„Die Polarisierung der Türkei in zwei Lager geht weiter“

Erdoğan geht als Favorit in die Stichwahl. Henrik Meyer aus Istanbul über den unfairen Wahlkampf und die verbliebenen Chancen Kılıçdaroğlus.

Die Fragen stellte Alexander Isele.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan und sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu müssen in die Stichwahl. Die erste Runde der Präsidentschaftswahl war allerdings nicht so eng wie erwartet. Wie ist der Ausgang zu deuten?

Tatsächlich haben die meisten Wahlforschungsinstitute Kılıçdaroğlu in Führung gesehen, nur wenige sahen Erdoğan vorne. Insofern ist das Ergebnis, sofern es final bestätigt wird, durchaus überraschend, gerade weil die Umfragen und Zahlen vor der Wahl eigentlich vorausgesagt hatten, dass das mit Abstand wichtigste Thema in diesem Jahr die Wirtschaft und vor allem die Inflation sein würde. Die Inflation ist das größte Problem, das die Menschen in der Türkei im Alltag zu bewältigen haben. Die Erwartung war, dass Kemal Kılıçdaroğlu, der mit einem breiten Bündnis aus sechs Parteien angetreten ist und auch von der prokurdischen HDP unterstützt wird, davon würde profitieren können. Doch das Problem der Wirtschafts- und Währungskrise wurde von vielen Menschen offenbar nicht als so dramatisch empfunden, als dass eine echte Wechselstimmung aufgekommen wäre.

Im Grunde sind die Wahlergebnisse denen von 2018 sehr, sehr ähnlich. Die Polarisierung der Türkei in zwei Lager geht weiter wie bisher, wobei das Erdoğan-Regierungslager etwas stärker ist als das Oppositionslager. Die Opposition hat zwar etwas Boden gutgemacht, aber viel weniger als erwartet.

Bei der Stichwahl dürfte es nun auf die Stimmen des drittplatzierten Kandidaten Sinan Oğan ankommen, der 5,2 Prozent der Stimmen erhielt. Was bedeutet das für die Stichwahl und für die zukünftige Präsidentschaft?

Letzte Zweifel an der Korrektheit des Wahlergebnisses bleiben, doch es sieht danach aus, dass Präsident Erdoğan mit 49,51 Prozent der Stimmen die erste Runde für sich entschieden hat. Von den etwas mehr als fünf Prozent der Stimmen, die Sinan Oğan bekommen hat, bräuchte er nicht besonders viele, um in der zweiten Runde die Wahl zu gewinnen. Hinzu kommt, dass die Wählerschaft von Sinan Oğan aus dem nationalkonservativen, nationalistischen Lager kommt. Für dessen Wählerinnen und Wähler dürfte es tendenziell leichter sein, Erdoğan zu wählen als Kılıçdaroğlu, der im ersten Wahlgang auf die Unterstützung der Kurden zählen konnte. Erdoğan geht sicherlich als Favorit in die zweite Runde. Es ist aber nicht ausgemacht, dass er gewinnt. Alle Seiten haben ihre Anhängerinnen und Anhänger sehr gut mobilisieren können und die Opposition hat den Sieg noch nicht verloren gegeben. Insofern wird es in zwei Wochen noch mal sehr spannend.

Die AKP und das Oppositionsbündnis machen sich gegenseitig Vorwürfe bei der Stimmauszählung und die Opposition zweifelt auch an den Ergebnissen. Was ist dran an den Vorwürfen?

Es gibt diverse Berichte über Vorkommnisse bei der Stimmabgabe, und die sollten aufgearbeitet werden. Aber ich glaube nicht, dass dies in einem Maße war, dass es die Wahlen entscheidend verändert hat – die Wahl an sich ist nach bisherigen Erkenntnissen relativ korrekt verlaufen. Die Wahlauszählung am Abend verlief dann allerdings tatsächlich etwas kurios. Die Zahlen am Anfang waren sehr anders als die Zahlen am Ende. Die Opposition hat den regierungsnahen Medien lange vorgeworfen, dass sie die Stimmauszählung verzerrt darstellten, was auch stimmt, wenn man sich die ursprünglich am Anfang publizierten Zahlen anschaut. Aber im Laufe des Abends wurden die Zahlen dann doch realistischer. Das Problem in der Türkei ist, dass die Wahlen zwar relativ frei waren, aber der Wahlkampf nicht fair. Die Regierung kontrolliert einen Großteil der Medien, hat dort sehr viel mehr Präsenz als die Opposition. Wichtige Oppositionspolitiker sind in Haft oder mit einem Politikverbot belegt. Die Voraussetzungen, um bei den Wahlen Erfolg zu haben, sind sehr ungleich und nicht fair.

