember fiel sie wieder auf 73 Prozent zurück.

Interessant ist, was als Gründe für die Beunruhigung genannt werden: mit 36 Prozent steht die Angst vor der Inflation an erster Stelle, gefolgt vom Ukraine-Krieg mit 25 von Hundert. Die Sorge um Engpässe in der Energieversorgung oder das Thema Einwanderung folgen mit jeweils mit 10 bzw. 9 Prozent. Alle anderen Themen spielen im Sorgen-Katalog der Bevölkerung kaum eine Rolle: jeweils 5 Prozent sorgen sich um die Kriminalität und um den Klimawandel, 4 Prozent haben Angst vor politischer Radikalisierung.

Diese Reihenfolge verdeutlicht, dass die von den Medien bevorzugten Themen nur bedingt etwas mit dem Sorgen-Katalog der Bevölkerung zu tun haben. Man kann die unterschiedliche Bewertung der Probleme durch die Medien einer- und die Bevölkerung andererseits als Spannungsverhältnis bewerten. Dies ist für eine demokratische Gesellschaft normal, solange diese Diskrepanz nicht destruktiv wird. Destruktiv ist die Diskrepanz zwischen Medieninhalten und Bevölkerungsmeinung zum Beispiel beim Thema „Gendern“, dessen Priorität – völlig anders als in den Zeitungen, im Radio und Fernsehen – im Sorgen-Haushalt der Bevölkerung überhaupt keine messbaren Werte aufweist. So beschädigt das öffentlich-rechtliche Mediensystem ganz sicher seine eigene Glaubwürdigkeit, weil das Gendern an den Bedürfnissen der Gesellschaft total vorbei geht. Es gibt den Verantwortlichen in den Rundfunkanstalten nicht einmal zu denken, dass die privaten Medienunternehmen, Zeitungen wie Fernsehen, auf die Verunstaltung der Sprache durch Gendern verzichten.

Nun stehjt die Umfrageforschung in keinem allzu hellen Licht in Deutschland. Manche Kritiker werfen ihr die Absicht vor, den politischen Prozess zu manipulieren, dem jeweiligen Auftraggeber nach dem Munde zu reden und unseriöse Erhebungsmethoden zu benutzen. Diese Vorwürfe werden manchmal zu Recht gegen bestimmte Institute, gegen einzelne Ergebnisse oder deren Interpreten erhoben. Aber ebenso oft sind sie unzutreffend, wenn die Institute sich aller Regeln ihrer Kunst bedienen, ihre Einzelergebnisse (die allein keine Aussagekraft haben) in systematische Zusammenhänge und vor allem in Zeitreihen stellen, mit denen auch die Detailerhebungen Aussagekraft gewinnen können.

Meinungsumfragen gewinnen dann an Wert, wenn sie Interpreten finden, die ihr Metier beherrschen und auch den Gegenstand der Umfrage kennen. Dann lassen sich durch die Analyse von Umfragen Annahmen verifizieren, die für die politische Diskussion elementar sind. So zum Beispiel die These, dass die politischen Parteien in Deutschland durch das gemeinsame Bedrohungsgefühl infolge der russischen Aggression gegen die Ukraine einander näher gerückt sind und frühere Dissonanzen eingeebnet wurden. Allensbach hat im Dezember die These aufgestellt: „Trotz aller Schwierigkeiten schlägt sich Deutschland inmitten der Krise doch recht gut“. Diese Aussage fand bei 58 Prozent der Befragten Zustimmung, nur rund ein Viertel widersprach

Dass die Sympathisanten der Regierungsparteien dieser These zustimmen, versteht sich von selbst. Aber auch die Anhänger von CDU und CSU beurteilen die Leistungsbilanz der Regierung – und darum geht es bei dieser Fragestellung – ebenfalls positiv. Die Anhänger der Linken sind hier gespalten. Lediglich die Freunde der AfD geben mit 60 Prozent (versus 28 Prozent) zu Protokoll, dass sie nicht der Ansicht seien, Deutschland schlage sich  in der Krise gut.

