Gesellschaft im Dauer-Stress
Von Günter Müchler

Die lieben Mitmenschen werden immer wehleidiger. Der Satz ist oft zu hören. Er meint eine Haltung, die Anstrengung glaubt nicht aushalten zu müssen, die für jeden Verdruss „die Verhältnisse“ in Haftung nimmt, die jedes Risiko beim Staat ablädt und es für normal hält, dass für eigene Fehler und ihre Folgen die Allgemeinheit geradesteht. Halluziniert ist die Beobachtung nicht. Fragt sich bloß, welche Ursache die deutsche Wehleidigkeit hat. Soziologen sprechen von einer überforderten Gesellschaft.
Ältere Leute haben ein Gespür für Veränderungen. Gleichzeitig idealisieren sie gern die Vergangenheit. Sie behaupten: Damals war alles anders. Damals sorgte man, dass man vorankam. Es wurde angepackt und ansonsten ließ man den lieben Gott einen guten Mann sein. Junge Leute lächeln milde, wenn sie solche Sätze hören. Oder sie reagieren aggressiv. Den Vorwurf der Wehleidigkeit weisen sie als Unfug zurück oder tun ihn ab als schwächliche Riposte einer Generation, die mit der Tatsache ihrer Abdankung nicht zurechtkomme.
Die Menschen werden immer älter
Ganz so einfach ist das nicht. Es stimmt ja, die Zeiten waren schon mal objektiv schlechter. Im Krieg und noch lange danach ging es ums Ganze, um das Dach über dem Kopf, um das tägliche Brot. Und heute? Frauen und Männer werden immer älter, sogar solche, die vegetarisch leben. High-Tech-Medizin produziert neue Behandlungsmethoden am laufenden Meter, Ratgeber in Zeitschriften und im Internet versprechen Meilensteine für ein ewig Leben. Zugleich schrumpft die berufliche Arbeitszeit. Und trotzdem schnellen die Krankmeldungen nach oben. Wird die Arbeit in Büro oder Fabrik demnächst als Krankmacher rezeptpflichtig? Besonders rührig verläuft die Sichtung neuer Krankheiten im „mentalen“ Bereich. Bislang unbekannte Insuffizienzen werden entdeckt und mit Etikett versehen. Posttraumatische Störung und Diskriminierungsschaden geht immer.
Nun ist es aber einmal so, dass sich die Zeiten ändern. Bereits Heraklit wusste, dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigt. Panta rhei, alles ist in Bewegung. Wer sich nicht anpasst, geht unter. Mit dieser Herausforderung mussten die Älteren schon immer fertig werden. Sind in Wahrheit sie die Wehleidigen? Tatsache ist, der Anpassungsstress nimmt zu. Das Drehmoment hat enorm angezogen. Der Fluss fließt nicht mehr ruhig dahin. Er ist zum Katarakt geworden. Viele Ältere kommen nicht mehr mit. Sie kapitulieren.
Verunsprachlichung
Die Überforderung hat unterschiedliche Ursachen. Zu schaffen macht der multiple Angriff auf die Muttersprache durch Gendern und Denglisch. Wer kein Englisch kann, versteht nur noch die Hälfte. Hat einer unserer Sozialromantiker, die nicht müde werden, Inklusion zu predigen, je darüber nachgedacht? Noch mehr ans Wurzelwerk als die Verunsprachlichung geht die Digitalisierung. Die Digitalisierung ist ein sich selbst beschleunigender Prozess. Und weil sie weit in den Alltag hineingreift, kann man nicht einfach beschließen: ohne mich. Wohl dem, der Kinder hat oder noch besser Enkel. Die Langzeitwirkung der Digitalisierung auf die Gesellschaft in aller Breite auszumessen, ist eine Aufgabe der Zukunft. Doch schon jetzt ist klar, in der digitalen Welt mit ihren zahlreichen praktischen Vorteilen ist das Miteinander abgemagert. Man spricht weniger mit richtigen Menschen, trifft sich seltener, lotet Erfahrungen weniger aus. Stattdessen führt man Dauergespräche mit „Alexa“. Einsamkeit ist aktuell ein großes Thema. Schuld an der Vereinsamung des homo sapiens sei Corona, heißt es. Corona sei die Wurzel allen Übels. Tatsächlich ist es die Digitalisierung des Lebens, die desozialisiert.
