Politik: Das Spiel ist aus
In Großbritannien bedauern immer mehr den EU-Austritt. Doch auch unter einer Labour-Regierung wird es keine Neuauflage der Brexit-Verhandlungen geben.
Am 30. Juli 1966 läuft bereits die Verlängerung im WM-Endspiel in Wembley zwischen England und Deutschland. Nach 101 Minuten steht es noch immer 2:2, als der englische Spieler Geoff Hurst den Ball von der rechten Seite des Torraums mit einem strammen Schuss über den Kopf des deutschen Torwart Hans Tilkowski hinweg aufs Tor schießt. Der Ball prallt zunächst an die Unterseite der Torlatte, von dort direkt auf die Tor-Linie und zurück in den Strafraum, wo der deutsche Verteidiger Wolfgang Weber ihn beherzt über das Tor ins Aus köpft. Tor oder nicht Tor – das ist hier die Frage. Das Spiel ist lange abgepfiffen, England wurde Weltmeister und dennoch blieb das Wembley-Tor eine Generationenfrage. Der Diskussionsprozess war so schmerzhaft, dass vor allem die deutschen Spieler lange nicht darüber sprechen wollten.
Der britische Labour-Vorsitzende Keir Starmer, ein Linksfüßler, spielt noch immer jede Woche Fußball (Alte Herren) in – wie er sagt – „einer taktisch-kontrollierenden Rolle im Mittelfeld“. Was er an Fußball liebe, seien die Toleranz und der Respekt, den man gegenüber dem gegnerischen Team aufbringen müsse. Zwischen 2016 und 2019, als er die Rolle des Schattenministers für die Brexit-Verhandlungen ausfüllte, musste er, der überzeugte Europäer, diese Toleranz vor allem gegenüber weiten Kreisen der eigenen Anhängerschaft aufbringen. Über 30 Prozent der klassischen Labour-Wähler hatte sich für den Austritt aus der EU stark gemacht.
Gerade in den traditionellen Wahlkreisen der Arbeiterpartei in den Midlands und im Norden Englands war die Anti-EU-Stimmung besonders stark. Ausgerechnet diese ehemaligen Hochburgen von Labour gingen 2019 in der von Boris Johnson ausgerufenen „Get Brexit Done“-Parlamentswahl krachend für die Partei verloren. Seither hat sich das Vereinigte Königreich dramatisch verändert. Das Land ist durch eine schwere Pandemie, einen heftigen Anstieg der Lebenshaltungskosten und eine erneute Austeritätspolitik schwer gebeutelt. Die Auswirkungen des Brexits sind nicht mehr nur abstrakte Warnungen der Pessimisten, sondern werden vor allem im Alltag durch gestiegene Preise, Fachkräftemangel und Beschwernisse beim Reisen deutlich.
Großbritannien wartet gespannt auf die nächsten Parlamentswahlen, die bis zum Januar 2025 abgehalten werden müssen. Die Entscheidung über den genauen Zeitpunkt obliegt allein dem derzeitigen Premierminister Rishi Sunak. Am Wahltag wird die Konservative Partei seit mehr als 13 Jahren an der Macht sein. Lange galt sie als fast unbesiegbar, aus den letzten vier Wahlen zum Unterhaus ist sie jeweils als stärkste Partei hervorgegangen. Seit 2021 befinden sich ihre Umfragewerte jedoch im freien Fall. Eine Reihe von verlorenen Nachwahlen verstärkt den Eindruck, dass die Tories an den Urnen auf eine dramatische Niederlage zusteuern. Von heute 365 Sitzen in Westminster würden ihnen nach jetzigem Stand nur noch 155 bleiben, während die Labour-Fraktion von vormals 202 Abgeordneten auf 403 anwachsen würde. Ein neues Schlagwort macht die Runde: „Bregret“ – das Bedauern über den Brexit.
Der Anteil derjenigen, die den Brexit bedauern, liegt bereits seit zwei Jahren durchgehend über 50 Prozent.
