Deutsche Redewendung:“ Das schlägt dem Fass den Boden aus“
von Sepp Spiegl
„Das schlägt dem Fass den Boden aus“ – Eine Redewendung mit Wucht, Geschichte und regionalem Eigenleben
Wenn im Deutschen jemand empört ruft: „Das schlägt dem Fass den Boden aus!“, dann ist klar, dass ein Punkt erreicht ist, an dem etwas nicht nur zu viel, sondern untragbar geworden ist. Die Redewendung zählt zu den kraftvollsten Idiomen des Deutschen. Sie verdankt ihre Wirkung der drastischen Vorstellung einer Grenze, die nicht nur überschritten, sondern zum Einsturz gebracht wird. Und sie hat eine erstaunlich lange
Geschichte.
Historische Wurzeln: Vom Fass als Alltagsobjekt zur moralischen Metapher
Fässer waren über viele Jahrhunderte hinweg zentrale Lagerbehälter – für Wein, Bier, Öl und Getreide. Sie standen für Verlässlichkeit und Kontrolle. Doch jeder Küfer wusste: Wird ein Fass überlastet oder falsch behandelt, kann sein Boden herausbrechen, und die gesamte wertvolle Füllung geht verloren. Schon im Spätmittelalter taucht das Fass in Sprichwörtern als Symbol des Maßes, der Fassungskraft und der Geduld auf.
Die Redewendung selbst ist seit dem 17. Jahrhundert in verschiedenen Formen schriftlich belegt. In Sprichwörtersammlungen aus dieser Zeit finden sich verwandte Wendungen wie:
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„Das schlägt dem Faß den Boden aus, daß man es nicht halten kann“
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„Es ist zu viel, das Faß hat seinen Boden verloren“
Eine oft zitierte Quelle ist die Sammlung „Deutscher Sprachschatz“ von Kaspar Stieler (1691), in der die Wendung sinngemäß erscheint. Auch in frühneuzeitlichen Zunft- und Polizeiordnungen lassen sich Anspielungen finden: Wenn ein Brauer beim Manipulieren von Bier ertappt wurde, konnte es vorkommen, dass das Fass bei einer öffentlichen Strafe entleert oder zerstört wurde – ein symbolischer Akt, der die Schwere des Vergehens unterstrich.
So entstand ein gedanklicher Zusammenhang zwischen dem Zerbrechen des Fassbodens und der Überschreitung sozialer und moralischer Grenzen.
Von der Brauerei in die Alltagssprache: Eine starke Metapher setzt sich durch
Dass sich die Redewendung so gut hielt, liegt an ihrer emotionalen Klarheit. Sie visualisiert nicht nur Ärger, sondern eine Art moralische Erschütterung: Ein Verhalten ist so unmöglich, dass es das Fundament des Ertragbaren zerstört. In bürgerlichen Haushalten des 18. und 19. Jahrhunderts, in denen Fässer weiterhin gängige Lagerbehälter waren, blieb das Bild unmittelbar verständlich.
Im Laufe der Zeit wanderte die Wendung aus der Sphäre der Alltagsgegenstände in jene des gesellschaftlichen und politischen Lebens. Zeitungen des 19. Jahrhunderts verwendeten sie bereits in Kommentaren zu Skandalen, Korruptionsfällen oder absurden Entscheidungen von Behörden.
Varianten und regionale Formen
Wie viele historische Redewendungen hat auch diese im regionalen Sprachgebrauch leichte Abwandlungen hervorgebracht:
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„Das schlägt dem Fass den Zapfen heraus“
Vor allem süddeutsch und österreichisch; betont weniger die Zerstörung, mehr die Entgleisung. -
„Das ist der Boden zum Fass“ oder „Da fehlt nur noch der Boden am Fass“
Seltenere Varianten im südwestdeutschen Raum, die eher anklingen lassen, dass die Grenze kurz vor dem Zusammenbruch steht. -
„Das überläuft das Fass“ / „Das bringt das Fass zum Überlaufen“
Eine eng verwandte, heute deutlich häufigere Redewendung, die das „Maß ist voll“-Motiv ausdrückt – weniger drastisch als der ausgeschlagene Boden. -
„Da platzt mir das Fass“
Umgangssprachlich und hyperbolisch; in einigen Regionen austauschbar mit „Da platzt mir der Kragen“.
Während das Bild des herausgeschlagenen Bodens vor allem in Deutschland verankert ist, wird in Österreich und Teilen der Schweiz eher auf „Überlaufen“ oder „Platzen“ referiert, was zeigt, wie flexibel das Fass als Metapher für emotionale Grenzen genutzt wird.