Sie verstärkt eine Entwicklung, die auch andere Ursachen hat. Seit langem wird beobachtet, dass einstmals feste Institutionen ihre Bindekraft verlieren. Gewerkschaften beklagen Mitgliederschwund¸ die Kirchen noch mehr. Vereinen geht der Nachwuchs aus. Wie immer man diese Institutionen im Einzelnen beurteilt – sie haben Engagement freigesetzt, gemeinsame Erfahrung geschaffen und Heimat hergestellt, das heißt Bei-sich-sein. Was weggebrochen ist, muss ersetzt werden. Und das sieht dann so aus: Das Heer der Sozialarbeiter wächst schneller als die Bundeswehr.
Vom Vorbild zur Lachnummer
Der schwächer werdende Zusammenhalt ist auch in der Politik zu spüren. Den Volksparteien geht verloren, was einmal ihren Namen rechtfertigte. Die CDU immerhin stemmt sich dem Trend entgegen. Anders die SPD, die langsam um ihre Existenz fürchten muss. Mehrheiten zu finden, Regierungen zu bilden, wird immer schwieriger, nicht nur in Ostdeutschland. Die alte Bundesrepublik wurde beneidet ob ihrer Stabilität. Tempi passati? Abschied nehmen muss man von vielen Gewissheiten. Wirtschaftlich galt Deutschland traditionell als Zugpferd, sein Straßennetz als vorbildlich, der Schienenverkehr als zuverlässig. Inzwischen hinkt das einstige Wirtschaftswunderland in puncto Wachstum hinter den meisten Industrienationen her, auf den Autobahnen erübrigen unzählige Baustellen das Tempolimit, die Pünktlichkeit der Bahn ist eine Lachnummer.
Krisen hat es früher auch gegeben, so ist es ja nicht. Irgendwann dürfte auch die letzte Autobahnbrücke ersetzt sein, und die Züge werden wieder pünktlich verkehren. Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Warum soll es nicht auch mit der Wirtschaft wieder aufwärts gehen? Es wäre nicht die erste Rezession, die überwunden wird. Aber die gegenwärtige ist von besonderer Art. Es hapert nicht nur an mangelnder Investitionsbereitschaft. Die könnte – eine kluge Politik vorausgesetzt – angefacht werden. Aber es gibt andere Wachstums-Hemmer, gegen die so rasch kein Kraut gewachsen ist: Bürokratie und Demographie. Wir erinnern uns: Die erste Paragraphen-Entschlackung nahm sich der seinerzeitige Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher vor. Das war 1972. Die Reform endete wie das Hornbacher Schießen. Seither ist das Aufkommen an Regelungen, Vorschriften und Unterparagraphen immer nur gewachsen. Mit der Folge, dass auch vernünftige Vorhaben und Anstrengungen des Staates im Modder von Kontrollwahn und Einzelfallbedenklichkeit stecken bleiben. Die Demographie? Es ist leichter, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen als einen Mangel an Arbeitskräften, der darauf beruht, dass es einfach zu wenig Menschen für den Arbeitsmarkt gibt. Wer den demographischen Trend brechen will, muss in Generationen rechnen und auf wieder höhere Geburtenzahlen hoffen.
Auch nach dem Krieg kein „Willkommen“
Helfen kann nur der Import von Arbeitskräften. Nur leider haben Fehler der Vergangenheit und die schäbige Propaganda testosterongesteuerter Rechtsausleger das Thema Migration zu einem Minenfeld gemacht. Um eine kontrollierte Zuwanderung zu ermöglichen, müssen nicht nur Gesetze geändert werden. Beginnen muss alles mit dem Entschärfen der Minen. Erst wenn nüchtern, ohne Hass und ohne Beschönigung über Vorteile und Lasten der Migration geredet wird, wird der weitere Zuzug von Ausländern, den das Land dringend braucht, von der Zustimmung der Bevölkerung getragen werden.
