von Sepp Spiegl

Wenn Worte Kanonen sind – Die Geschichte und Bedeutung einer drastischen Redewendung

In der reichen Landschaft deutscher Redewendungen sticht eine besonders bildhafte und drastische Formulierung hervor: „unter aller Kanone“. Was zunächst militärisch klingt, ist ein fester Bestandteil des alltäglichen Sprachgebrauchs – ob im Job, im Privatleben oder sogar in der Politik. Doch was genau steckt hinter dieser Formulierung, woher kommt sie, wie wird sie heute gebraucht und was sagen internationale Vergleiche?

Herkunft: Zwischen Latein und Militär

Die Redewendung „unter aller Kanone“ hat überraschenderweise weniger mit Kriegsgerät zu tun, als man vermuten könnte. Ihr Ursprung liegt im Lateinischen: „sub omni canone“, was wörtlich übersetzt „unter jeder Norm“ bedeutet. In der mittelalterlichen Scholastik wurde der Ausdruck verwendet, um Arbeiten zu beschreiben, die nicht einmal den niedrigsten Anforderungen entsprachen – sie fielen aus dem Kanon, dem Regelwerk, völlig heraus. Später wurde die Redewendung ins Deutsche übertragen, wobei die Ähnlichkeit zu „Kanone“ den Ausdruck mit einem militärischen Beiklang versah. Die bildhafte Vorstellung eines Niveaus, das sogar „unterhalb der Kanonenrohre“ liegt, verstärkte den abwertenden Ton.

Gebrauch im Alltag: Wenn etwas wirklich schlecht ist

Heute wird „unter aller Kanone“ benutzt, um etwas als besonders schlecht, miserabel oder inakzeptabel zu bezeichnen.

Beispiele im Berufsleben:

  • „Die Präsentation war unter aller Kanone – völlig unvorbereitet und voller Fehler.“

  • „Wie das Kundenservice-Team heute reagiert hat, war wirklich unter aller Kanone.“

Der Ausdruck dient häufig als Ausdruck emotionaler Entrüstung, insbesondere wenn Erwartungen stark enttäuscht werden.

Im Privaten:

  • „Sein Verhalten auf der Familienfeier war unter aller Kanone – so redet man nicht mit der Oma!“

  • „Dass sie sich nie meldet, ist echt unter aller Kanone.“

Der Begriff kommt hier oft zum Einsatz, wenn persönliche Werte oder zwischenmenschliche Erwartungen verletzt werden.

In der Öffentlichkeit:

  • „Die Hygiene in diesem Restaurant ist unter aller Kanone.“

  • „Wie der Moderator mit den Gästen umgeht, ist unter aller Kanone.“

Ob bei Bewertungen auf Online-Portalen oder in der öffentlichen Kritik – die Redewendung bietet eine kurze, aber klare Verurteilung.

Wo man „unter aller Kanone“ einsetzen kann

Die Redewendung „unter aller Kanone“ ist sehr ausdrucksstark – und genau deshalb sollte man sie mit Bedacht einsetzen. Sie wirkt emotional, verurteilend und absolut, was je nach Kontext angebracht oder unklug sein kann.

1. In der privaten Meinung oder informellen Kommunikation

  • Beim Gespräch mit Freund:innen oder Familie, wenn man seinem Unmut Luft machen will.

  • Beispiel:
    „Der Film gestern war echt unter aller Kanone – total langweilig und schlecht gespielt.“

2. In Bewertungen (z. B. Online-Rezensionen)

  • Wenn man seiner Enttäuschung über ein Produkt oder eine Dienstleistung Ausdruck verleihen möchte.

  • Beispiel:
    „Das Hotel war unter aller Kanone – dreckig, laut, schlechter Service.“

3. In Kolumnen, Blogs oder satirischen Formaten

  • Um Missstände pointiert und überzogen darzustellen, z. B. in Medienkritik oder Satire.

  • Beispiel:
    „Die Diskussion im Bundestag war sprachlich und sachlich unter aller Kanone.“

4. Im privaten Arbeitsumfeld, intern unter Kolleg:innen

  • Wenn man sich über einen Ablauf oder ein Ergebnis sehr ärgert – aber nur in sicherem, vertrautem Rahmen.

  • Beispiel:
    „Der Bericht war unter aller Kanone – das kann man so nicht an den Kunden geben.“

Wo man „unter aller Kanone“ nicht verwenden sollte

1. In professionellen oder formellen Kontexten

  • In E-Mails, Gesprächen mit Vorgesetzten oder Kund:innen wirkt der Ausdruck respektlos, unprofessionell oder beleidigend.

