von Wolfgang Bergsdorf

Wolfgang Bergsdorf

Mehr als 450 Tage dauert nun schon der Krieg in der Ukraine. Er hat mit heftigem Raketenbeschuss der Russen begonnen. In der westlichen Berichterstattung über den Alltag ist zu spüren, wie sich die Bevölkerung der Ukraine mit dem kriegsbedingten Ausnahmezustand arrangiert hat. Trotz regelmäßigem Raketenbeschusses finden Konzerte in U-Bahn-Stationen statt, selbst Boxkämpfe werden ausgetragen. Dank westlicher Waffenlieferungen werden immer mehr russische Luftangriffe abgewehrt. Die Angreifer haben es schwer, Geländegewinne zu erzielen.

Für die Ukrainer war das vorangegangene Wochenende besonders erfolgreich. Präsident Wolodymyr Selenskyj hat mit Rom, Berlin, Paris und London vier europäische Hauptstädte besucht und dort überall mit den Regierungschefs über die Verstärkung der ukrainischen Abwehrmaßnahmen gesprochen. Im Vatikan unterbreitete er Papst Franziskus seine Sorgen, in Aachen nahm er den den Karlspreis für das ukrainische Volk entgegen. Vor allem erhielt er aus den vier wichtigsten Regierungszentralen Westeuropas milliardenschwere Zusicherungen für die militärische Unterstützung der Ukraine in diesem Abwehrkampf.

Nach seiner Rückkehr wurde Selenskyj allerdings mit einem schweren Korruptionsskandal ausgerechnet am höchsten Gericht im Lande konfrontiert. Dies macht deutlich, dass Russland zwar der äußere Feind ist, der innere jedoch weiterhin die Korruption. Ohne den Sieg, zumindest aber deutliche Erfolge im Kampf gegen den inneren Feind wird es für die Ukraine schwer werden, den angestrebten Platz in der Europäischen Union zu erreichen. Man kann nur mit Erstaunen feststellen, dass der Kiewer Staatsapparat trotz der immensen militärischen Herausforderung noch die Kraft findet, den Kampf gegen Korruption offen aufzunehmen. Denn verständlicherweise wird sonst jede interne Diskussion durch das Kriegsgeschehen zugedeckt. Weil die Ukraine indessen, anders als der Aggressor Russland, eine Demokratie ist, gibt es zwischen den verschiedenen politischen Kräften Auseinandersetzung über den besten Weg, mit den Krieg fertig zu werden. Aber die Ukraine ist klug genug, dies in Kriegszeiten nicht öffentlich auszutragen.

Dies gilt auch für Fragen nach einer Mitschuld des Westens am Ausbruch des Krieges. Gerade ist das Buch von Serhil Plokhy erschienen, das sich mit dem Angriffskrieg Putins auf die Ukraine und seine Folgen für die Welt auseinandersetzt. Der Autor, Professor für ukrainische Geschichte in Harvard, erinnert daran, dass dieser Krieg keineswegs am 24. Februar 2022 begann, sondern schon am 27. Februar 2014. Damals hatten russische Truppen das Parlamentsgebäude der Krim besetzt und waren kurz darauf in den Donbass einmarschiert. Der Westen hat dies ebenso lethargisch hingenommen mit vorsichtigen Protesten wie zuvor den Überfall Putins auf Tschetschenien und Georgien oder die Bombardierung von Teilen Syriens. In Deutschland nahm die Debatte über die “rein wirtschaftspolitische Bedeutung der Gaspipeline Nordstream 2” erst danach langsam Fahrt auf. Der Wunsch, mit Putin trotz allem klarzukommen und bei günstigen Preisen zuverlässige Öl- und Gaslieferungen aus Russland zu erhalten, haben uns – Politik wie Gesellschaft – Sand in die Augen gestreut und die Ohren verstopft, wenn die baltischen Staaten oder auch Polen ihre (zutreffenderen) warnenden Schlüsse aus den gleichen Ereignissen und Beobachtungen zogen. Immerhin hat die Ukraine seit 2014 ihre militärischen Vorbereitungen gegen die erwartete Aggression des russischen Bären intensivieren und mithilfe der westlichen Verbündeten ihre Armee ertüchtigen können. Dass die sie nicht in einem Blitzkrieg von Russland niedergeworfen wurde, ist nicht zuletzt dieser achtjährigen Vorbereitungszeit zu verdanken.

Nun haben die Ukrainer seit 15 Monaten gezeigt, wie stark ihre Widerstandskraft ist und wie sehr der Krieg ihren nationalen Zusammenhalt stärkt. Wenn Putin glaubte, die nationale Identität der Ukrainer auszulöschen, so hat sein Überfall das Gegenteil bewirkt. Auch seine Hoffnung auf eine Renaissance der „russischen Welt“ wurde in ihr Gegenteil verkehrt. Die Idee einer größeren Gemeinschaft aller von der russischen Sprache und Kultur zusammengehaltenen und beeinflussten Ethnien, die Russland für den Inbegriff der Zivilisation halten, hat sich infolge dieses Angriffskriegs erledigt. Vor zehn Jahren hätte man die Ukraine, Belarus, aber auch Teile von Moldawien, Kasachstan und Georgien dazu zählen können. Im von Krisen geschüttelten Kasachstan zum Beispiel hoffte Russland, Russisch als zweite Staatssprache eingeführt zu sehen; aber auch hier hat die Angst vor der russischen Aggression solche Hoffnungen vereitelt.