Warum die Wendung heute noch funktioniert
Die visuelle Kraft der Redewendung macht sie zeitlos. Sie funktioniert in drei Feldern gleichermaßen:
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Im Alltag, wenn nach einer Reihe kleiner Ärgernisse etwas Unverzeihliches passiert.
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In den Medien, wenn ein politischer Skandal eine neue Dimension erreicht.
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In der Wirtschaft, wenn Fehlplanung oder Intransparenz ihren Höhepunkt finden.
Das Bild des Fasses ist so universell, dass es auch in einer modernen Welt voller Abstraktionen noch verständlich bleibt. Es erinnert daran, dass jedes System – sei es ein Fass, ein geduldiger Mensch oder ein demokratischer Diskurs – einen Punkt hat, an dem es nicht mehr fassen kann, was man ihm zumutet.
Internationale Entsprechungen: Was anderen Sprachen der Fassboden bedeutet
Interessanterweise findet man das motivische Muster der „überstrapazierten Grenze“ weltweit – auch wenn nicht überall ein Fass im Zentrum steht. Das Bild der letzten, unerträglichen Zumutung scheint sprachübergreifend zu funktionieren.
Englisch: „That’s the last straw“
Wörtlich: „Der letzte Strohhalm.“
Das englische Sprichwort spielt auf das Bild an, dass ein Kamel durch den „letzten, kleinen Strohhalm“ zusammenbricht – ein Sinnbild dafür, dass eine winzige Zusatzbelastung eine kritische Grenze sprengt.
Französisch: „C’est la goutte d’eau qui fait déborder le vase“
„Das ist der Tropfen Wasser, der das Gefäß zum Überlaufen bringt.“
Ein nahezu identisches Bild wie das deutsche „Fass läuft über“, nur eleganter und im Französischen extrem verbreitet.
Spanisch: „La gota que colmó el vaso“
„Der Tropfen, der das Glas füllt.“
Auch hier das Gefäß als Maßmetapher – der Moment, in dem eine kleine zusätzliche Belastung nicht mehr tragbar ist.
Italienisch: „Ha passato il segno“ / „Far traboccare il vaso“
Die italienische Version bewegt sich zwischen „Das überschreitet das Zeichen/Limit“ und „Das bringt das Gefäß zum Überlaufen“. Die Fassmetapher existiert, ist aber weniger bildhaft als im Deutschen.
Polnisch: „Przelać czarę goryczy“
Wörtlich: „Den Kelch der Bitterkeit zum Überlaufen bringen.“
Ein besonders poetisches Idiom, das wie im Deutschen auf ein Gefäß verweist, das sich nicht länger füllen lässt.
Japanisch: 「堪忍袋の緒が切れる」(kannin-bukuro no o ga kireru)
Wörtlich: „Die Schnur des Geduldssacks reißt.“
Das Bild ist anders, aber die Bedeutung deckungsgleich: Die Geduld ist am Ende, der „Beutel“ kann nichts mehr aufnehmen.
Arabisch: „بلغ السيل الزبى“ (balagha as-sayl az-zubā)
Wörtlich: „Die Flut erreicht die höchsten Sandhügel.“
Auch hier ein Ausdruck für ein unerträgliches Ausmaß – die Grenze natürlicher Belastbarkeit ist überschritten.
Warum das Bild weltweit funktioniert
Ob Fass, Vase, Kelch, Sack oder Strohhalm – in allen Fällen wird die gleiche menschliche Erfahrung beschrieben: ein Punkt, an dem etwas nicht mehr tragbar ist. Das Deutsche ist dabei besonders drastisch: Nicht nur läuft das Fass über, es verliert gleich den Boden. Es ist das radikalste Bild im Vergleich und deshalb so wirkungsvoll. Die Redewendung lebt, weil sie nicht nur Ärger beschreibt, sondern ein moralisches Urteil formuliert. Ihr Bild ist körperlich, unmittelbar und anschaulich. Und obwohl Fässer heute kaum noch eine Rolle in unserem Alltag spielen, bleibt die Vorstellung eines überbeanspruchten Behälters international verständlich. Dass Menschen weltweit ähnliche Metaphern nutzen, zeigt, wie tief das Bedürfnis verankert ist, Grenzen des Erträglichen zu benennen – und wie universell ein Fass sein kann, selbst wenn es in einer Sprache gar keines ist.



