Keine Sippenhaft

Klare Kante gegen die russische Invasion der Ukraine. Aber nicht gegen Menschen, die aus Russland stammen oder Russisch sprechen.

 

Die Liste der europäischen Unternehmen, die sich an der Isolation Russlands beteiligen, scheint länger als die derjenigen, die es (noch) nicht tun. Die Auswirkungen auf Russland sind weitreichend. Für in Bälde ehemalige Zulieferer, Arbeitnehmerinnen, Verbraucher geht es um hunderttausende Arbeitsplätze und eine fundamentale Veränderung der russischen Wirtschaft. Wir werden Zeugen einer selbstverschuldeten, gewaltsamen Entflechtung, quasi einer Deglobalisierung der russischen Wirtschaft. Es ist mehr als fraglich, ob letztere das überleben kann.

Besonders bemerkenswert ist, dass diese Reaktionen des Westens de facto privat sind: eigenverantwortliche unternehmerische Entscheidungen, die die Position der Vorstände, Aktionärinnen, Investoren und Mitarbeiterinnen zum Ausdruck bringen. Klar, es gibt auch harte Argumente gegen das fortgesetzte wirtschaftliche Engagement in Russland: Zahlungsschwierigkeiten, Kaufkraftverlust, Kollaps der Lieferketten, Reputationsschäden zu Hause. Aber da ist eben mehr. Es wäre wahrlich keine Neuigkeit, dass private Akteure Sanktionen aussitzen oder umgehen. Aber sie tragen den Sanktionskurs nicht nur mit, sie machen auch gemeinsame Sache mit ihren Regierungen und potenzieren die Effekte damit um ein Vielfaches.

Natürlich ist jetzt der Zeitpunkt zu prüfen, welche internationalen Verbindungen der Regierung in Moskau nützen oder gar den Krieg verlängern.

Hier geht es nicht mehr um Handelssysteme und völkerrechtliche Instrumente. Es ist eine neue Dimension des europäischen Sanktionsverhaltens. Keine rein „politischen“ oder „wirtschaftlichen“ Sanktionen – hier geht es um gesellschaftliche Strafmaßnahmen. Sie sind Ausdruck der tiefen Spaltung auf diesem Kontinent. Es geht um Ächtung und Verurteilung. Eine symbolische Vertreibung Russlands aus Europa. Ein kontinentales Scherbengericht.

Die Isolation von allem, wo „Russland“ draufsteht, geht weit über die mechanistische Logik von Aktion-Sanktion-Mustern hinaus. Wir beobachten einen nahezu kompletten Ausschluss russischer Sportlerinnen und Sportler aus dem internationalen Geschehen. Der DAAD unterbricht Austauschprogramme mit Universitäten in Russland, die Frankfurter Buchmesse beendet ihre Kooperation mit russischen Verlagen, europäische Festivals setzen russischen Musikerinnen und Musikern Fristen, in denen diese sich vom Handeln der russischen Regierung distanzieren müssen.

Nicht dass wir uns falsch verstehen: Natürlich ist jetzt der Zeitpunkt zu prüfen, welche internationalen Verbindungen der Regierung in Moskau nützen oder gar den Krieg verlängern. Es gibt Wissenschaftsprogramme, die technologisch brenzlig wären, wenn sie weiterliefen. Es gibt russische Literatur, die propagandistische Töne hat. Es gibt prominente Künstler aus Russland, die sehr systemnah sind und offizielle Positionen der russischen Regierung vertreten. Es ist klar, warum es in diesen Fällen zum Bruch kommen muss.

Der entschiedene Beistand des Westens mit den Ukrainerinnen und Ukrainern ist berechtigt und wichtig. Über seine bittere Notwendigkeit muss man nicht diskutieren.

