Von Gisbert Kuhn

Gisbert Kuhn

Auf kaum eine andere Institution wird so viel geschimpft, wie auf die Europäische Union. In kaum ein anderes politisches Gebilde wird gleichzeitig aber auch so viel Hoffnung gesetzt wie in die EU. Unbeweglich sei sie, zetern die Kritiker, ein „aufgeblähter Wasserkopf“ und ein „bürokratisches Monster“, das „nur unser Geld verschwendet und unfähig ist, Probleme zu lösen“. Falsch, entgegnen die Anderen. Natürlich könne man Probleme nicht leugnen. Trotzdem sei die Gemeinschaft „das Beste, was die Europäer in ihrer Geschichte jemals auf die Beine gestellt“ hätten. Nach vielen Jahrhunderten mit blutigen Kriegen als Folge von Machtgier, religiöser Intoleranz und nationalistischem Hass sowie als Lehren aus zwei fürchterlichen Weltkriegs-Katastrophen sei von klugen Politikern ein (im ureigensten Sinne des Wortes) grenzenloses Gebilde geschaffen worden, das zudem für Frieden, Freiheit, Wohlstand, Gleichheit, und Demokratie stehe. Nie zuvor in der Geschichte des „Alten Kontinents“ sei es den Bürgern so gut gegangen wie jetzt. Und zwar wirtschaftlich, sozial und gesellschaftspolitisch.

Es ist eine lange, wechselvolle Geschichte voller Spannungen und Krisen, aber auch Erfolgen und historischen Begebenheiten, die sich vollzogen hat, seit mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) zu Beginn der 50-er Jahre vorigen Jahrhunderts der Grundstein für das gelegt wurde, was sich anschließend als Europäische Wirtschafts-Gemeinschaft (EWG) und Europäische Gemeinschaft (EG) zur EU entwickelte. Fünf Länder in West und ein Staat in Südeuropa waren es, deren Führungen seinerzeit als erste bereit waren, Teile ihrer Souveränität abzugeben. Sie zu „vergemeinschaften“, wie es in der Bürokratensprache hieß: Deutschland (genauer: die Bundesrepublik), Frankreich, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg. „Wer nicht mehr frei über Energie und Stahl verfügen kann“, hatte der seinerzeitige französischen Außenminister Robert Schuman diese (in ihrer Bedeutung von Vielen heute kaum mehr nachvollziehbare) Entscheidung begründet, „kann auch keine Kriege mehr erklären“. Und für die als Verursacher des 2. Weltkriegs verfemten Deutschen, war es der erste Schritt zur Wiederaufnahme in den Kreis der freien, demokratischen und zivilisierten Völker.

Inzwischen umfasst die EU 27 Mitglieder. Bis zum „Brexit“, also dem Austritt Großbritanniens 2020, waren es sogar 28. Und wer die Entwicklung von der EGKS zur EU ganz oder auch nur teilweise erlebt hat, weiß, dass es sich eigentlich fast immer um eine Abfolge von Krisen und Auseinandersetzungen, Fortschritten und Rückschlägen, Aufs und Abs, faulen und gewinnbringenden Kompromissen handelte. Aber eines war neu und bis dahin auch unbekannt – die Konflikte, Zwistig- und Gegensätzlichkeiten wurde nicht mehr gewaltsam (also durch Krieg) gelöst, sondern einvernehmlich über ein ausgleichendes Geben und Nehmen. Das Ergebnis: Mehr als 70 Jahre lang hat Europa keinen Krieg mehr erlebt – die längste Epoche seiner Historie.

 Das ist, fraglos, ein Triumph menschlicher Vernunft. Nämlich, dass es gelang, ein über Jahrhunderte hinweg gepflegtes Denken in nationalen Kategorien wenigstens partiell zugunsten eines grenzübergreifenden, mitunter sogar solidarischen Handelns zu überwinden. Ja, dieser Zustand war bis vor kurzem Normalität geworden in der Gemeinschaft. Wer heute als Teenager mit dem Flugzeug oder per „Interrail“ von Hamburg nach Palermo oder von Köln nach Budapest reist, ohne auch nur ein einziges Mal einen Ausweis zeigen zu müssen, für den ist es natürlich schwierig, sich vorzustellen, welch bange Gefühle bei der Annäherung an die belgische Grenze einen 17-Jährigen beschlichen haben, der 1958 fünf Tage lang mit dem Fahrrad von Frankfurt zur Weltausstellung nach Brüssel fuhr. Und damit zum ersten Mal überhaupt ausländischen Boden betrat.

Außer dem Grundgedanken der Grenzaufhebung und (wenigstens theoretisch) Überwindung rein nationalen Denkens hat die EU von heute nichts mehr gemein mit der EWG oder gar der EGKS von einst. Die Gemeinschaft hat sich ausgedehnt nach Süden, Norden und – seit dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Zerfall der Sowjetunion – auch nach Osten. Sie musste gefährliche Situationen meistern. Zum Beispiel als 1965/66 Frankreichs damaliger Staatspräsident Charles de Gaulle mit einer „Politik des leeren Stuhls“ den Beitritt Londons zu verhindern versuchte. Oder als 1984 Großbritanniens „Eiserne Lady“ Margret Thatcher („Ich will mein Geld zurück“) unter Einsatz ihrer Fäuste und Handtasche den so genannten Briten-Rabatt erkämpfte und damit die Blockade der politischen Handlungsfähigkeit aufhob. Oder als sich der schwierige Partner von der Themse 2020 – allgemein sehr bedauert – mit dem Brexit doch wieder von „Europa“ verabschiedete.

