Alfred Dregger würde nächstes Jahr 100 Jahre alt. Eine Biografie

Von Gisbert Kuhn

Dieter Weirich

Wir leben in einer rasanten, rastlosen, geradezu flüchtigen Zeit. Was heute „in“ ist, kann schon morgen „out“ sein. Wer aktuell die Massen begeistert, sucht womöglich morgen in den charts der Popularität seinen Namen schon wieder vergeblich. Wer, zum Beispiel, war Alfred Dregger? Klar, den Älteren (vor allem jenen mit Geschichtsbewusstsein und politischem Wissen) ist der Name natürlich noch ein Begriff. Für Manche bedeutet er – egal, ob mit persönlicher Sympathie oder Ablehnung versehen – vielleicht sogar noch so etwas wie „Programm“. Aber in der breiten öffentlichen Wahrnehmung ist Dregger kaum mehr präsent; bei den mittlerweile die Schlagzeilen prägenden Figuren hat sich das Bild von ihm, ja sogar von der durch ihn maßgeblich mit geprägten Zeit und ihren Geschehnissen deutlich verflüchtigt.

Von „Django“ bis „Stahlhelm-Fraktion“

Soeben ist ein Buch über diesen Mann erschienen. Eine Biografie, geschrieben von Dieter Weirich – einem Autor, der Alfred Dregger besser kannte als die meisten anderen Zeitgenossen. Denn er arbeitete für ihn viele Jahre lang als Sprachrohr, als Berater und (nicht selten) als „Wadenbeißer“, wenn es galt, den häufig genug auch ins Persönliche gehenden Anwürfen gegen den Chef mit nicht minder deutlichen Verbalattacken zu begegnen. Und die Attribute, mit denen seine Gegner den Mann aus Fulda in den 70-er, 80-er und auch noch 90-er Jahren überschütteten, waren wirklich nicht von schlechten Eltern: Django, Chef der Stahlhelm-Fraktion, Büttel des Großkapitals, Ewiggestriger und noch so manche „Freundlichkeit“ mehr.

Manches davon wird in etlichen Erinnerungen wahrscheinlich heute noch immer mit dem Namen Dregger verbunden werden. Das hat, nicht zuletzt, mit jenem berühmten Wahlplakat zu tun, mit dem sich der zum politischen Erfolg entschlossene Dregger 1970 aufmachte, die bis dahin verdruckst in einer 20-Prozent-Nische hockende hessische CDU in den Kampf gegen eine scheinbar übermächtige, sich selbst unbesiegbar wähnende Landes-SPD zu führen. Mit Alfred Dregger an der Spitze, der aufgehenden Sonne im Rücken und der das Ganze überwölbenden Ankündigung „Wir kommen!“ marschierte die CDU-Mannschaft in keilförmiger Aufstellung dem Betrachter (also auch dem politischen Gegner) entgegen. Eine perfekte High-Noon-Szene, die dem weiß Gott nicht gerade schreckhaften damaligen SPD-Wirtschaftsminister („Dynamit“-)Rudi Arndt den Ruf entlockte: „Wer so daherkommt, der schießt auch!“.

In letzter Sekunde das Ziel verfehlt

Was Arndt in jenen Tagen so drastisch überzeichnete, hatte indessen durchaus eine richtige Botschaft. Hier kam mit Alfred Dregger ein von sich und seinem Ziel – nämlich, das „rote“ Hessen zu kippen – überzeugter Politiker. Und hinter dieser Entschlossenheit scharte sich eine bis dahin nie gekannte Landes-CDU mit dem Selbstverständnis eines geschlossenen Kampfverbands. Diese Einheit bestand zudem ja auch nicht gerade aus irgendwem. Hier traf sich vielmehr ein politischer Stoßtrupp, dessen Mitglieder samt und sonders nicht zufällig später auch auf Bundesebene wichtige Ämter einnahmen. Christian Schwarz-Schilling gehörte dazu, der nachmalige Postminister. Ferner Walter Wallmann, zeitweise erfolgreicher Oberbürgermeister im angeblich unregierbaren Frankfurt und danach erster Bundesumweltminister; dann der Naturwissenschaftler Heinz Riesenhuber, der es bis zum Bundesforschungsminister brachte; nicht zu vergessen der mit besten USA-Verbindungen ausgestattete Walter Leisler-Kiep, die Bildungspolitikerin Hanna-Renate („Granata“) Laurien sowie als Chefplaner und Ausputzer der spätere Bundesinnenminister Manfred Kanther.

Bonn, 24.01.1989 CDU-Fraktionssitzung Foto: Fraktionsvorsitzender Alfred Dregger

Um es kurz zu machen: Nachdem Alfred Dregger 1967 auf dem legendären Parteitag im idyllischen Rheingau-Städtchen Eltville die Hessen-CDU übernommen hatte („Ich habe Charisma. Das braucht die CDU“), führte er die bis dahin verhuschten Christdemokraten von Wahlerfolg zu Wahlerfolg. Doch sein Wunschtraum, Ministerpräsident in Wiesbaden zu werden, löste sich 1982 – sozusagen in letzter Sekunde – in Luft auf. Für die Landtagswahl im Herbst jenes Jahres hatten nicht nur alle Umfragen der Hessischen CDU eine absolute Mehrheit vorausgesagt, auch das spätere Ergebnis der Briefwahl bestätigte diese Prognosen. Und doch drehte sich am Ende dramatisch alles. Der Grund: Die SPD/FDP-Koalition in Bonn platzte, Helmut Kohl wurde mit Hilfe der Liberalen über ein Konstruktives Misstrauensvotum Bundeskanzler, die Sozialdemokraten mit Helmut Schmidt und  dessen Pressesprecher Klaus Bölling (SPIEGEL-Verlag “Tagebuch der letzten 30 Tage”) entfachten erfolgreich eine „Verrats“-Kampagne gegen die Freien Demokraten mit dem („Mark“)Grafen Lambsdorff an der Spitze. Trotzdem erreichte die CDU 45,6 Prozent, aber die FDP – der erhoffte und notwendige Bündnispartner – flog aus dem Wiesbadener Landtag. Weshalb es nicht für die Regierungsmehrheit langte.

