Die durchgeknallte Republik
Von Gisbert Kuhn

Zehntausende demonstrieren in der Leipziger Innenstadt. Noch mehr Menschen drängeln sich, protestierend, in Berlin vor dem Brandenburger Tor und dem Reichstagsgebäude, einige schaffen es sogar mit Triumphgeschrei bis vor die Eingangstore des Bundestages. Andere, nur wenige zwar, werden von rechtslastigen Abgeordneten sogar in den Parlamentsbau eingeschleust. Massenaufläufe auch in zahlreichen weiteren deutschen Groß- und Kleinstädten.
Vor ziemlich genau dreißig Jahren waren schon einmal ungezählte Bürger auf die Straßen und Plätze geströmt. Sie forderten seinerzeit Freiheit für sich ein – Meinungs-, Bewegungs-, Presse- und Wahlfreiheit. Dafür riskierten sie unendlich viel. Sogar ihr Leben. Mit ihrem Mut leiteten sie jedoch den Sturz eines diktatorischen Regimes ein, das Ende der DDR, die Wiedervereinigung Deutschlands – ja, geradezu revolutionäre Veränderungen inner- und außerhalb Europas.
Daran muss man erinnern, wenn heute wieder Massen auf die Straße gehen. Wieder mit Parolen, in denen häufig genug der Begriff „Freiheit“ vorkommt. Und auch das Schreckenswort „Diktatur“ trägt man vor sich her. Dazu erneut die Forderung nach „Meinungs- und Demonstrationsrecht“. Wohlgemerkt – Zehntausende demonstrieren für das Recht zum Demonstrieren! Ungehindert, sofern sie sich an die vorgegebenen Auflagen halten. Und sie verlangen – lauthals skandierend oder auf Plakaten – die Freiheit, ihre Meinung äußern zu können!
Noch einmal wohlgemerkt: Das geschieht in Deutschland, zu Beginn der dritten Dekade des 21. Jahrhunderts. Und, nicht dass ein Missverständnis entsteht, die Menschenmassen auf den Straßen und Plätzen der Republik flehen nicht um jene Freiheit und jene Rechte, die ihnen bislang vorenthalten wurden. Nicht so wie jene vor dreißig Jahren in Jena, Leipzig, Dresden und Ost-Berlin. Nein, sie fordern etwas ein, was sie doch längst wahrnehmen und gerade jetzt tun – Meinungs- und Demonstrationsfreiheit!
Ist unsere Republik durchgeknallt? Total übergeschnappt? Versuchen wir doch wenigstens mal wieder, uns auf dem berühmten Boden der Tatsachen zu stellen. Ungefähr seit Beginn dieses Jahres bedroht ein – von China ausgegangenes – Virus mit der Bezeichnung Covid 19 und dem schmeichelnden Beinamen „Corona“ („Krönchen“) die Menschheit. Und zwar bis in den letzten Winkel der Erde. Wie bei allen anderen Erregern besteht die Kalamität auch bei diesem, dass man ihn nicht sieht. Wer also nicht selbst (oder ein Angehöriger) betroffen ist oder zu den – nicht selten über ihre Kräfte hinaus arbeitenden – Ärzten, Krankenschwestern und Pflegern gehört, nimmt nicht unbedingt die Gefahr wahr. Oder er leugnet sie gar.
Das ist gewiss sein (und ihr) Recht. Wenigstens so lang er (und sie) dieses Recht nicht über die Pflicht der demokratisch gewählten, auf allen Verwaltungsebenen für das Volkswohl und die Gesundheit im Staat Verantwortlichen stellt. Schon der Anspruch, zum Schutz der Bevölkerung erlassene und (vielleicht oder tatsächlich) die eigene Mobilität einschränkende, Maßnahmen in den Wind schlagen zu können, ist anmaßend genug. Denn er lässt jegliche Rücksicht auf die Mitmenschen vermissen. Aber: In welcher Gedanken- und Vorstellungswelt muss man sich eigentlich bewegen, wenn man den Kampf gegen eine gefährliche Seuche als „den ruchlosen Versuch bestimmter politischer Kräfte“ umdeutet, die Verfassung auszuhebeln?
Nun sind Massenaufläufe und Großdemonstrationen für diese Republik nichts Neues. Und damit auch nicht so außergewöhnlich wie die Kommentatoren in manchen Medien glauben machen möchten. In der ersten Hälfte der 50-er Jahre des vorigen Jahrhunderts liefen hunderttausende Bürger der jungen Bundesrepublik – noch traumatisiert von Krieg und Nachkriegszeit – gegen die so genannte Wiederbewaffnung Sturm. Ende der „60-er“, es war zu Zeiten der ersten Großen Koalition, waren es die Märsche gegen die (zur Ablösung noch bestehender alliierter Vorbehaltsrechte notwendige) „Notstandsgesetzgebung“. Danach bebte der Staat geradezu in Massenfurcht vor der „Volkszählung“, deren simpler Sinn es war, herauszufinden, in welchen Wohn- und Lebensverhältnissen sich die Bevölkerung befand. Schließlich, für Viele noch immer unvergessen, der Aufstand gegen die NATO-Nachrüstung mit atomar bestückten US-Mittelstreckenraketen für den Fall, dass die Sowjetunion nicht die entsprechenden, von ihr längst in der DDR stationierten Flugkörper abbaue.
