Europas Kubakrise
Der Ukrainekrieg legt die Schwächen der nuklearen Abschreckung offen. Statt aufzurüsten sollte der Westen für einen Erstschlagverzicht eintreten.
Diesen Monat tagt in New York die Zehnte Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrags (Non-Proliferation Treaty, NPT). Das Staatentreffen, das ursprünglich im April 2020 stattfinden sollte, wurde wegen der Corona-Pandemie viermal verschoben. In dieser Zeit hat sich mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine die politische Großwetterlage so verschlechtert, dass Fortschritte in der Abrüstung und Nichtverbreitung von Nuklearwaffen kaum noch möglich scheinen. Der Krieg und die nuklearen Drohungen Russlands befördern eine Renaissance der nuklearen Abschreckung und Aufrüstung und vertiefen bestehende Risse im NPT. Um der drohenden Erosion dieses Grundpfeilers der globalen Rüstungskontrolle etwas entgegenzusetzen, müssen wir gerade jetzt die Schattenseiten der nuklearen Abschreckung anerkennen, die der Ukrainekrieg offenlegt. Die gegenwärtige Krise der Abschreckungspolitik als solche zu begreifen, kann – wie schon bei der Kubakrise im Kalten Krieg – Chancen für Deeskalation, Abrüstung und Rüstungskontrolle eröffnen.
Trotz seiner Erfolgsbilanz war der NPT seit seiner Unterzeichnung 1968 auch immer Schauplatz von Streit und Krisen. Dazu gehörten zum einen regionale Proliferationskrisen: Nordkorea und Iran trieben ihre nukleare Bewaffnung voran, obwohl sie den NPT ratifiziert hatten. Zum anderen gab es keine substanziellen Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung. Während des Kalten Krieges, besonders in den Achtzigerjahren, rüsteten die Nuklearmächte drastisch auf. Zwar wurden die Arsenale danach wieder verkleinert, jedoch blieb die Zahl der Sprengköpfe weiter sehr hoch (aktuell geschätzt 12 705 Sprengköpfe weltweit). Aus diesem Grund drohte die unbegrenzte Verlängerung des ursprünglich auf 25 Jahre befristeten Vertrags im Jahr 1995 beinahe zu scheitern. Heute verfolgen alle NPT-Nuklearwaffenstaaten umfassende Modernisierungsprogramme ihrer Arsenale und entwickeln neue Trägersysteme. Einige – China und Großbritannien – erhöhen sogar die Zahl ihrer Sprengköpfe.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine verschärft diese Probleme. Aus Sicht vieler westlicher Entscheidungsträger und Kommentatorinnen belegen die Ereignisse seit dem 24. Februar die Zuverlässigkeit der nuklearen Abschreckung. Schließlich greife der Westen nicht direkt in Russlands Krieg ein. Andere bezweifeln die Glaubwürdigkeit der nuklearen Abschreckung der NATO und meinen, Russland sei dadurch zu seinem aggressiven Verhalten ermutigt worden. Beide Einschätzungen münden in Forderungen nach nuklearer Aufrüstung. In Deutschland unterstützt erstmals eine Mehrheit der Bevölkerung die nukleare Teilhabe und Abschreckungspolitik der NATO.
Zugleich ist eine Verschärfung und Vermehrung regionaler Proliferation zu befürchten. In sozialen Netzwerken und Medien wird häufig argumentiert, die russische Aggression gegen die Ukraine wäre nicht erfolgt, hätte die Ukraine über Nuklearwaffen verfügt. Zwar hatte die Ukraine tatsächlich nie die Kommandogewalt über das nach dem Zerfall der Sowjetunion auf ihrem Territorium stationierte Arsenal. Dennoch haben Kernwaffen für einige Staaten angesichts des russischen Überfalls an Attraktivität gewonnen. Der Bruch des Budapester Memorandums hat das Vertrauen in negative Sicherheitsgarantien erschüttert.