Der entschiedene Beistand des Westens mit den Ukrainerinnen und Ukrainern ist berechtigt und wichtig. Über seine bittere Notwendigkeit muss man nicht diskutieren. Aber gerade wegen seiner Wucht und Dynamik lässt er keine Zeit zum Luftholen. Und das birgt die Gefahr zu übersehen, welche Konsequenzen im Schatten der Konfrontation mit Russland drohen.

Ein prominenter deutscher Journalist, bekannt geworden über seine aufklärerische, antirassistische Arbeit behauptet unumwunden, man müsse Menschen aus Russland, die in Deutschland leben, also auch Russlanddeutsche, sehr wohl fragen, wie sie zu Putin stehen. In solch einem Konflikt könne und dürfe niemand neutral sein. Eine Münchner Klinikdirektorin will grundsätzlich keine russischen Patienten mehr behandeln und verweist dabei auf den Völkerrechtsbruch der Invasion als Grund. Eine italienische Universität sagt eine Dostojewskij-Vorlesung ab, um „Spannungen zu vermeiden“. Ein süddeutsches Restaurant gibt bekannt, russische Staatsbürger nicht mehr bedienen zu wollen.

Am 11.3. verüben Unbekannte in Berlin einen Brandanschlag auf die deutsch-russische Lomonossow-Schule. In Helsinki wird ein russisches Reisebüro beschmiert, dessen Logo eine Kreml-Silhouette trägt. Deutsche Lebensmittelketten nehmen „russische“ Lebensmittel aus den Regalen (die meisten „russischen“ eingelegten Gurken, Dosensprotten und tiefgefrorenen Teigtaschen kommen übrigens trotz ihrer folkloristisch aufgemachten Verpackung aus EU-Ländern). Berliner Kneipen und Cafés mit russischen Namen oder Stilistik werden online mit Bewertungen überschüttet, die sinngemäß sagen: „Euer Essen schmeckt nach Blut.“

Die Übergriffe und Anfeindungen sind kein repräsentatives Phänomen. Aber sie bleiben sehr wohl nicht ohne Einfluss.

Alles Einzelfälle? Ich denke, ehrlich gesagt, ja. Es ist kein repräsentatives Phänomen. Aber es bleibt sehr wohl nicht ohne Einfluss. Der Vexierspiegel der sozialen Medien kann einzelne Vorfälle zu einem Trend anwachsen lassen. Freie russischsprachige Medien und Online-Communities folgen diesen Ereignissen aufmerksam und berichten mit Sorge von einem tatsächlichen Stimmungsumschwung. Regierungsmedien aus Russland instrumentalisieren diese Vorfälle, blasen sie zur Szenerie einer um sich greifenden Russophobie auf. Es gebe kein Zuhause für Russen, ihre Sprache und Kultur außerhalb der Russischen Föderation, so das Credo.

In Unterhaltungen mit russischsprachigen Freunden und Bekannten spürt man das getrübte Klima. Das Gefühl der Enge. Öfters auch das Gefühl der Scham, ein Bedürfnis sich schon vor der ersten Nachfrage als ein „guter Russe“ zu outen, sich klar zu distanzieren. Als gäbe es eine nicht ausgesprochene Mitschuldvermutung bei jeder und jedem, die russisch sind. Und wer russisch ist, das will Margarita Simonjan, Chefredakteurin von Russia Today, politisch definieren: „Wenn Ihr Euch jetzt dafür schämt, dass Ihr Russen seid, seid unbesorgt. Ihr seid keine.“ Darf deswegen die Gegenprobe wirklich heißen: „Wenn Ihr Euch nicht schämt, Russen zu sein, dann seid Ihr Putins Handlanger.“?

Vor allem für die Älteren, für die letzte vollständig sowjetisch sozialisierte Generation, die in Deutschland lebt, ist dieser Krieg schwer in Worte und Gedanken zu fassen.

