Von Günter Müchler

Günter Müchler

Es gibt viele gute Gründe, Europa in den Sattel zu heben. Aber ohne das Bewusstsein, eine Schicksalsgemeinschaft zu bilden, wird es nicht gelingen. Es war dieses Bewusstsein, das den Gründervätern Adenauer, Schumann und de Gasperi den Mut verlieh, auf den Ruinen des durch die Nazibarbarei materiell und moralisch zerschundenen Kontinents eine Utopie in Angriff zu nehmen. Dieses Bewusstsein hielt im Kalten Krieg die Westeuropäer zusammen, ehe es sich nach 1989 in der Illusion eines ewigen Friedens verlor. Die doppelte Bedrohung durch Putins Krieg und den Horror eines möglichen Trump-Comebacks reißt die Europäer endlich aus ihren Träumen. Sie fangen an, darüber nachzudenken, was es heißt, auf sich allein gestellt zu sein.

Die Alarmglocke rührte ausgerechnet eine SPD-Politikerin. Katarina Barley, Spitzenkandidatin ihrer Partei für die Europawahl, antwortete in einem „Tagesspiegel“-Interview auf die Frage, ob Europa angesichts der dramatisch veränderten Weltlage die Atombombe brauche: „Auf dem Weg zu einer europäischen Armee kann (also) auch das ein Thema werden“. Damit griff Barley ein Tabu an, vielleicht das letzte, das nach der sprichwörtlichen Zeitenwende übriggeblieben ist.

Die Reaktionen fielen aus wie stets, wenn ausgesprochen wird, was wie ein Rühr-mich-nicht an lange aus dem gängigen politischen Diskurs ausgesperrt war. Der Verteidigungsminister, Sprecher der Ampel-Parteien und der CDU/CSU schüttelten bedenklich die Köpfe. Die Diskussion sei unzeitgemäß, lautete die mildeste Form der Zurückweisung. Tatsächlich würde niemand bestreiten, dass die Atommacht Europa in weiter Ferne liegt. Gleiches gilt für die Europaarmee. Ein erster Ansatz scheiterte 1954 im französischen Abgeordnetenhaus. Heute verfügt die Europäische Union über den zweifelhaften Luxus von 27 nationalen Streitkräften, die kunterbunt ausgerüstet und mehrheitlich unterfinanziert sind.

Wo die Bedrohung real ist, ist die Vision kein unnützes Zeug, sondern der notwendige Zugang zur Realität. Wann je war es dringlicher, sich auf die eigene Kraft zu besinnen, als jetzt? Das öffentliche Nachdenken über eine Europa-Armee und eine europäische nukleare Abschreckung könnte der im Juni anstehenden und sonst im Klein-Klein versinkenden Europawahl ein echtes Thema geben. Es hätte auch den wünschbaren Nebeneffekt, den anachronistischen Irrsinn der sogenannten „Alternative für Deutschland“ zu entlarven, die mit ihrer Europa- und NATO-Feindlichkeit unser Land in die Verzwergung führen möchte.

Nenne mir deine Freunde, und ich weiß, wer du bist. Dass die AfD und mit ihr andere rechtspopulistische Parteien Typen wie Putin und Trump bewundern, reicht eigentlich allein schon als Visitenkarte aus. Donald Trump konnte man eine Weile für einen narzistischen Clown halten. Die Zeiten sind seit dem Sturm auf das Capitol vorbei. Nun hat er seine blindwütige Geisterfahrt weiter beschleunigt. Den Europäern drohte er, Amerika werde diejenigen nicht schützen, die weniger Geld für die Verteidigung ausgeben als er persönlich für richtig hält. Putin forderte er auf, sind in solchen Fällen zu bedienen. Was wäre die Beistandsverpflichtung, der Kern westlicher Abschreckung seit Gründung der NATO, noch wert, sollte Trump wieder ins Weiße Haus einziehen?