Von Wiesbaden nach Bonn

Bei der Schilderung dieses Vorgangs erlaubt sich der Biograf auch eine eigene Gefühlsregung. „Eigentlich”, schreibt Dieter Weirich, „bin ich nicht nahe am Wasser gebaut. Als aber die ersten Hochrechnungen über die Bildschirme flimmerten und das tragische Ende eines Traumes signalisierten, war ich den Tränen nahe“. Dregger trat sofort zurück. Später fuhren die CDU-Männer Walter Wallmann, Roland Koch und Volker Bouffier die Ernte ein, die Alfred Dregger ausgesät hatte. Es folgten lange Jahre, die der einstige Oberbürgermeister von Fulda als Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, ohne Frage, mit prägte. Auch hier würde mit hoher Wahrscheinlichkeit der Begriff „konservativ“  überwiegen, wenn man die Frage nach Alfred Dregger und dessen Politikstil stellte. Und die Antwort wäre nicht falsch, aber sie wäre genauso wenig eindeutig richtig. Dreggr setzte m parlamentarischen Streit, ohne Frage, auf Attacke und Konfrontation. Das heißt: Auf klare Unterscheidbarkeit “zwischen uns und denen”. 

Und hier liegt die wirkliche Bedeutung von Weirichs niedergeschriebenen Beobachtungen. Alfred Dregger hatte klare eigene Vorstellungen von richtig und falsch, von Patriotismus, aber auch der gleichzeitigen Notwendigkeit eines geeinten Europas. Seine (von vielen übersehene) grundsätzliche Liberalität fußte auf einem festen Wertefundament, und seine Wirtschaftskompetenz war stets mit sozialem Denken verknüpft. Die Kriegserlebnisse hatten ihn nicht nur körperlich verwundet. „Nie wieder“ und „Meine Kinder und Kindeskinder sollen in Frieden leben“ – das waren für Dregger darum nicht nur gängige Phrasen, sondern die selbst auferlegten politische Handlungsbefehle des einstigen Offiziers. Nicht zufällig wandte sich Dregger vehement gegen die (im Vergleich zur Ur-Fassung später tatsächlich wesentlich veränderte) Wanderausstellung, die aus der Wehrmacht eine verbrecherische Organisation zu machen versuchte. Und genauso nachdrücklich kritisierte er das Gerichtsurteil,  wonach man sagen dürfe, Soldaten seien Mörder.

Gradlinig und gleichzeitig liberal

Es gibt nicht so viele Vorgänge im Bundestag, die als parlamentarische „Sternstunden“ in die Geschichte eingehen. Jene Debatte aus dem Jahr 1997 freilich gehört dazu, als es eben um diese Wehrmachts-Ausstellung ging. Leidenschaftlich hatte Dregger erneut die These von der „verbrecherischen“ Wehrmacht zurückgewiesen. Nach darauf folgenden sehr emotionalen, aus der eigenen Familiengeschichte berichtenden Reden der Abgeordneten Freimut Duve, Otto Schily (beide SPD) und Christa Nickels (Grüne) aber ging der CDU-Mann erneut zum Rednerpult und bekannte, wie sehr ihn die Aussprache zum Nachdenken bringe und er wünsche, Missverständnisse auszuräumen. Da wurde, wie selten, deutlich, dass der kämpferische Christdemokrat bei aller eigenen Gradlinigkeit andere Meinungen gelten und sich von Argumenten beeindrucken ließ.

„Alfred Dregger – Haltung und Herz“, lautet der Titel  der Biografie von Dieter Weirich. Gibt es etwas, das dieses Buch aus der Menge ähnlicher Werke heraushebt? Gewiss, da wäre der 100. Geburtstag dieses Mannes im nächsten Jahr. Aber wirklich bedeutsam ist es wegen einer anderen – innenpolitischen – Aktualität. Die deutsche Politik (und damit der Staat insgesamt) befindet sich doch erkennbar in einer tiefen Krise.  Da die Bindungskräfte der traditionellen Volksparteien dramatisch abgenommen haben, erfahren die „Ränder“ auf der äußersten Linken und Rechten Zuläufe, von denen aus die demokratische Mitte in die Zange genommen zu werden droht. Reicht das Geschichtsbewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft aus, um dieser Gefahr zu widerstehen? Es waren (und sind) doch  immer die herausragenden Persönlichkeiten und nicht Parteiprogramme, von denen sich die Wähler angezogen fühlen und überzeugen lassen. Persönlichkeiten, die Grundsätze ausstrahlen und ihnen selbst gradlinig folgen. Alfred Dregger war, ohne Frage, so jemand. Nicht nur die CDU/CSU schaut sich gegenwärtig vergeblich nach solchen Figuren um. Darum wird Mancheiner vermutlich die Biografie mit Wehmut lesen.

Dieter Weirich: Alfred Dregger. Haltung und Herz – Eine Biografie.

Gebundene Ausgabe 256 Seiten

Secietäts-Verlag Frankfurt / Main

ISBN 39 55 42 3360

€ 20,00 

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