Man sieht also, es besteht hierzulande eine lange Protest- und Demonstrations-Tradition. Vor allem jedoch besteht in unserer Gesellschaft offensichtlich eine permanente Bereitschaft, sich (wovon auch immer) sofort in Angst und Schrecken versetzen und damit „auf die Straße“ treiben zu lassen. Das können wichtige und nachvollziehbare Anlässe (Wiederbewaffnung, Nachrüstung) sein, aber auch nichtige, ja absonderliche, wie seinerzeit die Volkszählung.
Allerdings hat das, was zurzeit geschieht, eine andere Qualität. Wir schütteln – mehrheitlich – fassungslos den Kopf über die aktuellen „amerikanischen Zustände“. Darüber, wie – mit und ohne Zutun von Donald Trump – sich eine Gesellschaft mit der längsten demokratischen Tradition überhaupt nicht nur spalten, sondern sogar fast zu Feinden machen lässt. Und bei uns selbst? Würde man die – erneut: mehrheitlichen – Eintragungen etwa bei facebook als tatsächliches Meinungs-Spiegelbild der Deutschen nehmen, könnte dies fraglos zur Überlegung führen, schleunigst nach (sagen wir) Kanada auszuwandern. Was sich dort auch Hässlichem, Bedrohlichem, Unfreundlichem ansammelt, zeugt leider wieder einmal davon, dass der Mensch halt nicht von Grund auf gut ist. Deshalb ist es immer wieder vonnöten, sich klarzumachen, dass sich hier ganz sicher nicht die Mehrheit der Menschen in Deutschland Gehör zu verschaffen versucht.
Trotzdem: Was Sorge bereitet, ist etwas anderes. Die Aktivitäten in den „Netzen“ sind natürlich nicht zu trennen von den Vorgängen auf den Straßen. Und richtig ist sicher auch: Digitale Mehrheiten sind keineswegs Ausdruck von wirklicher Macht, Größe oder Einfluss. Dennoch haben in der Geschichte der Menschheit gut organisierte (heute sagt man „vernetzte“) Minderheiten immer amorphe Mehrheiten majorisiert. Hinzu kommt jetzt noch eine weitere „Qualität“. Unter die, nicht selten, auch gewiss „gutwilligen“ Demonstranten haben sich längst extreme „Aktivisten“ gesellt, die mittlerweile im Bundestag mit der rechtspopulistischen AfD sogar bereits eine politische Plattform besitzen. Wie weit diese Verbindung bereits reicht, zeigt der höchst „eigenwillige“ Auftritt einiger angeblicher „Demokratieverteidiger“, die von drei AFD-Abgeordneter in den Bundestag geschleust wurden.
Nun sollten nicht alle Empörungsrufe aus dem großen Kreis der anderen Fraktionen zum Nennwert genommen werden. Denn das „Hohe Haus“ ist keineswegs jetzt zum ersten Mal zum Schauplatz „fremder“ Politdemos gemacht worden. 2019 entrollen zum Beispiel Mitglieder der Fridays-for-Future“-Bewegung im Plenarsaal direkt vor Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble ein Plakat mit der Aufschrift „Eure Klimapolitik = Katastrophe“. Und dieses Jahr gab es im Plenum eine Flugblattaktion von „Green Peace“. Die Reaktionen der Abgeordneten, aber auch der Presse, war in diesen Fällen eher zurückhaltend bis verständnisvoll. Warum? Weil es dabei um eine „gute Sache“ ging? Beides waren, zweifellos, Versuche der Einflussnahme und Nötigung. Doch im Grunde war das genauso wenig hinnehmbar wie jetzt der „Zirkus“ der Afd-Freunde. Ein kluger Ratschlag aus dem Lateinischen heißt. „Wehret den Anfängen!“. Und: „Bedenket das Ende“.
Denn wenn dieses „Ende“ vielleicht das Ende der Konsensdemokratie wäre, mit der wir bisher in Deutschland, auch bei strittigen Problemen, sehr gut gefahren sind, dann Gute Nacht. Wenn statt zivilisierter Streitkultur Sprachlosigkeit Einzug hielte im Land, oder gar politische, sachliche und ideologische Unterschiede zu Feindschaften führten und man sich überhaupt nicht mehr zuhörte – dann Gnade Gott diesem Land und den Menschen. Noch aber überwiegt die Überzeugung, dass Klugheit, Solidarität und Humanität stärker sind als Dummheit, Intoleranz und bloße Lautstärke auf der Straße.
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