Russophobie ist nicht nur eine Propagandaformel des Kreml, mit der die Verhaltensweisen von Russlandnahen und -fernen Nachbarn erklärt werden sollen, sondern sie ist auch die Bezeichnung für eine Vorsichtshaltung gegenüber Russland, die je geographisch näher umso ausgeprägter ist. Auch die Erwartung der russisch-orthodoxen Kirche auf eine Erweiterung ihres kanonischen Anspruchsgebietes durch die Invasion in die Ukraine erweist sich als eine Fehlannahme. Tausende von ukrainischen Gemeinden, die sich bis zum 24. Februar 2022 noch zur Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats zählten, haben den Patriarchen Kyrill aus ihrem Memorialgebeten gestrichen und sich selbstständig gemacht. Dass sich die Moskauer Kirche mit der Unterstützung des Krieges in der weltweiten Organisation der christlichen Kirchen in Isolation gegeben hat, trifft auch auf den russischen Staat zu. Der Überfall auf die Ukraine hat ihn im Europarat vollständig isoliert. Einem Ausschluss aus diesem internationalen Gremium kam Moskau nur durch einen Austritt zuvor.

Die jüngst zur erst vierten Tagung seit Bestehen des Europarats im isländischen Reykjavik versammelten 46 Staats- und Regierungschefs der verbliebenen Mitgliedstaaten berieten, wie Europa auf den Krieg reagieren kann und muss. Im Vordergrund der Beratungen stand der Plan, eine Dokumentation der durch russische Bomben und Raketen zerstörten Gebäude in der Ukraine zu erarbeiten. Dieses Schadensregister soll dann die Grundlage für Schadensersatzforderungen bieten sowie für Zuweisungen von Verantwortungen einzelner Politiker und Kommandeure Russlands vor internationalen Strafgerichtshöfen.

Es ist noch nicht so lange her, dass Putin die Kinschal-Rakete aus russischer Produktion als Wunderwaffe gelobt hat. Dabei handelt sich um eine ballistische Hyperschall-Luft-Bodenrakete, deren Abwehr wegen der sechsfachen Schallgeschwindigkeit als extrem schwierig galt. Nunmehr hat die Ukraine in den letzten Tagen den Mythos dieser Wunderwaffe entzaubert. Ihrer Luftabwehr gelang es, sechs dieser Hyperschall-Raketen in der Luft zu zerstören. Die russische. Propaganda stellt diesen ukrainischen Erfolg in Abrede. Um wirksam zu werden, braucht jede Propaganda einen realen Kern, der ihr ein Mindestmaß an Glaubwürdigkeit vermittelt. Die russische Propaganda glaubt indes, darauf verzichten zu können, ohne zu bemerken, wie sie sich so jeder Wirksamkeit beraubt. Zum Beispiel behauptet die russische Armeeführung, sie hätte seit Beginn des Krieges 8200 ukrainische Panzer zerstört. Dass diese Zahl aus der Luft gegriffen ist, ergibt sich aus der einfach zu beweisenden Tatsache, dass die Ukrainer zu Beginn des Krieges nur über 800 Panzer verfügte.

Russland wollte mit der Einsatz dieser Hyperschall-Rakete der NATO eine Warnung zukommen lassen. Dass die westliche Verteidigungsgemeinschaft Mittel hat, dieser Waffe  ihre zerstörerische Wirkung zu nehmen, müsste die Strategen im Kreml nachdenklich stimmen. Der Westen ist militärtechnisch offensichtlich in der Lage, dem russischen Militär zu trotzen. Das wiegt im Kalkül des Kleptokraten Putin allerdings weniger als sein unbedingter Vernichtungswille gegenüber der Ukraine. Außerhalb Russlands fragt sich jeder, wieso der Kreml die “Entnazifizierung” der Ukrainer als Kriegsgrund erfinden konnte, und dass der im Russland selbst ohne erkennbaren Widerspruch hingenommen wird.Die Erzählung lautet wie folgt: eigentlich sind die Ukrainer Russen. Wenn sie keine Russen sein wollen, sondern sich an Europa orientieren, sind sie Verräter, also schlimmer als normale Feinde. Für Putin sind die Ukrainer deshalb Nazis, weil sie nicht zugeben wollen, dass sie eigentlich Russen sind. Anders formuliert: weil die Sowjetunion die Welt vor dem Faschismus gerettet habe und Russland die Nachfolgerin der Sowjetunion sei, ist jeder, der gegen Russland ist, ein Faschist. 

Also ist Russophobie ein anderer Begriff für Nazitum, das es überall zu entlarvengilt, wenn Russland kritisiert wird. In seiner Begründung für den Angriffskrieg am 24. Februar 2022 ging Putin von diesem Nazi-Narrativ aus und fokussierte es auf den Völkermord an den russisch Sprechenden im Donbass. So sollte die Gewalt als Gegengewalt legitimiert werden. Es gab aber für die Genozid-Behauptung nicht einmal den Ansatz eines Beweises. Das wird – wie auch immer dieser Krieg beendet wird – eine der wichtigsten Ergebnisse sein:  Begreife, dass Lügen eine Waffe im Informationskrieg sind, die dem realen Krieg vorhergehen, ihn begleiten oder ihm folgen. Das war schon so, als Hitler 1939 den Überfall auf Polen befahl.

 

Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jahrgang 1941) ist nicht nur Politologe, sondern war, unter anderem als Mitglied von Helmut Kohls so genanntem „Küchenkabinet“, jahrelang selbst aktiv am politischen Geschehen beteiligt.  Zudem war Bergsdorf in der Regierungszeit Kohls Leiter der Inlandsabteilung des Bundespresseamtes und anschließend Chef der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums. 1987 war er zum außerplanmäßigen Professor für Politische Wissenschaften an der Bonner Universität ernannt worden. Von 2000 bis 2007 amtierte er als Präsident der Universität Erfurt.

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