Die russische Sprache als Hauptmerkmal der russischen Identität ist ins Kreuzfeuer geraten. Vereinnahmung seitens der russischen Regierung. Generalverdacht seitens übereifriger Demokratieverfechter im Westen. Ein großer Teil der Spätaussiedler in Deutschland spricht Russisch als Muttersprache, war aber nie in Russland oder der Ukraine. Viele Menschen aus der Ukraine sprechen Russisch im Alltag. Die russische Sprache ist zentral für die meisten jüdischen Zuwanderinnen und Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Man kann aus Russland stammen und eine andere Muttersprache haben, zum Beispiel weil man einer ethnischen Minderheit angehört. Man kann ethnische Russin sein und aus einem anderen Land kommen wie Estland, Usbekistan oder Aserbaidschan. Man kann weder Russisch sprechen noch aus Russland stammen, aber gerne in russischen Supermärkten einkaufen.

Vor allem für die Älteren, für die letzte vollständig sowjetisch sozialisierte Generation, die in Deutschland lebt, ist dieser Krieg schwer in Worte und Gedanken zu fassen. Nicht wenige haben sowohl Verbindungen nach Russland als auch in die Ukraine. Viele engagieren sich nun, nehmen Geflüchtete auf, senden Hilfspakete. Bei denjenigen, die in der Sowjetunion aufgewachsen sind, lösen die Nachrichten ganz andere, in Vergessenheit geratene Assoziationen und Traumata aus. In der sowjetischen Geschichte des 20. Jahrhunderts kam es immer wieder dazu, dass vor allem „kleine Menschen“ unter die Räder von Kriegen und Repressionen gerieten. Ich habe mit alten Männern gesprochen, die wegen der vermeintlich „anti-russischen“ Stimmung in Deutschland damit rechnen, nun von den deutschen Behörden deportiert zu werden.

Ambiguitäten aushalten und Komplexitäten anerkennen ist etwas, was freie Gesellschaften besser können als ihre autoritären Gegenspieler.

Es gibt auch Lichtblicke. In den letzten Tagen lese ich von revidierten Entscheidungen, öffentlichen Entschuldigungen, zurückgenommenen Vorwürfen, mahnenden Worten der Regierung, nicht zu vergessen, was das Zusammenleben unterschiedlicher Menschen in Deutschland ausmacht: Toleranz. Geduld. Ein Blick fürs Detail. Das ist wichtig. Aber die mediale Welt des 21. Jahrhunderts ist anders gestrickt: Angst verkauft sich besser als Mäßigung. Eine Richtigstellung wird seltener geteilt als der Originalpost. Dementi erreichen selten die Reichweite des Dementierten.

Ambiguitäten aushalten und Komplexitäten anerkennen ist etwas, was freie Gesellschaften besser können als ihre autoritären Gegenspieler. Das macht sie aus. Eine offene Gesellschaft kann geschlossen handeln, ohne dass sie dafür einen imaginierten „inneren Feind“ an die Wand malen muss. Und ja, sie hat Feinde. Aber sie lassen sich nie durch eine ethnische, nationale, linguistische Kontur erkennen. Das „Othering“ von Russischsprechenden in Deutschland wäre das erste wirkliche Einknicken im Kampf um die offene Gesellschaft, der gleichermaßen in der Ukraine, in Russland und in Europa ausgetragen wird.

Russisch ist keine Sprache einer Despotie. Sie kann, war und wird eine Sprache der Freiheit und Humanität sein. Und zwar nicht stets im Sinne eines Dissidententums – das kann es immer nur als Gegenseite der staatlichen Repression geben –, sondern ganz normal, als eine freie und laute Sprache in der Familie europäischer Sprachen. Das Russische gehört genauso wenig der Russischen Föderation wie das Deutsche der Bundesrepublik oder das Englische dem Vereinigten Königreich gehört. Sie gehört den Menschen, die es sprechen. Und diese sind auch in Deutschland zu Hause.

Alexey Yusupov ist Referent im Referat Osteuropa der Friedrich-Ebert-Stiftung. Zuvor leitete er die FES-Büros in Myanmar und Afghanistan.

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