Labour dürfte sich die Downing Street nicht nur für eine, sondern mindestens zwei Wahlperioden sichern. Wäre es daher jetzt nicht an der Zeit, dass der Europäer Starmer den „Fehler“ des EU-Austritts wiedergutmacht? So kurz vor den Europawahlen böte es sich doch an, die mediale Aufmerksamkeit für das Thema zu nutzen. Im März 2024 waren schließlich 55 Prozent der Menschen in Großbritannien der Meinung, dass es falsch war, die EU zu verlassen, gegenüber 34 Prozent, die es weiterhin für eine richtige Entscheidung halten. Der Anteil derjenigen, die den Brexit bedauern, liegt bereits seit zwei Jahren durchgehend über 50 Prozent. Diese Zahlen spiegeln die sinkenden Zustimmungswerte der Regierung wider, zumal die Tories und ihr ehemaliger Premierminister Johnson stark mit dem Brexit und dem „Leave“-Votum in Verbindung gebracht werden.
Obwohl es eine klare Mehrheit gibt, die den Brexit tatsächlich bedauert, gibt es noch immer keine bestimmte Politik mit Blick auf die EU. Noch Ende 2023 wollten nur 31 Prozent der Britinnen und Briten tatsächlich zurück in die EU, während 30 Prozent lediglich die Handelsbeziehungen verbessern und weder der EU noch dem Binnenmarkt wieder beitreten wollten. Auch der Ukraine-Krieg hat daran nichts geändert.
„Es ist von grundlegender Bedeutung, dass das Vereinigte Königreich und Europa engste Beziehungen unterhalten, und die Zeit des Brexits ist vorbei, die Situation ist geklärt“, so Labours vermeintlich zukünftiger Außenminister David Lammy auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2024. Labour werde einen neuen Sicherheitspakt mit der EU anstreben, der regelmäßige Treffen zwischen Ministerinnen und Ministern beider Seiten vorsehe – derzeit gibt es keine Treffen dieser Art. Im EU-Lager der Labour-Partei hoffen viele, dass ein regelmäßiger Sicherheitsdialog eine katalysatorische Wirkung hätte. Wer über Sicherheit spreche, der werde bald auch über andere Themen Informationen austauschen wollen wie zum Beispiel Energie, Lieferketten oder Migration.
Bereits 2026 steht die nächste Herausforderung im bilateralen Verhältnis mit der EU an: die im Handelsabkommen (TCA) vorgesehene Überprüfung der bisherigen Vereinbarungen. Vorstellbar sei deshalb auch, dass sich Labour für atmosphärische Verbesserungen einsetzen könnte, unter anderem durch ein Abkommen zum Abbau von Handelshemmnissen, über die gegenseitige Anerkennung beruflicher Qualifikationen, die Erleichterung der visafreien Kurzzeitbeschäftigung von Briten in der EU und umgekehrt oder über die Übernahme von EU-Standards im Bereich Pflanzen- und Tiergesundheit. Auch die viel zitierten Schwierigkeiten bei der Durchführung von Musik-Tourneen könnte man leicht aus dem Weg räumen. Anders als die Tories werde man sicherlich auch nicht permanent nach Divergenz zur EU streben, sondern versuchen, gemeinsame Standards zu halten.
Ein weiteres Abkommen mit der EU könne auch die Vorteile der Freihandelsregeln mit Australien und Neuseeland gefährden.
Der Taktiker Starmer ist jedoch nicht bereit, das Vereinigte Königreich zurück in den Binnenmarkt oder die Zollunion zu führen. Eine Rückkehr zur Personenfreizügigkeit wäre aus seiner Sicht eine Verletzung der Spielregeln. Die Kontrolle darüber, wer ins Land kommt, dürfe nie wieder aufgegeben werden. Die Brexit-Parole „Take back control“ schwingt vor allem in den ehemaligen Bergbaustädten Englands noch immer nach und die Parteistrategen sind überzeugt, dass sie von der dortigen Wählerschaft – ohne deren Stimmen ein Wechsel in London unmöglich bleibt – sofort abgestraft würden, sollten sie das Thema Migration preisgeben. Ein weiteres Abkommen mit der EU könne auch die Vorteile der Freihandelsregeln mit Australien und Neuseeland gefährden oder die Bedeutung der Mitgliedschaft in der CPTPP-Freihandelszone schmälern. Zwar möchte Labour gern eine Vereinbarung mit der EU treffen, um die Auswirkungen der Kontrollen von Lebensmitteln und landwirtschaftlichen Erzeugnissen zu mildern, aber dies würde wahrscheinlich voraussetzen, dass man eine Angleichung an zukünftige EU-Vorschriften akzeptierte – ein Narrativ, das Starmer tunlichst vermeiden will.