Zu lange hat die Politik ihr Augenmerk einzig auf die Nöte der Migranten gerichtet, die keineswegs in toto schutzwürdig im Sinne des Asylrechts sind. Dabei setzt Einwanderung eine Gesellschaft unter Stress. Um das zu wissen, muss man sich nicht wie ein Historiker mit der Völkerwanderung beschäftigen. Es genügt, an das Schicksal der Millionen Flüchtling und Vertriebene nach dem Weltkrieg zu denken. Es waren Deutsche, die nach Westen strömten. Trotzdem wurden sie nicht mit offenen Armen empfangen. Diese Erfahrung hat man zu lange in den Wind geschlagen. Statt die Sitzbevölkerung mit ihren Sorgen und Ängsten ernst zu nehmen, wurde jede Klage umgehend als xenophob und rassistische verurteilt. Besonders hervor taten sich hierbei die Grünen. Umso bemerkenswerter ist der allmähliche Wandel in Gestus und Diktion, der in derem Lager feststellbar ist. Neulich räumte die Bundestagsabgeordnete Manuela Rittmann ein, es könne ein Zusammenhang zwischen Integration und der Menge der Aufzunehmenden bestehen. Diesen Verdacht hatte vor Jahren schon der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer von der CSU geäußert. Er verlangte eine Obergrenze bei der Einwanderung – und wurde dafür öffentlich, vor allem medial, ausgepeitscht.
Krieg tobt vor der Haustür
Migration ist Stress. Er muss jedoch von einer Gesellschaft ausgehalten werden, die auch sonst extrem unter Anpassungsdruck steht. So hatte man sich beispielsweise daran gewöhnt, Krieg als etwas zu betrachten, das nur am anderen Ende der Welt stattfindet. Nun tobt ein Krieg vor der Haustür Europas, und wir stehen vor Erkenntnissen, die uns den Schlaf rauben: Wir müssen mehr Waffen produzieren, erstens um unseren Freunden zu helfen und zweitens für die eigene Sicherheit. Wir müssen geopolitisch denken, statt selbstzufrieden nur an das eigene Wohnzimmer. Auch können wir uns nicht mehr darauf verlassen, dass andere für uns die Kastanien aus dem Feuer holen. Das alles sind fordernde Einsichten. Sie müssen in den Köpfen erst einmal verschaltet werden.
Ähnliches gilt für die Klimawende, die zweifellos größte Herausforderung, vor der wir stehen. Neueren Umfragen zufolge aber rückt das Klima in der Rangliste der Themen, die die Menschen umtreiben, weiter nach hinten. Warum? Weil der Stillstand der Rechtspflege in der Berliner Ampel-Regierung der Sorglosigkeit Vorschub leistet? Weil man sich an örtliche Unwetter gewöhnt hat? Weil schmelzende Gletscher nur im Fernsehen vorkommen? Oder einfach deshalb, weil zu viele Großkrisen gleichzeitig uns überfordern? Auch die Älteren müssen zugeben, es ist lange nicht mehr so viel auf uns eingeprasselt wie heute. Der Anpassungsstress ist enorm. Gewissheiten zerplatzen in Serie. Wer hätte gedacht, dass Jungwähler, die man lange als gesichert links einsortiert hat, plötzlich in Mehrheit AfD wählen? Wer hätte für möglich gehalten, dass ein Landesverband der CDU drauf und dran ist, ein Bündnis mit der Altkommunistin und Putin-Anhängerin Sahra Wagenknecht zu schließen? Wer schwere Krisen meistern will, darf neu denken und muss Kröten schlucken. Nur eines sollte er sich nicht leisten: Wehleidigkeit.
Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.
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