Heimweh. Verschickungskinder erzählen
Rezension von Dr. Aide Rehbaum
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Anja Röhl: Heimweh. Verschickungskinder erzählen
Die Sonderpädagogin Anja Röhl legt hier Auszüge aus ihren Interviews vor, die sie für ihr Buch „Das Elend der Verschickungskinder“ durchgeführt hat.
Schier unerträglich liest sich, was die Kinder z.T. mehrfach in verschiedenen Heimen in den vierziger bis neunziger Jahren erleben mussten. Besonders die Vierjährigen bekamen oft vorher nichts oder Falsches erzählt, was sie da erwartete. Danach wurde ihren Erzählungen oft kein Glauben geschenkt, wodurch sie jegliches Vertrauen in ihre Eltern verloren. Für diejenigen, die schon von zuhause eine gefühlskalte Atmosphäre kannten, war es nicht weniger schlimm als für die, deren Mütter wegen Überforderung, eigener Krankheit oder Vertrauen in die Ärzte der Verschickung zustimmten, in der Annahme, dem Kind etwas Gutes zu tun. Wenn es mal Beschwerden bei den verantwortlichen Stellen gegeben hat, wurden diese dort ignoriert. Mögen manchmal die Träger der Institutionen von den Verhältnissen vor Ort nichts gewusst haben, so gab es andere Jugendämter oder Kinderärzte, die gegen besseres Wissen die Aufenthalte zur Kräftigung empfahlen.
Die Palette der willkürlichen Strafen im Heim reichte von Einzelhaft in dunklen Räumen über Schläge, Demütigung, bis zu Zwangsmaßnahmen bei Essen und Toilettengang. Die Erzieherinnen waren offensichtlich danach ausgesucht, dass sie Kinder als Gegner betrachteten, deren Willen zu brechen war. Wenige freundliche Personen verloren schnell ihre Arbeit. Das Separieren von Geschwistern gehörte ebenso dazu, wie die Wegnahme von Kuscheltieren oder Süßigkeiten, die Zensur von Briefen. Ruhigstellen, Mästen, Solidarität unterbinden waren die Hauptziele der fast an KZ-Wärter erinnernden Angestellten. Alles wurde reglementiert, Nahrungsaufnahme und -abgabe, Tagesablauf, Schlafen. Selbst Spielen und Ausflüge erinnern an Freigang für Gefangene. Damit das Heim mit Gewinn arbeiten konnte, wurde am Essen gespart, Wäsche selten gewaschen. Die Kinder kamen nach sechs Wochen oft abgemagert, verstört und verwahrlost heim.
Die Bandbreite der Folgen reichte von psychosomatischen Beschwerden, deren Ursachen -jahrzehntelang verdrängt- erst in Therapien wieder zugänglich wurden, Albträumen, Ticks und posttraumatischen Belastungsstörungen. Andere blieben lebenslang misstrauisch und bindungsschwierig. Diese zweite Veröffentlichung zum Thema ist eine wertvolle Ergänzung der Analysen und Recherchen des ersten Bandes.
Verlag: Psychosozial-Verlag
228 Seiten, Gebunden, 148 x 210 mm
1. Auflage 2021
Erschienen im Oktober 2021
ISBN-13: 978-3-8379-3117-4, Bestell-Nr.: 3117
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