Von Gisbert Kuhn

Autor Gisbert Kuhn

Dem Vogel Strauß wird nachgesagt, dass er den Kopf in den Sand stecke, wenn Gefahr in Verzug sei. Will sagen: Das Tier möchte am liebsten gar nicht sehen, was um es herum passiert. Man spricht deshalb auch gern von „Vogel-Strauß-Politik“, wenn Regierungen, Parteien oder Wirtschafts-Unternehmen unangenehme Entwicklungen entweder bewusst nicht zur Kenntnis nehmen oder schwierigen Entscheidungen aus dem Weg zu gehen versuchen. Freilich findet man ein solches Verhalten keineswegs nur bei „denen da oben“. In der zivilen Gesellschaft – nicht zuletzt hierzulande – ist es genau so ausgeprägt.

Wann hat eigentlich die Außenpolitik, also eine eingehende Beschäftigung mit bewegenden Vorgängen jenseits unserer Grenzen, dieses Volk das letzte Mal aufgewühlt? Man muss schon lange zurückdenken, um sich an solche Momente zu erinnern. Das Zerbröseln des Kommunismus und der damit einhergehende Zerfall der Sowjetunion plus ihres osteuropäischen Staaten-Imperiums sowie der deutschen Wiedervereinigung mögen dazu gehören. Obwohl – von den Blütenträumen etlicher Zeitgenossen vom Ausbruch des ewigen Friedens und dem Einkassieren einer „Friedensdividende“ einmal abgesehen, hatte die Dramatik der damaligen politischen Erdbeben weite Teile der deutschen Öffentlichkeit nicht wirklich durchgeschüttelt.

Zumindest nicht in Westdeutschland. Hier schaute man dem seinerzeitigen Geschehen mehr oder weniger staunend zu, ließ sich dann kurzzeitig von der nationalen Begeisterung der Wiedervereinigung mittragen, um sich anschließend über die hohen Kosten und die „Undankbarkeit der Ossis“ zu ärgern. Vorgänge anderswo auf der Welt spielen und spielten hierzulande eigentlich nur dann eine Rolle, wenn sie in ihren Konsequenzen direkt auf uns durchschlugen. Der Zustrom von Flüchtlingen vor allem um 2015 herum nach Deutschland gehört dazu. Dass die Ursachen dafür (wie fast immer) Krieg und Hunger waren (und unverändert sind) wurde weitgehend ähnlich fatalistisch zur Kenntnis genommen wie es einstmals im deutschen Bürgertum mit dem wohligen Bekenntnis des zufriedenen Bürgers in Goethes „Faust“ der Fall war: „Nichts Bess´res weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen/als ein Gespräch zu Krieg und Kriegsgeschrei,/wenn hinten – weit in der Türkei – die Völker aufeinander schlagen“.

Das alles stimmt nicht? Ist zumindest weit übertrieben? Wer das sagt, möge bitte nachweisen, dass (und wenn ja, wann) Außenpolitik im Denken unserer Gesellschaft während der – sagen wir 20 – vergangenen Jahren eine dominante Rolle eingenommen hätte. Und zwar sowohl im öffentlichen Denken, im politischen Streit und im Handeln. Sozialpolitik mit Löhnen und Renten – ja natürlich, und auch zu Recht. Klimaschutz – ja natürlich. Ebenfalls zu Recht, aber auch mit abenteuerlichen Auswüchsen für die Energieversorgung beim sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie sowie in relativ wenigen Jahren aus Kohle und Gas. Und dies, ohne Ersatz zu haben.

