Zurück auf die gefährliche Schaukel
Von Gisbert Kuhn
In normalen Zeiten – also früher – hätte man sich wohl auch nicht über solche Wahlausgänge wie die vom 1. September in Thüringen und Sachsen und wenig später auch in Brandenburg gefreut, aber sich wahrscheinlich achselzuckend gesagt, dass es sich ja „nur“ um Regional-Ereignisse gehandelt habe und der politisch-gesellschaftliche Schaden überschaubar sei. Aber die Zeiten sind längst nicht mehr normal. Jedenfalls nicht in dem Sinn, dass sich einem die Gedanken an die Gegenwart und Zukunft beruhigt schlafen ließen. Dabei geht es gar nicht einmal allein um die verständliche Sorge, dass die Kriege um Israel und in der Ukraine unter Umständen unkontrollierbare Dimensionen annehmen könnten. Es geht um die ganz offensichtliche Rückkehr von eigentlich überzeugt demokratisch gesinnten Gesellschaften in Europa zu längst überwunden geglaubten nationalistischen, fremdenfeindlichen, rassistischen, antisemitischen bis hin zu faschistischen Ideen.
Ja, in ganz Europa – von Polen über Ungarn, ja eingeschlossen selbst die an sich traditionell sozialdemokratisch-liberal eingestellten Finnen, Schweden und Dänen, das Benelux-Trio Belgien, Holland und Luxemburg, Frankreich bis hinunter in den Süden unseres Kontinents. Überall politische Rucks nach rechts. Und Deutschland macht dabei keine Ausnahme. Schon in Bayern und Hessen hatte Anfang Oktober vorigen Jahres die rechtsextremistische „Alternative für Deutschland“ (was für eine sprachliche Anmaßung) mit dem Kürzel AfD alarmierende Zuwächse verzeichnen können. Dann folgte schließlich vor ein paar Wochen der Donnerschlag in den drei ostdeutschen Ländern, wo die Wähler den demokratischen „Altparteien“ scharenweise weg- und zur AfD übergelaufen sind. Und zwar in solchen Größenordnungen, dass seitdem von den Verlierern sogar die kuriosesten Koalitionsmöglichkeiten überlegt werden müssen, um die Rechtsaußen von den Regierungssitzen fernzuhalten.
Wobei der Begriff „kurios“ viel zu harmlos ist für den Vorgang, der sich zurzeit in den drei Ost-Ländern vollzieht. Ein Vorgang, bei mit Sahra Wagenknecht eine Frau Mittelpunkt steht, die gar nicht direkt dabei ist, sondern meist von Saarbrücken und manchmal auch von Berlin aus in hohem Maße professionell die Fäden zieht. Tatsächlich könnte die, eigentlich aus Jena stammende, Frau sogar noch zu unserer Zeit eine „historische“ Figur werden – wenngleich im negativen Wortsinn. Das Tempo und der Erfolg ihres jüngsten Coups waren, fraglos, atemberaubend. Zu Beginn dieses Jahres hatte die einstige Linke-Aktivistin eine eigene „Bewegung“ ins Leben gerufen, die innerhalb weniger Monate zweistellige Wähler-Zusprüche verzeichnen konnte. Das, wie es heute gern benannt wird, Alleinstellungsmerkmal dieser Bewegung ist, dass sie nichts anderes als den Namen „Sahra Wagenknecht“ trägt. Diese allein gibt Anweisungen, die von ihrem gläubigen Fußvolk (wenigstens bisher) dann widerspruchslos befolgt werden. Das Parteiprogramm konzentriert sich – leicht verkürzt und vereinfacht – auf einige wenige Punkte: 1. Frieden im Ukraine-Krieg mit Kreml-Chef Wladimir Putin um jeden Preis. Sei es selbst unter Preisgabe der von ihm überfallenen Ukraine, und gleichgültig auch, was danach mit Ländern wie Moldawien, Georgien und anderen geschehen mag. 2. Verzicht auf die eigene, deutsche Verteidigungsfähigkeit vor allem dadurch, dass keine bis nach Moskau reichenden, mit konventionellen Sprengköpfen bestückten, Raketen in (West) Deutschland stationiert werden dürften. Das Ganze „garniert“ noch mit der Forderung der „Bewegungs“-Oberin, Deutschland sollte am besten auch noch die Nato und die Europäische Union verlassen.