Erdoğan hat ja auch in einigen der vom Erdbeben betroffenen Gebieten unerwartet stark abgeschnitten. Liegt das an den unfairen Wahlkampfmöglichkeiten?

Es ist noch zu früh, um zu sagen, womit Erdoğan konkret gepunktet hat. Wie gesagt, für mich bleibt die interessanteste Erkenntnis die, dass die Wahlergebnisse denen von 2018 sehr ähneln – es hat sich einfach nicht viel getan. Es wurde bereits erwartet, dass das Erdbeben kein wahlentscheidendes Thema sein würde. Erdoğan hat in den letzten Wochen sehr viele Wahlkampfgeschenke verteilt. Er hat den Mindestlohn erhöht, wie auch die Gehälter für Staatsbedienstete und die Renten, und im Mai mussten die Haushalte ihre Erdgasrechnung nicht bezahlen, was damit begründet wurde, dass die Türkei Erdgas im Schwarzen Meer erschlossen hat. Im Erdbebengebiet hat Erdoğan auch viele Versprechungen gemacht. Das Lagerdenken ist in der Türkei sehr viel resilienter, als wir das erwartet hatten.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Wahlkampf

Die Geschenke mögen auch für einige Stimmen gesorgt haben, aber ich glaube, das war tatsächlich gar nicht das alles Entscheidende. Wichtiger ist die Erkenntnis, dass das Lagerdenken in der Türkei sehr viel resilienter ist, als wir das erwartet hatten. Viele Beobachterinnen und Beobachter hatten erwartet, dass die Wirtschaftskrise dazu führen würde, dass die Konturen der Lager weicher werden, dass mehr Wechsel zwischen den Lagern möglich ist. Dass Leute, die sich von der Wirtschaftskrise betroffen fühlen, eher bereit sind, von Erdoğan abzurücken. Und das hat sich in dem Maße eben nicht bestätigt.

Bei den Parlamentswahlen hat das Regierungsbündnis mit 49,3 Prozent fast das gleiche Ergebnis bekommen wie Erdoğan in der Präsidentschaftswahl. Wie wichtig ist das Parlament noch, nachdem Erdoğan die Türkei zu einem Präsidialsystem umgebaut hat?

Das Parlamentswahl-Ergebnis spiegelt das Präsidialwahl-Ergebnis. Durch das Auszählungsverfahren in der Türkei hat die bisherige Regierungskoalition, das sogenannte Cumhur-Bündnis, vermutlich eine absolute Mehrheit sicher und erhält voraussichtlich 320 der 600 Abgeordnetensitze. Welche Bedeutung das hat, darüber wird in der Türkei viel diskutiert. Im türkischen Präsidialsystem kann der Präsident per Dekret das Allermeiste bestimmen. Er braucht auch für die Ernennung seiner Regierung nicht die Zustimmung des Parlaments – der türkische Präsident kann am Parlament vorbei regieren. Das ist eine der Besonderheiten dieses Systems und eines der Dinge, die die Opposition abschaffen wollte, sofern sie denn die Wahlen gewonnen hätte.

Das scheint jetzt eher schwierig zu werden, auch wenn wir es noch nicht wissen. Wichtig sein könnte aber, dass die türkische Bevölkerung nicht möchte, dass Parlament und Regierung unterschiedlich geführt werden. Also es kann durchaus sein, dass die Tatsache, dass das Parlament nun vom Parteienbündnis des Präsidenten dominiert wird, dazu führt, dass Erdoğan in der zweiten Runde noch mal bessere Chancen hat.

Henrik Meyer leitet das Türkei-Büro der FES mit Sitz in Istanbul. Zuvor war er Leiter des Büros in Tunis.

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