Und jetzt? Da hat Russlands starker Mann, Wladimir Putin, weit mehr als 100 000 einsatzbereite Soldaten mit hunderten von Panzern, Raketen und „Stalinorgeln“ rundum die Ukraine postiert sowie im Schwarzen Meer eine Armada von Kriegsschiffen auffahren lassen. Wozu? Er plane und wolle keinen Krieg, sagt er jedem Besucher. Aber zugleich fordert er unverblümt, dass der Westen die inzwischen von NATO und EU aufgenommenen einstigen osteuropäischen Vasallenstaaten der Sowjetunion (Polen, Ungarn, die drei Baltischen Länder, Rumänien, Bulgarien) wieder russischem Zugriff ausliefern soll. Das braucht uns nichts zu bekümmern? Denn schließlich droht der Kreml-Herrscher ja nicht uns!

Die Mehrheit der Deutschen scheint so zu denken. Über die Hälfte der erst vor Kurzem Befragten stimmte jedenfalls der Frage zu: „Was geht uns die Ukraine an“? Mit anderen Worten – dem spätestens durch den Ost/West-Ausgleich am Ende des vorigen Jahrhunderts überwunden geglaubten vermeintlichen Recht des Stärkeren auf gewaltsame Grenzveränderungen scheint man inzwischen nicht mehr unbedingt Widerstand entgegensetzen zu wollen. Was geht hier vor? Welch ein Denken greift bei uns Platz? Ist das schon jene aus Wohlstand und Sattheit erwachsene Schwäche, die zum Beispiel die chinesische Führung in der westlichen Gesellschaft ausgemacht zu haben glaubt?  Jene auf militärische und wirtschaftliche Welt-Dominanz strebende fernöstliche Macht, die sehr genau Putins Annexion der Krim-Halbinsel, besonders jedoch deren faktische Akzeptanz durch den Westen verfolgt hat. Und die – vor diesem Hintergrund – ganz gewiss kühl die Folgen durchkalkuliert, die ein Zugriff auf den „abtrünnigen“ Inselstaat Taiwan auslösen würde.

Sollte Wladimir Putin tatsächlich einen Überfall auf die Ukraine befehlen, würde das keinen militärischen Gegenschlag der NATO auslösen. Denn damit träte ja nicht der Bündnisfall nach Artikel 5 des Allianz-Vertrages in Kraft. Trotzdem würde ein solcher Schritt, so wie sie heute ist, die Welt verändern. Die Balance zwischen Frieden und Gewalt wäre zerstört. Und die wirtschaftlichen Folgen wären verheerend. Die Energiekosten würden ins All schießen, Hilfen für die armen Länder vor allem Afrikas müssten zurückgefahren werde, neue Ströme von hunderttausenden Flüchtlingen nach Europa wären kaum zu verhindern.

Wir erleben in diesen Tagen zahlreiche politische Versuche, das Unheil doch noch zu verhindern. Jene idiotische Katastrophe, die alle Welt doch sehen kann. Aber wo sind die machtvollen Demonstrationen, die sonst so einfach auf unseren Straßen organisiert werden. Für die Klimarettung, gegen eine Impfpflicht, für halt alles Mögliche. Wo sind jetzt die Aufmärsche für die bedrohten Menschen in der Ukraine, die sich nach Solidarität und Hilfe sehnen? Dazu müssten sich die Protestler gar nicht einmal an die Straße kleben oder Zufahrten zu Krankenhäusern und Pflegen-Einrichtungen blockieren. Wo sind die selbst ernannten neuen Friedensengel der nach dem Untergang der DDR mehrfach umgetauften SED-Nachfolger?

Es mag unfair sein, sich vorzustellen, was sich auf den deutschen Straßen und Plätzen abspielen würde, wenn die USA mal wieder Gelegenheit zu demonstrativer Empörung böten. Also lassen wir das auch. Aber ein Weckruf, sich doch endlich einmal wirklich zu Gemüte zu führen, wie ganz aktuell Teile der Welt dabei sind, diese auf den Kopf zu stellen, der sollte schon gehört werden. Am besten, bevor Wladimir Putin uns alle erleben lässt, was er mit „militärisch-technischen Maßnahmen“ meint.  

 

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.    

   

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