  • Besser: „entspricht nicht den Erwartungen“, „verbesserungswürdig“, „nicht zufriedenstellend“.

2. Bei direkter Kritik an Menschen

  • Der Ausdruck kann verletzend oder herablassend wirken, besonders bei persönlicher Kritik.

  • Beispiel (ungeschickt):
    „Deine Arbeit war unter aller Kanone.“
    → Besser: „Ich denke, da gibt es noch viel Verbesserungspotenzial.“

3. Im öffentlichen Diskurs oder bei offiziellen Reden

  • In Politik, Medien oder öffentlicher Kommunikation wirkt „unter aller Kanone“ populistisch oder unsachlich.

  • Besser: „nicht tragbar“, „inakzeptabel“, „weit unter dem Standard“

4. Im pädagogischen oder erzieherischen Umfeld

  • Gegenüber Schüler:innen, Studierenden oder Auszubildenden ist der Ausdruck demotivierend und pauschal abwertend.

  • Besser: „Da ist noch Luft nach oben“, „Das entspricht noch nicht dem Zielniveau“

Zusammenfassung

Geeignet für Ungeeignet für
Private Gespräche Offizielle Schreiben / berufliche Kommunikation
Online-Kritiken Direkte Kritik an Personen
Informelle Chats im Team Schulischer oder pädagogischer Kontext
Satirische Texte / Medien Politische oder diplomatische Reden

Jugend und Umgangssprache: Veraltet oder noch lebendig?

Unter Jugendlichen ist die Redewendung seltener geworden, da sie als „altmodisch“ oder „Elternsprache“ wahrgenommen wird. Stattdessen sind Begriffe wie „cringe“, „lost“ oder „komplett daneben“ populärer. Trotzdem bleibt „unter aller Kanone“ ein Teil der allgemeinen Sprachkompetenz – verstanden wird sie nach wie vor.

In Politik, Wirtschaft und Beruf: Ein gefährlicher Drahtseilakt

In der Politik wird „unter aller Kanone“ gelegentlich von Kommentatoren oder Journalist:innen verwendet – seltener direkt von Politiker:innen selbst, da die Formulierung zu drastisch ist und zu eskalierend wirken kann.

In der Wirtschaft hingegen kann die Redewendung in interner Kommunikation als Ausdruck von Frustration oder bei der Bewertung von Leistungen auftauchen:

  • „Das Ergebnis dieses Quartals ist unter aller Kanone – wir müssen dringend gegensteuern.“

Im beruflichen Umfeld sollte der Begriff mit Vorsicht genutzt werden, da er wenig konstruktiv ist und als beleidigend wahrgenommen werden kann.

Internationale Vergleiche: Gibt es Äquivalente?

Auch in anderen Sprachen gibt es Redewendungen, die ähnlich drastisch auf extrem schlechte Qualität verweisen:

  • Englisch: „That was rock bottom“ oder „absolutely terrible“: Das war der Tiefpunkt oder absolut schrecklich

  • Französisch: „C’est nul à chier“ (wörtlich: „zum Scheißen schlecht“) – sehr vulgär

  • Italienisch: „Fa schifo“ – „es ist eklig / miserabel“

  • Spanisch: „Es un desastre total“ – „ein totales Desaster“

Die deutsche Variante ist dabei besonders bildhaft und historisch aufgeladen, was ihr einen gewissen kulturellen Tiefgang verleiht.

Im Umgang mit anderen Menschen: Ausdruck von Ärger oder Respektlosigkeit?

Obwohl „unter aller Kanone“ gelegentlich als Ventil für Ärger dient, birgt es auch die Gefahr, andere zu verletzen oder bloßzustellen. In sozialen Beziehungen ist der Ausdruck daher mit Vorsicht zu genießen. Kritik konstruktiv zu äußern ist oft zielführender.

„Unter aller Kanone“ ist ein Paradebeispiel dafür, wie sich historische Redewendungen im Sprachalltag halten – trotz Bedeutungswandel und Sprachwandel. Auch wenn die Jugend andere Begriffe bevorzugt, bleibt der Ausdruck ein fester Bestandteil des deutschen Wortschatzes, wenn es darum geht, klar und kompromisslos Kritik zu üben. Ob im Berufsleben, in der Politik oder im privaten Miteinander: Wer „unter aller Kanone“ sagt, zieht eine rote Linie – und tut dies mit einem Hauch von Geschichte in der Stimme.

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