Nun ist in diesem Land niemand daran gehindert, selbst das Abstruseste zu denken und sagen. Die verfassungsmäßig garantierte Meinungsfreiheit gibt dafür unglaublich viel Platz. Allerdings besteht genauso wenig irgendeine Notwendigkeit, politischen Absurditäten in einer ähnlichen Weise hinterher zu laufen wie es – im Märchen – einst die Kinder von Hameln bei dem Rattenfänger taten. Zumal dann nicht, wenn damit die reale Gefahr verbunden ist, dass alles aufs Spiel gesetzt wird, was dieses Deutschland nach dem katastrophalen Ausgang des Krieges und den von den Nazis erdachten und befohlenen schier unvorstellbaren Verbrechen wieder auf die Beine gebracht hat und zu einem geachteten Mitglied der zivilisierten Welt werden ließ. Dazu musste international Vertrauen erworben werden. Wir, die Deutschen, hatten zu beweisen, dass wir das verderbliche „Führer befiehl, wir folgen Dir“ endgültig und für immer auf den Müll der Geschichte geworfen haben.
Und nicht nur das. Das für viele Zeitgenossen nicht einfache Begreifen von Demokratie und ihrer Werte innerhalb des Spannungsbogens von Freiheit u n d Verantwortung ging einher mit einer in der deutschen Geschichte erstmaligen Richtungsentscheidung. Mit der Entscheidung nämlich, politisch, geistig, und kulturell westlich-demokratisch orientiert zu sein und sich zu den christlich-humanistischen „Werten“ und Menschenbildern zu bekennen. Darauf konnte zumindest der aus dem Kriegsdesaster hervorgegangene westdeutsche Teilstaat aufbauen. Denn nicht nur unsere Nachbarn glaubten zunehmend dem „neuen Deutschland, sondern die gesamte freie Welt vertraute ihnen. Ohne dieses Vertrauen wäre uns nie die Wiedervereinigung erlaubt worden. Deutsche Vereinigung und bleibende Verankerung in EU und NATO seien die zwei Seiten ein- und derselben Medaille und hatte in der turbulenten Zeit Ende der 80-er Jahre der seinerzeitige Bundeskanzler Helmut Kohl seinen amerikanischen und europäischen Verhandlungspartner immer und immer wieder versichert. Und diese vertrauten ihm.
Auch für Kohls Amtsvorgänger Helmut Schmidt lag die „deutsche Tragödie“ vor allem darin begründet, dass sich das Land (egal, ob geografisch zersplittert oder als geeinter Machtfaktor) und seine Bürger nie zu einem solchen Richtungsentscheid durchzuringen vermochten. Schmidt gebrauchte häufig das auf den altpersischen Philosophen Al-Ghazali zurückgehende Bild von „Buridans Esel“, der sich nicht entscheiden konnte, ob er die von rechts oder links gereichte Möhre nehmen solle – und deshalb schließlich verhungerte. Das Land in der Mitte Europas sei in der Historie immer zu klein und ohnmächtig gewesen, um etwa in Zweifels- und Konfliktfällen aus eigener Kraft eine ausgleichende, vielleicht vermittelnde Rolle zwischen den „klassischen“ Großmächten England, Frankreich und Russland einnehmen zu können. Aber leider eben auch wieder zu groß und zu mächtig, um (wie zum Beispiel die Schweiz) einfach neutral von außen auf das Weltgeschehen zu schauen.
Nach dem Krieg ist nun endlich eine Richtungsentscheidung gefallen. Konrad Adenauer, der erste Bundeskanzler, hat sie durchgesetzt. Gegen mannigfaltige, erbitterte Widerstände. Adenauer nahm für die westliche Bundesrepublik dafür sogar die damals endgültig erscheinende Teilung Deutschlands in Kauf. Genauso wie er später den – auch in der eigenen CDU und CSU höchst umstrittenen – Aufbau der Bundeswehr als Eintrittspreis für die Eingliederung wenigstens des westlichen Teil-Deutschlands in die westliche Zivilisation und Wertegemeinschaft parlamentarisch erzwang. Die Geschichte hat dem „Alten“ und auch seinen Nachfolgern Recht gegeben. Deutschland und sein Mitwirken am Aufbau der europäischen Einigung, dem Abbau der Grenzen und der beruflichen Freizügigkeit vor allem im letzten Jahrzehnt des vorigen Dezenniums – eine einzige Erfolgsstory.
