Von Gisbert Kuhn

Autor Gisbert Kuhn

Wohl selten bedarf es des Hinweises auf die „Unschuldsvermutung“ im Zusammenhang mit den im Fokus stehenden Personen und Vorgängen so sehr wie im Moment bei der Bewertung der Berichte über den ARD-Sender Radio Berlin Brandenburg (RBB), dessen bisherige Intendantin Patricia Schlesinger, das von ihr dort geschaffene Umfeld und die möglichen Verstrickungen, Maßlosigkeiten und Vetternwirtschaften. Gerade weil bei uns allen, den Gebührenzahlern also, Ärger und Empörung so übermächtig werden könnten, dass der Ruf nach „eisernen Besen“ möglicherweise in der Forderung nach Abschaffung des gesamten Öffentlich-Rechtlichen Rundfunksystems in Deutschland mündet.

Aber die Mäßigung des Zorns fällt schwer. Vor allem dann, wenn man dieses nach dem Krieg aus guten Gründen so geschaffene mediale Konstrukt für den Erhalt von Demokratie, Denk- und Verhaltensvielfalt für unverzichtbar hält. Denn die Alternative hieße: Information und veröffentlichte Meinung würden nicht mehr auf überprüfbaren und kritisch sondierten Fakten gründen, sondern – es zählten dann ja ausschließlich Quoten und Auflage – man öffnete politischem Populismus, Fälschungen, Halbwahrheiten und reinen Scheinlösungen schwieriger Probleme Tür und Tor. Amerika und Donald Trump lassen grüßen. Aber – für den Erhalt des Öffentlich-Rechtlichen Systems einzutreten, bedeutet keineswegs, es in seiner aktuellen und über die Jahrzehnte immer mehr deformierten Form zu verteidigen. Im Gegenteil! Aber die Auswüchse müssten dringend beseitigt werden. Mit für Viele gewiss schmerzhaften Schnitten.

Wie gesagt, auch in Sachen RBB gilt die juristische „Unschuldsvermutung“. Die verbietet freilich nicht die Beschäftigung mit den bislang bekannt gewordenen Fakten. Beginnen wir also – erstens – mit dem Radio Berlin-Brandenburg selbst. In Zuge der nach der Wiedervereinigung erfolgten Neuregelung des Rundfunkwesens ging er im Mai 2003 aus der Fusion von Sender Freies Berlin und Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg hervor. Von den 11 gebührenfinanzierten bundesrepublikanischen Fernsehanstalten mit 55 Hörfunkprogrammen (das ist weltmeisterlich!) ist der RBB der drittkleinste. Nur noch der Saarländische Rundfunk und Radio Bremen (Selbstbegründung: „Wir sind das legitime Kind der Demokratie“) rangieren dahinter. In der Konsumenten-Akzeptanz – mithin der Einschaltgewohnheit der Hörerschaft – liegen die Berliner allerdings an letzter Stelle der Öffentlich-Rechtlichen.

Den Sender jetzt als einen „Trümmerhaufen“ zu bezeichnen, liegt nahe angesichts der aus und um den Sender wuchernden Berichte. Im Mittelpunkt die bisherige Intendantin Patricia Schlesinger. Die Liste der Vorwürfe gegen sie reicht von Vorteilnahme (mehr als günstig von Audi erstandener Luxus-Dienstwagen auch zum Privatgebrauch mit zwei Chauffeuren) über teuerste Ausstattung ihres Arbeitsbereichs bis hin zu Falschabrechnungen privater Abendessen als „dienstlich“ sowie Vettern- und Freundschaftswirtschaft bis in den familiären Bereich. All dies und noch mehr muss bis zum Beweis der Richtigkeit unter den Vorbehalt „mutmaßlich“ gestellt werden. Nicht zu bestreiten ist freilich, dass der RBB-Chefin (selbsterklärtes Lebensmotto: “Nichts liegen lassen”) noch vor nicht langer Zeit eine deutliche Erhöhung ihrer Basis-Bezüge auf 303 000 Euro gewährt wurde, bei gleichzeitiger Kürzung der Honorare und Stellen der so genannten Freien Mitarbeiter. Diverse Boni und Entschädigungen genauso wenig mit eingerechnet wie es auch für die anderen Damen und Herren im ARD-Intendantenkollegium gilt oder beim ZDF-Chef der Fall ist.

Es sollen hier überhaupt keine gegenseitigen Aufrechnungen vorgenommen werden. Was einen aber an dem Fall Schlesinger so ärgert (und was auch gesellschaftspolitisch bedenklich ist), das kann man am besten mit dem altmodischen Begriff „fehlender Anstand“ oder auch als mangelnde Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft beschreiben. Oder vielleicht sogar als Selbstüberhöhung der eigenen Person und Bedeutung. Patricia Schlesinger war zum Beispiel mehrere Jahre zuständig für das kritische, aber demokratisch-gesellschaftlich notwendige NDR-Magazin „Panorama“. In dieser Position macht man sich gewiss nicht nur Freunde. Umso mehr sollte man dann eigentlich darauf achten, sich selbst nicht angreifbar zu machen. Moral und bürgerlichen Anstand predigen, aber selber in zweifelhaften Privilegien baden – das passt schlecht zusammen. Und wenn dann auch noch ein Ehemann zur Seite steht, der früher beim „Spiegel“ zu den kritischen „Edelfedern“ gehörte, jetzt aber bestens dotierte Aufträge des Berliner Messe-Chefs einstreicht, dann geht das deutlich über das gern zitierte „Gschmäckle“ hinaus.  Zumal dann, wenn der erwähnte Boss der Berliner Ausstellungshallen zudem (sozusagen im Nebenjob) als Verwaltungsrats-Vorsitzender  auch noch oberster Kontrolleur des RBB ist – aber gleichzeitig als Bauunternehmer Großaufträge eben dieses Senders in sehr beachtlicher Millionenhöhe verbucht.