Die Diskussion sei nicht zeitgemäß? Gerade weil die glaubwürdige europäische Verteidigungsfähigkeit ein so anspruchsvolles Ziel ist, muss die Diskussion jetzt aufgenommen werden. Berlin kann sich hier einiges zutrauen. Die Ampelregierung hat seit dem 24. Februar 2022, dem Überfall Russlands auf die Ukraine, beachtliches geleistet. Gewiss, hatte Olaf Scholz mitunter gezögert und den Eindruck genährt, er müsse zum Jagen getragen werden. Aber es war kein Leichtes, seine Partei, die SPD, und die Grünen zur Abkehr von der pazifistischen Tradition zu bewegen. Ein Paradigmenwechsel war es, der wohl noch nicht abgeschlossen ist. Aber allein die Tatsache schon, dass das Wort Abschreckung aus den Kellern der Heiligen Inquisition hervorgeholt wurde, stellt eine Leistung dar, der die Geschichtsschreibung ein gutes Prädikat ausstellen wird. Deutschland ist heute tatkräftiger Unterstützer der überfallenen Ukraine. In Europa muss es sich vor niemandem verstecken. Es kann sich leisten, über den Tag hinaus zu denken.

Natürlich sind die USA für die Ukraine und die Sicherheit Europas vor Putins Neo-Imperialismus noch wichtiger. Noch! Es ist daher richtig, wenn der Kanzler das transatlantische Band pflegt, wie er es sich mit seinem Besuch bei Joe Biden getan hat. Die Verantwortung Washingtons für das Bündnis, das über Jahrzehnte den Frieden in Freiheit gesichert hat, anzumahnen, ist eine logische Ableitung der Tatsache, dass Europa militärisch und politisch den Vereinigten Staaten noch lange nicht das Wasser reichen kann.

Die Hinwendung auf die eigenen Mittel und Möglichkeiten steht dazu nicht im Widerspruch. Sie ist vielmehr eine Ergänzung und Prophylaxe für den keineswegs unwahrscheinlichen Fall, dass das Weiße Haus wieder in die Hände eines Hasardeurs fällt. Am Ende dieses Jahres! Von der Bundesregierung ist jetzt zu erwarten, dass sie wieder aufnimmt, was Deutschland praktisch seit dem Ende der Regierung Kohl hat schleifen lassen – eine gestaltende Europapolitik gemeinsam mit Frankreich. Vor mehr als sechs Jahren hat der französische Präsident Emanuel Macron angeboten, über das zu sprechen, was er europäische Souveränität nennt. Die Antwort Berlins steht bis heute aus.

Es muss ausgelotet werden, was europäische Souveränität konkret beinhaltet bzw. voraussetzt. Dazu gehören zweifellos Reformen, die die Handlungsfähigkeit der Union verbessern. Einfach wird auch das nicht. Das aufeinander folgende Hinscheiden von Jacques Delors und Wolfgang Schäuble hat schmerzhaft deutlich gemacht, dass die großen Europäer alle in Walhalla sind. Die Merkel-Jahre mit ihrer Signatur bequemlichkeitsbasierter Status-quo-Beharrung haben die Achse Berlin-Paris einrosten lassen und Europa viel Zeit gekostet. Dass Merkel nur den gesellschaftlichen Konsens spiegelte und es nirgendwo in Europa voranging, nimmt Deutschland nichts von seiner Verantwortung.

Klar ist auch, dass europäische Souveränität ohne nuklearen Schutzschirm nicht auskommt. Den liefern bisher die USA, und solange das so bleibt, wird Putin von Partnerländern des Nordatlantikpakts die Hände lassen. Was aber, wenn Trump kommt? Schon jetzt haben die Äußerungen des Mannes, der formal noch nicht einmal der Kandidat der Republikanischen Partei ist, die Glaubwürdigkeit der Abschreckung beschädigt und damit mutwillige Autokraten zu einer Party folgenschwerer Irrtümer eingeladen. Was ist mit Frankreichs atomarer Force de Frappe, was mit der den britischen Atomwaffen? In welcher Weise können sie in ein Konzept europäischer Abschreckung eingehen? Das sind Fragen, für deren Lösung es keine Blaupausen gibt. Sie zielen ins Zentrum des Spannungsfeldes von Nationalstaatlichkeit und Vergemeinschaftung und somit aufs europäische Eingemachte. Den Kopf in den Sand zu stecken, wäre die schlechteste Lösung.      

   Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.   

 

 

 

 

 

 

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