Und das zählt mit einem Male nichts mehr? Ja, wir haben zurzeit eine alles andere als glanzvolle Koalitions-Regierung in Berlin. Aber und mit Verlaub – die ist doch nicht aus Lust und Laune und sozusagen aus dem Nichts entstanden! Ihrer Bildung waren Bundestagswahlen vorausgegangen, für deren Ausgang allein wir verantwortlichen waren. Jeder einzelne von uns. Mit jedem Kreuzchen auf den Wahlzetteln. Und auch für das gegenwärtige machtpolitisch und ideologisch bestimmte Kuddelmuddel in Erfurt, Potsdam und Dresden ist niemand anders verantwortlich als die dortigen Bürger. Sie haben so abgestimmt.
Was ist also los in Deutschland? Da fällt ein machtgieriger Potentat im Moskauer Kreml über ein benachbartes Land her und hat, erklärtermaßen, schon weitere „Beuten“ im Blick – und bekommt dafür hierzulande nicht nur Verständnis, sondern offene Sympathiebekundungen. Nun sind gewiss nicht alle Wähler der (rechtsextremen) AfD und der (von der äußersten Linken kommend) „Bewegung Sahra Wagenknecht“ verkappte Nazis oder in der Wolle gefärbte Altstalinisten. Doch müssen zumindest beträchtliche Gruppierungen ihre Fähigkeiten zu kritischer Wertung und politischer Nachdenklichkeit nicht erst an den Garderoben der Wahllokale abgegeben haben. Björn Höcke, der (aus dem Westen stammende) AfD-Vorsitzende in Thüringen, macht aus seiner Bewunderung für die Machthaber von Deutschlands „Drittem „Reich“ gar kein Hehl. Auch andere Funktionäre der „Alternativen“ testen tagtäglich aus, wie weit man sprachlich die nationalistischen Entgleisungen ausweiten kann. Das kann doch an einem politisch denkenden Menschen nicht einfach vorübergehen!
Wagenknechts programmatisches Minimal-Programm, wiederum, ist subtiler. Aber keineswegs weniger explosiv. Sollte der Zulauf (nicht zuletzt aus der Gruppe der Jüngeren) zu ihrer „Bewegung“ weiterhin anhalten, hat die Dame damit das Zeug, die politische Landschaft ordentlich durcheinander zu wirbeln. Und wie wird es um die Westbindung Deutschlands geschehen, wenn selbst seine verwöhnten Bürger keine verteidigungswerte Qualität mehr darin erkennen, sondern zunehmend fasziniert sind von autoritärem bis faschistischem Gehabe? Noch mehr als das: Ohne Zweifel trägt die SPD ein gerüttelt Maß Schuld daran, dass die älteste und einstmals machtvolle Partei inzwischen am Rande ihrer Existenz steht. Aber kräftig Hand angelegt haben dabei auch Personen wie der einstige Parteivorsitzende Oskar Lafontaine, der Ehemann von Sahra Wagenknecht. Daran, dass die SPD regelrecht zerbröselte, haben sie ordentlich mitgearbeitet.
Soll jetzt etwa die CDU das nächste Opfer sein? Die eigentlich einzige verbliebene „Volkspartei“ in Deutschland. Das Gerangel und Getümmel in den drei Ostländern könnte dafür eine Probe aufs Exempel sein. Ohne die Wagenknecht-„Bewegung“ kann dort nirgendwo eine tragfähige Koalition gegen die AfD zustande kommen. Die BSW-Chefin aber will mit aller Macht außen- und verteidigungspolitische Positionen durchsetzen, die für die CDU/CSU und sogar auch für die größten Teile der SPD unvorstellbar sind. Außerdem sind für diese Politikfelder nicht die Bundesländer zuständig, sondern es ist die Bundesregierung. Wer möchte in diesen Tagen wohl gern in von Haut CDU-Chef Friedrich Merz stecken? Es geht für ihn nicht mehr nur um die Frage, ob er im kommenden Jahr Kanzler werden könnte. Sondern, ob es dann die Union in ihrer jetzigen Form überhaupt noch gibt.
Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel..
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