Wenn die Unions-Anhänger und die Regierungs-Sympathisanten die Leistungsbilanz der Regierung positiv beurteilen, dann ist das deshalb erstaunlich, weil vor allem in gesellschaftspolitischen Bereichen die Gegensätze zwischen CDU/CSU auf der einen und der Regierungskoalition auf der anderen Seite bei den Stichwörtern Wahlalter, Geschlechtsbestimmung, Abtreibungsregelung ohne den Druck des Ukraine-Krieges die Auseinandersetzung stärker bestimmen würden. Vor diesem Hintergrund sind es, bemerkenswerterweise, vor allem sexual-politische Themen wie Homosexualität, Homo-Ehe und Geschlechtsbestimmung, welche die russische Kriegspropaganda ins Zentrum ihrer Agitation gegen die Ukraine und den Westen insgesamt gerückt hat. Denn dort wird das unter dem Rubrum „Satanismus“ zusammengefasst. Russland sei verpflichtet, die Ukrainer „zu entsatanisieren“.

Die Jahresabschluss-Umfrage von Allensbach zeigt trotz der negativen Färbung vieler Ergebnisse auch zwei eher optimistische Aussagen: „Das Gute an den aktuellen Krisen ist, dass uns in Deutschland wieder mal vor Augen geführt wurde, dass Freiheit und Wohlstand nicht selbstverständlich sind“. Dieses Statement stieß bei 53 Prozent der Befragten auf Zustimmung. Noch etwas mehr Unterstützung erhielt die Feststellung „Man muss dankbar sein dafür, dass es uns in Deutschland trotz der Krise noch so gut geht“. Diese hohe Zustimmungsquote von 59 Prozent ist deshalb so bemerkenswert, weil beide Aussagen immerhin sogar auch die Hälfte von derjenigen geteilt wird, die durch die Inflation „sehr stark“ oder „stark“ belastet sind.

Und was berechtigt zu den Zukunftshoffnungen? Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine fiel der Anteil der Optimisten, die den nächsten zwölf Monaten mit Hoffnungen entgegenblicken, auf 19 Prozent zurück: Das ist ein historischer Tiefstand. Der bis dahin niedrigste Wert wurde von Allensbach Ende 1950 mit 27 Prozent als Folge des damaligen Koreakrieges gemessen. Dieser Tiefstand wurde im Oktober 2022 nochmals um drei Punkte auf 16 Prozent abgesenkt. Doch schon einen Monat später im November 2022 blickten wiederum ein Drittel der Befragten voller Hoffnung in die Zukunft. Das sind zwar deutlich weniger Hoffnungsfreunde als im Jahre zuvor, aber es sieht so aus, als ob die Talsohle durchschritten wäre.

Vielleicht geschieht dies auch deshalb, weil die Heizung bisher nicht kalt geblieben ist. Dieser Hoffnungsschimmer sollte aber niemanden dazu verleiten, die Kriegsangst und Inflationsfurcht für 2023 gering zu schätzen. Solange die russische Aggression tobt, werden wir mit diesen Ängsten leben müssen. Und wir können umso besser damit leben, je weniger wir 2023 vom russischen Energie-Lieferungen abhängig werden.

Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jahrgang 1941) ist nicht nur Politologe, sondern war, unter anderem als Mitglied von Helmut Kohls so genanntem „Küchenkabinet“, jahrelang selbst aktiv am politischen Geschehen beteiligt.  Zudem war Bergsdorf in der Regierungszeit Kohls Leiter der Inlandsabteilung des Bundespresseamtes und anschließend Chef der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums. 1987 war er zum außerplanmäßigen Professor für Politische Wissenschaften an der Bonner Universität ernannt worden. Von 2000 bis 2007 amtierte er als Präsident der Universität Erfurt.

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