Louis Garrel, Juliette Jouan © CG Cinema

Magischer Realismus – wäre dies nicht bereits ein seit rund hundert Jahren etablierter Kunstbegriff, müssten wir ihn wohl für den Filmemacher Pietro Marcello („Martin Eden“) erfinden. Der 1976 in der italienischen Stadt Caserta geborene Regisseur bringt nicht nur kurzes dokumentarisches Archivmaterial mit einer fiktiven Geschichte zusammen, sondern lässt in seiner Inszenierung auch Fantastik und Wirklichkeitstreue ganz konfliktfrei miteinander verschmelzen. Das Drehbuch zu seinem neuen, in der nordfranzösischen Provinz angesiedelten Werk “Die Purpursegel”, das er zusammen mit Maurizio Braucci und Maud Ameline geschrieben hat, ist eine lose Adaption des gleichnamigen, 1923 veröffentlichten Romans des russischen Schriftstellers Alexander Grin.

Der Krieg ist aus, als Raphaël nach Hause zurückkehrt, aber nichts mehr ist, wie es war. Seine Frau Marie starb bei der Geburt der Tochter Juliette, um die er sich nun kümmern muss. Beide finden Unterschlupf im Gehöft von Adeline, im Dorf werden sie aber misstrauisch beäugt. Raphaël fällt es schwer, Arbeit zu finden, während Juliette älter wird und verträumt auf das Leben blickt. Eines Sommers begegnet die junge Frau Juliette einer alten Hexe, die ihr weissagt, dass eines Tages am Himmel ein Purpursegel erscheinen und sie in die Welt hinaustragen wird. Die Jahre vergehen, die Prophezeiung ist fast vergessen, da taucht der Bruchpilot Jean auf.

Raphaël Thiéry, Juliette Jouan © CG Cinema

Marcello nutzte für sein Werk 16mm-Film. Er hat damit ein Bildformat gewählt, das der Zeit entspricht, in der der Film spielt. Zudem nutzt er auch altes Archivmaterial, so etwa am Anfang, als die Soldaten aus dem Krieg zurückkehren, und vermengt es mit seinem Film, wodurch ein immenses zeitgeschichtliches Gefühl auftritt. Tatsächlich mutet „Die Purpursegel“ immer wie ein Film an, der vor langer Zeit gedreht wurde. Die etwas verwaschenen Farben, das Format, die Bildfehler – all das lässt ihn wirken, als hätte man einen lange Zeit verschollenen Film vor sich.

Der Film gebärdet sich dabei märchenhaft. Nicht von Anfang an, aber im Verlauf. Anfangs sind es noch die eher realistischen Elemente, die ansprechend sind, wenn man zusieht, wie Raphaël versucht, sich ein neues Leben aufzubauen, aber immer wieder am Starrsinn der anderen scheitert. Raphaël Thiéry ist ein Bär von einem Mann. Ein Koloss, der aber warmherzig ist. Ein Mann mit enormen Pranken, die vom harten Leben eines Drechslers geformt wurden. Immer wieder zeigt Marcello sie, korrelierend mit dem Alexander-Grin-Zitat, mit dem der Film beginnt: „Wir müssen die so genannten Wunder mit eigenen Händen vollbringen.“

Wundersam ist auch der Film, wenn der Fokus sich verändert und Juliette in den Mittelpunkt rückt. Da wird er märchenhaft, die Bilder werden sogar kitschiger. Die junge Frau auf einem Baumstamm am Ufer – das ist ein Bild, das man sich gemalt an die Wand hängen könnte. Immer wieder gelingen Marcello solch imposant schöne Bilder, während der Realitätsanspruch des Films schwindet, aber dafür ersetzt wird durch etwas geradezu Magisches, das man am besten auf der Kinoleinwand erlebt.

Frankreich / Italien / Deutschland 2022
Regie: Pietro Marcello
Buch: Pietro Marcello, Maurizio Braucci
Darsteller: Raphaël Thiéry, Juliette Jouan, Noémie Lvovsky
Länge: 100 Minuten
Verleih: Piffl Medien
Kinostart: 6. Juli 2023

 

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