Russland treibt im Krieg gegen die Ukraine die nukleare Drohung auf die Spitze
Für die Atomwaffenstaaten und ihre Alliierten dient die gegenseitige Androhung der totalen Vernichtung dazu, Kriege zu verhindern und damit Frieden und Sicherheit zu garantieren. In der aktuellen Krise werden aber vor allem die Schattenseiten der nuklearen Abschreckung sichtbar. Russland treibt im Krieg gegen die Ukraine die nukleare Drohung auf die Spitze, indem es Nuklearwaffen gezielt zur Kriegsermöglichung einsetzt. Sie dienen nicht mehr primär der Verteidigung oder Verhinderung konventioneller militärischer Eskalation. Stattdessen werden sie von Moskau genutzt, um die Chancen eines für Russland günstigen Ausgangs des Krieges zu steigern und seine imperialistischen Bestrebungen abzusichern. Damit werden sowohl das in der UN-Charta verankerte Verbot eines Angriffskrieges als auch das Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung unterminiert.
1985 und Anfang 2021 erklärten die amerikanischen und sowjetischen beziehungsweise russischen Präsidenten, dass ein Nuklearkrieg nicht zu gewinnen sei und daher nicht ausgefochten werden sollte. Das Verständnis von Nuklearwaffen als letztes Mittel im Falle eines Nuklearangriffs der Gegenseite wird jedoch schon lange nicht mehr von allen Nuklearmächten geteilt. Taktische Nuklearwaffen und Szenarien „begrenzter“ nuklearer Kriegsführung haben für Russland – aber auch für die USA – schon länger an Bedeutung gewonnen. Diese Ausweitung der nuklearen Abschreckung, das zeigen die russischen Drohgebärden, führt zum Bruch des nuklearen Tabus, das eigentlich durch die Nukleardoktrinen gestärkt werden soll. Dies offenbart ein Paradox der nuklearen Abschreckung: Je stärker sie genutzt wird und je weiter nukleare Drohungen gefasst werden, desto wahrscheinlicher ist eine nukleare Eskalation.
Gegenwärtig ist bei NATO und Russland ein beidseitiges Interesse erkennbar, den Krieg nicht über die Grenzen der Ukraine auszuweiten. Sollte Moskau jedoch im weiteren Kriegsverlauf eine umfassende Niederlage fürchten, könnte es auf den Einsatz taktischer Nuklearwaffen zurückgreifen. Der Ukrainekrieg legt die Fragilität der nuklearen Abschreckung offen. Denn wenn das notwendige gemeinsame Verständnis fehlt, unter welchen Bedingungen Nuklearwaffen eingesetzt würden, geht ihre Berechenbarkeit verloren.
Was bedeutet all das für die anstehende NPT-Überprüfungskonferenz? Wenn sich die 191 NPT-Mitgliedstaaten in New York versammeln, tun sie das in einem langen Schatten, den der Krieg in der fernen Ostukraine wirft. Hier lohnt sich für die Delegierten der Blick zurück in die Geschichte: Die „Kubakrise“ vor knapp 60 Jahren war wie der Ukrainekrieg ein Stresstest der nuklearen Abschreckung. Im Herbst 1962 führten die Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen auf Kuba und die daraufhin verhängte US-amerikanische Seeblockade die Welt an den Rand eines Atomkrieges. Nach 13 Tagen endete die Krise mit dem Abzug der sowjetischen Nuklearwaffen im Gegenzug für (öffentliche und nicht-öffentliche) US-Konzessionen. Auch damals werteten westliche Analysten und Entscheidungsträger dies als Beleg für das Funktionieren (US-amerikanischer) nuklearer Abschreckung. Auch damals rechtfertigte man damit nukleare Aufrüstung.
Wenn das notwendige gemeinsame Verständnis fehlt, unter welchen Bedingungen Nuklearwaffen eingesetzt würden, geht ihre Berechenbarkeit verloren.