Der Wahlexperte Rob Ford von der Organisation UK in a Changing Europe hält den derzeitigen Kurs aus wahltaktischen Gründen durchaus für sinnvoll: „In Dudley, Nuneaton, Leigh und all den anderen Orten, die viel stärker von der Linken geprägt sind, funktioniert das gut.“ Andererseits, so warnt er, könnte die Partei später in der Regierung von ihren eigenen Abgeordneten unter Druck gesetzt werden.
Das Lager um Abgeordnete wie Stella Creasy, die im Labour Movement for Europe den Vorsitz innehat, formiert sich wiederum gerade neu und stellt erfolgversprechende pro-europäische Kandidatinnen und Kandidaten auf. Die Labour-Partei unter Starmer ist zwar instinktiv pro-europäisch, aber im Vorfeld der Parlamentswahlen bleibt sie vorsichtig und konzentriert sich darauf, die red wall seats zurückzugewinnen. Brexit ja oder nein, das war keine Wirtschafts-, sondern Identitätspolitik und viele Unzufriedene könnten sich vielleicht schnell an ihre starke „Leave“-Identität erinnern, sollte sich die politische Auseinandersetzung wieder vermehrt um Europa drehen.
Starmer weiß, es gibt noch viele andere Gegner auf dem Spielfeld. Möchte Brüssel tatsächlich eine Neuauflage der Brexit-Verhandlungen? Hat das Königreich diesbezüglich nicht ein Glaubwürdigkeitsproblem? Und wer garantiert, dass eine europafeindliche Konservative Partei bei der nächsten Wahl nicht doch wieder an die Macht gelangt? Haben die Hardliner unter den Brexiteers wirklich an Einfluss verloren? Die rechtspopulistische Reform UK-Partei (früher „Brexit-Partei“) erfährt wieder Zulauf und hat mit dem TV-Sender GB News ein neues, lautes Sprachrohr.
Ob Wembley oder Brexit: Das Spiel ist aus. Es ist abgepfiffen, aber ob die Schiedsrichterentscheidung korrekt war, darüber wird wohl noch über Jahre gesprochen werden. Bis eine nächste Generation auf dem Feld steht, könnte die Spieltaktik von Labour lauten: Festlegung einer Agenda und Prioritäten, Kommunikation mit Brüssel, Ermutigung der britischen Behörden, ihre Netzwerke in den EU-Hauptstädten zu halten und auszubauen, Verbreitung von Wissen über Europa, Schaffung von strukturellen Verbindungen in der Außen- und Verteidigungspolitik, Aushandlung eines zusätzlichen Kapitels über Mobilität sowie Abkehr von der Divergenz und Anerkennung der EU-Vorschriften zur Pflanzen- und Tiergesundheit sowie zur Lebensmittelsicherheit.
Es war lange unklar, ob der Ball im Wembley-Stadion hinter der Torlinie war oder nicht. Erst in den 1990er Jahren kam eine von britischen Ingenieuren veröffentlichte Studie zu dem Schluss, der Ball sei nicht im Tor gewesen. Aufbereitete Fotos und Filmaufnahmen zeigen den hochgeschleuderten Kalk der Torlinie. Starmer weiß, spätere Generationen werden anders auf Europa schauen: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.
Michèle Auga leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung im Vereinigten Königreich und Irland. Zuvor leitete sie die Referate Subsahara-Afrika und Westeuropa/Nordamerika der FES in Berlin sowie die FES-Büros in Mali, den Palästinensischen Gebieten und bei den Vereinten Nationen in New York.
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