Rezension von Dr. Aide Rehbaum
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Ulla Lenze © Julien Menand

Von einem Roman, der auf der Longlist des deutschen Buchpreises steht und mit einem historischen Setting punktet, erwartet der Leser eine Menge. Die Autorin hat sich von dem Lost Place der Beelitzer Heilstätten inspirieren lassen, in Anspielung auf Thomas Mann „Zauberberg der Proletarier“ genannt, die für ihre Zeit einen modernen medizinischen Ansatz vertraten. Deren spezielle Geschichte spielt für den Roman jedoch eine untergeordnete Rolle. Intensiv recherchierte Lenze über den Okkultismus am Anfang der 20. Jahrhunderts, reißt aber sowohl die sozialen Probleme der Zeit, die im Wandel befindliche Rolle der Frau, die Standesunterschiede der Gesellschaft, die Erforschung des Penicillins etc. nur an.

Fabrikarbeiterinnen aus den ärmlichen Verhältnissen Berlins erholen sich vor den Toren der Stadt von ihrer Lungenerkrankung, gegen die es noch kein Heilmittel gibt, indem man sie mit Ruhe und reichhaltiger Nahrung, Bädern, Dampfkuren und Gymnastik verwöhnt. Darunter befindet sich auch Anna, die bei Patienten und Arzt als hellsichtig gilt und ein historisches Vorbild hat. Ein Arzt veranstaltet mit ihr Séancen, man inszeniert Geistererscheinungen in der Highsociety und selbst Psychiater beschäftigen sich mit dem Phänomen.

Die ehrgeizige Schriftstellerin Johanna Schellmann sammelt in Beelitz Material für einen Roman und verstrickt sich immer mehr in den Spiritismus. Anfangs erwartet sie, von Anna Stoff aus ihrem Leben erzählt zu bekommen, was diese ignoriert. Immer mehr entwickeln sich die beiden Frauen zu Rivalinnen. Anna wird zum Störfaktor in Johannas Ehe, nachdem Johanna ihre Muse bei sich zuhause einquartiert hat. Fünfzig Jahre später zehrt Johanna immer noch vom Ruhm ihres Erfolgsromans, wird aber allmählich dement. Einem Helfer hinterlässt sie ein Manuskript, das die Wahrheit über Anna enthält.

Die Erzählung entwickelt sich schleppend in drei Zeitebenen: 1907, 1967 und 2020. Die Abschnitte sind entsprechend überschrieben, unterbrechen die jeweilige Handlung ohne nennenswerte Cliffhänger und wecken deshalb keine Spannung. Die Beschreibung des Ruinengeländes der Heilstätten gelingt ihr sehr eindrücklich. Ausgerechnet dort nimmt die Urenkelin an einer Führung teil, weil sie auf Wohnungssuche ist, und trifft auf Makler Maurus, der das unveröffentlichte Manuskript ihrer Urgroßmutter besitzt. Die Charaktere der handelnden Personen sind ohne psychologischen Tiefgang skizziert. Bei allen drei Hauptfiguren bleiben die Motive unklar.

 

Ulla Lenze, 1973 in Mönchengladbach geboren, studierte Musik und Philosophie in Köln. Für ihre Romane wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Jürgen-Ponto-Preis für das beste Debüt 2003, dem Rolf-Dieter-Brinkmann-Förderpreis und dem Ernst-Willner-Preis beim Bachmann-Wettbewerb. 2016 erhielt Ulla Lenze für ihr Gesamtwerk den »Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft« und 2020 den Niederrheinischen Literaturpreis der Stadt Krefeld. Ihr Roman »Der Empfänger« (2020) wurde in elf Sprachen übersetzt. Im Frühjahr 2023 hatte sie die renommierte Max-Kade-Gastprofessur am Dartmouth College (USA) inne. Ulla Lenze lebt in Buckow in der Nähe von Berlin.

 

 

 

Ulla Lenze – Das Wohlbefinden
2. Druckaufl., 2024, Erscheinungstermin: 17.08.2024, 336 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-98685-3
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