Dennoch war die Kubakrise als „transformatives Ereignis“ auch entscheidend für den Aufbau vertrauensbildender und risikominimierender Maßnahmen zwischen den beiden Nuklearmächten. Hierzu gehören die Einrichtung direkter Kontakte auf höchster militärischer und politischer Ebene sowie Dialoge zur strategischen Stabilität. Auf globaler Ebene kooperierten Russland und die USA, um die nukleare Ordnung – freilich zu ihrem Vorteil – stabil zu halten. Beispiele hierfür waren der Ausbau der Rolle der Internationalen Atomenergie-Organisation und eben jener Nukleare Nichtverbreitungsvertrag, dessen Mitglieder im August 2022 in New York tagen.
Auch der Ukrainekrieg birgt eine solche transformative Chance, wenn die aus der nuklearen Abschreckung erwachsenen Eskalationsgefahren ernst genommen werden. Die nukleare Deeskalationspolitik der Biden-Administration und der NATO war ein richtiger Schritt. Auch die Nutzung höchster militärischen Kontaktpunkte, um Fehlwahrnehmungen zu vermeiden, haben dabei geholfen, dass bisher eine unbeabsichtigte Ausweitung oder gar nukleare Eskalation des Ukrainekrieges verhindert wurden. Diese Bemühungen um Risikominimierung müssen weiter verstärkt und konsolidiert werden – auch im Rahmen des NPT.
Die USA, Frankreich, Großbritannien und ihre Verbündeten sollten auf der Überprüfungskonferenz Initiative zur Stärkung des nuklearen Tabus ergreifen. Am überzeugendsten wäre eine gemeinsame Erklärung zum Verzicht auf Ersteinsatz, verbunden mit einer völkerrechtlich verbindlichen Zusicherung, Staaten nicht nuklear anzugreifen, die dem NPT und dem Vertrag zum Verbot von Nuklearwaffen oder einer nuklearwaffenfreien Zone angehören. Eine Reduzierung der Abschreckung auf ein Minimum – nukleare Wehrhaftigkeit im Falle eines nuklearen Angriffs – ist nötig, um die riskante Entgrenzung der Abschreckung der vergangenen Jahre zu beenden. Da ein NATO-Ersteinsatz ohnehin ausgeschlossen sein dürfte, würde eine öffentliche Erklärung keinen Verlust militärischer Optionen bedeuten. Vielmehr könnte der Westen so auf globaler Ebene eine Anti-Atomkriegs-Allianz schmieden, ohne andere Staaten vor die Wahl zu stellen, Partei in diesem Krieg zu ergreifen.
Andere Großmächte (China, Indien, Brasilien, Südafrika) und zahlreiche Nichtnuklearwaffenstaaten unterstützen eine Politik der nuklearen Zurückhaltung, wollen sich aber nicht in einen neuen Ost-West-Konflikt hineinziehen lassen. Mit einem breiten Bündnis gegen den Einsatz von Nuklearwaffen könnte der Druck auf Russland erhöht werden, von weiteren nuklearen Drohungen abzusehen, um sich nicht zu isolieren. Zugleich sollten die westlichen Nuklearwaffenstaaten das von Russland zerstörte Vertrauen in negative Sicherheitsgarantien wiederherstellen und das nukleare Nichtverbreitungsregime damit stützen.
Dr. Caroline Fehl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt/Main. Zudem ist sie externe Mitarbeiterin und Lehrbeauftragte am Arbeitsbereich internationale Organisation des Exzellenzclusters Herausbildung Normative Ordnungen der Goethe-Universität Frankfurt.
Maren Vieluf ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt Challenges to Deep Cuts am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Berlin. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich der nuklearen Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung.
Sascha Hach ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Programmbereich „Internationale Sicherheit“ am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt und lehrt an der Universität der Bundeswehr in München. Er hat Friedensforschung und internationale Politik in Tübingen und Medford studiert und ist Mitgründer der 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) in Deutschland.
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