Die größte Fehlentscheidung „Brüssels“ (wobei es in Wahrheit natürlich die Mitgliedsregierungen waren) ist freilich die 2002 auf dem Kopenhagener EU-Gipfel beschlossene Erweiterung nach Osten und Südosten um gleich zehn neue Länder auf einen Schlag gewesen. Besonders Deutschland hatte damals Druck gemacht; die seinerzeitige rot-grüne Bundesregierung Schröder/Fischer stand vor allem bei Polen im Wort. Keine Frage, die (allerdings allein von Österreich voll unterstützte) deutsche Idee war im Prinzip richtig. Die Integration Warschaus in die Europäische Gemeinschaft sollte – zum einen – der Dank sein für die Rolle, die Polen in der Zeit der Befreiung vom sowjetischen Joch 1989/90 gespielt hatte, aber – zum anderen – auch Stabilität in die politisch noch labile Region bringen. Allerdings rangierte Polen damals bei der Umsetzung der Beitrittsbedingungen ganz hinten auf der Liste der Kandidaten.

Es ging, und das gilt auch jetzt noch, um die „Kopenhagener Kriterien“. Also um jene Grundwerte, zu denen sich jeder bekennen muss, der an die EU-Pforte pocht und um Einlass bittet: Einhaltung der Menschenrechte, Pluralismus, Geschlechtergleichheit, Nichtdiskriminierung, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie um den Schutz von Minderheiten. Diese polit-moralische Messlatte hatten die damaligen EU-Mitglieder 1993 bei ihrem Treffen in der dänischen Hauptstadt aufgelegt. Was sie freilich – und zwar im Wissen um ihre Uneinigkeit – versäumten, war, die Gemeinschaft selbst aufnahmefähig zu machen. Im Klartext, die inneren und äußeren, rechtlichen und politischen, Voraussetzungen zu schaffen, um auch in Zukunft entscheidungs- und damit handlungsfähig zu sein. Und das bedeutet vor allem, dass in wirklich wichtigen Punkten weiterhin Einstimmigkeit herrschen muss. Ein schier unmögliches Unterfangen in einem Gebilde, das (mit Ausnahme der allseits vorhandenen Finanzwünsche) so viele unterschiedliche Interessen, Mentalitäten, Probleme, Wünsche usw. in sich versammelt hat wie die Brüsseler Gemeinschaft.

Gäbe es nicht diesen entsetzlichen Überfall Russlands auf die Ukraine, würde man vermutlich nur kopfschüttelnd den Beitrittswunsch der Ukraine oder Moldaviens zur Kenntnis nehmen. Beide erfüllen nicht auch nur annähernd die erwähnten Kriterien. Nun steht ihre Aufnahme ja nicht unmittelbar bevor, aber sie erhielten jüngst den „Kandidaten-Status“. Sehr zum Ärger, übrigens, jener Länder zum Beispiel auf dem Balkan oder auch der Türkei, die zum Teil schon seit 15 Jahren oder gar länger auf dieser Warteliste stehen. Zu Recht, natürlich. Die EU ist, es sei nochmal erwähnt, ein Friedensprojekt. Es gliche daher fast schon einem Akt der Selbstzerstörung, würde man Staaten an Bord holen, die sich gegenseitig spinnefeind sich, wie etwa Bulgarien und Nordmazedonien oder Serbien und das Kosovo. Nirgendwo dort herrscht Rechtsstaatlichkeit, überall grassiert in hohem Maße die Korruption. Die Liste ließe sich leicht fortsetzen.

Natürlich wünschen sich die Menschen Freiheit und Wohlstand wie im Westen. Und dass die Regierungen vor allem auf die diversen Brüsseler Finanzprogramme spekulieren, dürfte ebenfalls niemanden überraschen. Aber dafür wurde die Union nicht gemacht. Und die Erfahrungen mit Polen und Ungarn sind ebenfalls alles andere als geeignet, weitere Nachahmer nachzuziehen. Die in Warschau regierende rechts- und klerikal-nationale Partei für Recht und Gerechtigkeit (PIS) oder der ähnlich gestrickte ungarische Bürgerbund FIDESZ von Viktor Orban sind abschreckend genug. Abschaffung von Meinungsfreiheit und Pressevielfalt, mitunter geradezu bigotte Moralvorschriften, Ausverkauf wichtiger Infrastrukturen (Ungarn: Eisenbahn) an China usw. – schon damit wird die EU nicht fertig. 

Das ist die Lage! Und die beschreibt weder einen angenehmen aktuellen Zustand noch erlaubt sie einen optimistischen Blick in die Zukunft. Natürlich würde eine EU-Mitgliedschaft den Menschen in der Ukraine gefühlsmäßig ein Stück mehr Sicherheit geben. Aber ist das Grund genug, einem Kriegsland den Beitritt zu erlauben – unter Umgehung sämtlicher notwendigen Voraussetzungen? Auch die Ukraine „erfreute“ sich vor dem russischen Überfall einer hohen Korruption. Auch dort bestimmte das Geld mächtiger Oligarchen die Zusammensetzung von Regierung und Parlament. Mag ja sein, dass die von Putin gesandten Bomben und Granaten ein bisher nie gekanntes Nationalgefühl zusammenschießen. Und es ist gewiss richtig (und unvermeidbar), größtmögliche Hilfe zu leisten. Jetzt und, vor allem, bei Wiederaufbau nach dem Krieg. Aber die Aufnahme der Ukraine und Moldaviens – und das werden nicht die einzigen neuen Bewerber bleiben – wird noch lange auf sich warten lassen.

Wobei die Frage nach der Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union ja ebenfalls noch unbeantwortet ist. Die ewige Krise wird also andauern. Genau, freilich, wie die Hoffnung auf Beitritt.

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.

 

 

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