von Dieter Weirich

Dieter Weirich ©seppspiegl

Seit gestern ist die schwarz-rote Regierungskoalition unter Bundeskanzler Friedrich Merz hundert Tage im Amt. Diese in der internationalen Politik übliche Schonfrist wird neuen Amtsinhabern zugestanden, sich einzuarbeiten, die politische Richtung für die Zukunft aufzuzeigen, erste Erfolge aufzuweisen.

Die „Hunderttage-Regel“ entstammt der US-Politik. Präsident Franklin D.Roosevelt bat 1933 die Öffentlichkeit um diese Schonfrist zur Vorbereitung seines berühmten „New Deals“, der Wirtschaftswende.

Wenn eine Wahl vorbei ist, beginnt der Augenblick der Wahrheit. Das musste das Berliner Bündnis vor allem bei der Betrachtung der depressiv stimmenden Haushaltslage erfahren. Mit milliardenschweren Schuldenlasten – sprich Sondervermögen- für Rüstung und Infrastruktur hat man sich inzwischen Spielraum für die Bewältigung der Zukunftsaufgaben verschafft.

23 Gesetze, Finanzpakete für die Sondervermögen, zwei Haushalte, Maßnahmen zur Wachstumsblebung für die Wirtschaft und zur Sicherung der Renten hat die Koalition in den ersten hundert Tagen verabschiedet. Obwohl Regierungschef Merz eine Stimmungsaufhellung für den Sommer ankündigte, ist das Vertrauen der Menschen in die Regierung schmal. In Zeiten stagnierender Wirtschaft, aus dem Sommerloch unkalkulierbar auftauchender US-Zölle, von Kriegen in der Ukraine und im Gaza vermissen die Deutschen Krisenkompetenz.

Merz hatte seine Kanzlerschaft mit einer außenpolitischen Offensive gestartet, belebte das deutsch-französische Verhältnis, intensivierte europäische Partnerschaften, sicherte der Ukraine unverbrüchliche Unterstützung zu und beanspruchte eine Führungsrolle in der NATO. Sein persönliches Verhältnis zu Donald Trump, der sich inzwischen wieder zum westlichen Verteidigungsbündnis bekennt, ist intakt, die Verhandlungen über die Zollpolitik zeigten freilich, dass der „Commander in Chief“ , also der US-Oberbefehlshaber, Europa letztlich wie eine devote Kolonie behandelt.

Nur durch eine große und durch unbequeme Reformen unterlegte innenpolitische Zukunftserzählung kann die Koalition ihrer Verantwortung gerecht werden.Wer auf die Wirtschaft hofft, muss den Mut zu Strukturreformen zur Begrenzung der Sozialkosten haben. Hier sieht man bisher nur Ängstlichkeit, es gibt noch erhebliche Luft nach oben.

Dieter Weirich (Jg. 1944), gelernter Journalist, kommentiert jede Woche mit spitzer Feder seine Sicht auf das aktuelle Geschehen in rantlos; mit freundlicher Genehmigung der “Zeitungsgruppe Ostfriesland (ZGO)”. Weirich war von 1989 bis 2001 Intendant des deutschen Auslandsrundfunks Deutsche Welle. Zuvor gehörte er eineinhalb Jahrzehnte als CDU-Abgeordneter dem Hessischen Landtag und dem Deutschen Bundestag an, wo er sich als Mediensprecher seiner Partei und als Wegbereiter des Privatfernsehens einen Namen machte. Außerdem nahm er Führungspositionen in der PR-Branche in Hessen wahr. Weirich, der sich selbst als „liberalkonservativen Streiter” sieht, gilt als ebenso unabhängig wie konfliktfreudig.