Das Alles jetzt juristisch aufzuarbeiten und rechtlich zu bewerten, ist Sache der Staatsanwaltschaft. Soll sie Licht in ganz gewiss noch viele funkle Ecken des Sender-Skandals bringen, wobei wir uns (ungern) zurückhalten und nicht einmal die so häufig in der Vergangenheit erlebten „Berliner Verhältnisse“ in die Debatte werfen. Aber der Schaden für das Öffentlich-Rechtliche Rundfunksystem ist ganz gewiss schon jetzt sehr groß. Im April hatten immerhin noch 68 Prozent der von der „Forschungsgruppe Wahlen“ befragten Bundesbürger angegeben, „großes“ oder gar „sehr großes“ Vertrauen in die Arbeit der mit jährlich rund 8,4 Milliarden Euro Zwangsgebühren gefütterten und aufgeblähten Sendeanstalten zu haben. Neue Zahlen liegen noch nicht vor, aber die Zustimmung dürfte augenblicklich deutlich geringer ausfallen. Mit diesem Mammut-System steht Deutschland mit Abstand an der Weltspitze. Auch die britische BBC – das Vorbild für Deutschland nach dem Krieg – spart und verkleinert sich. In der Schweiz hatten voriges Jahr zwar 72 Prozent der Bürger für die Beibehaltung des Öffentlich-Rechtlichen gestimmt, dies aber an die Bedingung strikter personeller wie inhaltlicher Reformen geknüpft. In Frankreich wurden unlängst die Pflichtgebühren gar völlig abgeschafft.

Es wäre klug, wenn die Rundfunkverantwortlichen bei uns vor allem an der Schweiz Maß nähmen. Dort werden die Auswüchse auf die eigentlichen Pflichten zurückgeschnitten – die Grundversorgung der Bevölkerung. Natürlich gehören neben seriösen Nachrichten auch (in der Sache) scharfe Kommentare dazu, auch Sport, Kultur und Unterhaltung. Aber mit Sicherheit ist es kein Teil der „Grundversorgung“, die Zuschauer und Hörer mit unerträglichem „Gender“-Deutsch und gesprochenen Pünktchen bzw. Quer- und Schrägstrichen zu beglücken. Dieser (scheinbar) unwichtige Nebeneffekt in der gegenwärtigen Krisendebatte um RBB, Schlesinger usw. berührt in Wirklichkeit einen kritischen Kernpunkt. Es geht um die finanzielle, verwaltungstechnische, aber auch mitunter inhaltliche Kontrolle der Monster namens Funkhaus. Nicht um die Beschneidung der Meinungsfreiheit, um Gottes Willen nein. Auch nicht um die Themenbreite. Aber wer wagt denn noch – von den Intendanten bis zu dem politisch-relevanten und gesellschaftlichen „Gremien“ – den Finger zu heben? Warum hat das in Berlin niemand getan? Schließlich gibt es dort, wie in allen anderen Landesregierungen auch, einen speziellen Bevollmächtigten, der in der Staatskanzlei angesiedelt ist und das Recht hat, an allen Sitzungen der “Gremien” teilzunehmen. Es ist doch ganz bestimmt nicht alleiniger oder auch nur hauptsächlicher Zweck der Mitglieder von Rundfunk- und Verwaltungsratsmitgliedern, nur üppige Tantiemen zu kassieren!

Der als Nachfolger von Patricia Schlesinger im Amt des ARD-Vorsitzenden mittlerweile kommissarisch benannte WDR-Intendant Tom Buhrow spricht von „Wut und Enttäuschung“ in den diversen Sendern. Andere fordern lautstark einen Neuanfang. Aber Neuanfang von was und wie denn? Es sind doch die Länder, die eifersüchtig über „ihre“ jeweiligen Funkhäuser wachen. Natürlich wäre es durchaus sinnvoll, zum Beispiel den Saarländischen Rundfunk mit dem Südwestrundfunk, Radio Bremen mit dem NDR und den RBB mit dem MDR zu vereinen. Nur: Damit wäre, erstens, das Strukturproblem nicht gelöst und, zweitens, nicht der Widerstand der „verlierenden“ Länder gebrochen.

So groß – oder besser: so gering – fällt daher leider der Glaube an eine „Generalreform“ der mit Recht angeschlagenen ARD aus. Wie könnte es auch anders sein? Von Seiten der momentan im kritischen Fokus stehenden Personen in Berlin ist ja schließlich kein einziges Wort der Einsicht gekommen – geschweige denn der Reue. Geradezu bezeichnend in diesem Zusammenhang ist vielmehr dieses: Die RBB-Intendantin Patricia Schlesinger, vermeldeten die Agenturen vor ein paar Tagen, sei von ihrem Posten zurückgetreten. Weit gefehlt! In Wirklichkeit bot sie dem zuständigen Rundfunkrat an, auf eine Vertragsverlängerung zu verzichten, sofern ihr Anwalt und der Sender sich auf einen „vertragsgemäßen Verzicht“ einigten. Im Klartext, auf eine üppige Abfindung. Jetzt hofft der Sender, seiner bisherigen Chefin wenigstens die falsche Abrechnung ihrer Abendeinladungen nachweisen zu können. Wegen einer dann vielleicht möglichen frist- und abfindungslosen Kündigung…

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.

     

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