Von Wolfgang Bergsdorf

Wolfgang Bergsdorf

Die Amtseinführung von Joe Biden als 46. Präsident der Vereinigten Staaten hat weltweit Aufmerksamkeit gefunden. Man glaubte, hören zu können, wie seiner Vereidigung in den Regierungszentralen und Außenministerien der mit den USA verbündeten Länder die Steine von den Herzen der Verantwortlichen fielen. Bundespräsident Walter Steinmeier nannte diese Inauguration „einen guten Tag für die Demokratie“, nachdem der „Populismus auch die mächtigste Demokratie der Welt verführt“ habe. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen freut sich darüber, dass die Vereinigten Staaten nach vier hemmenden Jahren zur internationalen Zusammenarbeit zurückkehren. Der Präsident des Europäischen Rates, der Belgier Charles Michel, bot dem neuen Mann im Weißen Haus einen „neuen Gründungsakt zur Erneuerung der transatlantischen Beziehungen“ an.

Es verwundert nicht, dass der neuen Administration in Washington ein so großer Vorschusslorbeer gewährt wird. Denn die Erwartungen an Joe Bidens Vorgänger Donald Trump waren schon am Beginn von dessen Amtseit gerade in Europa dem Nullpunkt nahe. Dieser tiefgezogene Erwartungshorizont wurde in den folgenden vier Jahren nach den praktischen Erfahrungen mit seiner Politik noch deutlich unterboten. Von Bündnisverpflichtungen, Verträgen und Absprachen hielt Trump nur dann etwas, wenn er darin Nützliches für Amerika (und/oder für sich selbst) zu erkennen glaubte. Sein Schlachtruf „Amerika first“ hat das internationale Ansehen seines Landes schwer beschädigt und seinem Nachfolger auf den weiten Feldern der Außen- und Sicherheitspolitik eine schwere Hypothek hinterlassen.

Einen nachhaltig negativen Eintrag in die Geschichtsbücher und Demokratie-Leitfäden verschaffte sich Trump zudem mit der Rede vor seinen wutschnaubenden Anhängern am 6. Januar, in der er sie unverhohlen zu einem Sturm auf das Kapitol ermutigte, weil ihm angeblich der Wahlsieg gestohlen worden sei. Dort drangen Hunderte, teils martialisch Kostümierte, gewaltsam in die Herzkammer der amerikanischen Demokratie ein, um die Bestätigung der Präsidentschaft Bidens zu verhindern. Viele Verletzte, fünf Tote, vor allem aber die Erschütterung des amerikanischen Selbstvertrauens gehörten zur Bilanz dieses Tages.

Die Grand Old Party (GOP) der Republikaner wird noch viel Zeit brauchen, um sich vom Ko-Schlag zu erholen, den ihr der „größte Präsident seit Lincoln“ – so Trump in seiner Selbstein- und -überschätzung – versetzt hat. Dabei gehörte Abraham Lincoln in Wahrheit zu den größten Warnern vor einem Abgleiten der Demokratie in den Populismus. Er fürchtete den „mobocratic spirit“, also die Gewalt der Straße. Lincoln verlangte von seinen Landsleuten die Hingabe an das Gesetz als die politische Religion des Landes.

Das schärfste Urteil über den republikanischen Präsidenten Trump stammt von einem anderen Republikaner, von dem früheren kalifornischen Gouverneur Arnold Schwarzenegger. Der aus Österreich stammende, einstige Schauspieler befand nach dem Sturm des Mobs auf das Kapitol, Trump sei „der schlechteste Präsident aller Zeiten“. Immerhin war Trump der erste US-Präsident, gegen den zwei Amtsenthebungsverfahren angestrengt wurden. Es ist seiner Politik geschuldet, dass die Demokraten künftig nicht nur im Weißen Haus, sondern auch im Senat und Repräsentantenhaus (also in beiden Kammern des Parlaments) das Sagen haben. Insofern war es natürlich irgendwie verständlich, dass sich Trump dazu entschieden, der Inaugurationsfeier seines Nachfolgers die Ehre seiner Anwesenheit vorzuenthalten.

Es bedurfte nur eines Blicks auf die terrorrismus- und coronabedingt wenigen hundert Mitwirkenden und Gäste bei der Amtseinführung des 46. Präsidenten der USA, um einen wesentlichen Unterschied zur früheren Administration zu erkennen. Alle Anwesenden – einschließlich des Präsidenten und seiner Stellvertreterin, Kamala Harris – trugen Gesichtsmasken. Anders als Trump, der die Virus-Pandemie von Anfang an heruntergespielt hatte und deshalb Masken ablehnte, will Biden von Anfang an den Kampf gegen die Seuche als eine seiner Hauptaufgaben verstanden wissen. Schon am Abend vor seiner Vereidigung hat er zusammen mit seiner Vizepräsidentin der mehr als 400 000 Toten gedacht, die Amerika in den vergangenen 12 Monaten zu beklagen hat. Mit mehr als 1 Billion Dollar und neuen Schutzvorkehrungen will Biden die Folgen der Pandemie bekämpfen. Auch in der Antrittsrede nach seiner Vereidigung bat der Präsident seine Zuhörer um einen Moment des stillen Gedenkens an die Corona-Opfer.

Auf diese Ansprache hatte sich Biden seit November vorbereitet. Der Präsident wählte in freier Rede seine Worte klug und sorgsam, wie das bei vielen der Fall ist, die in ihrer Jugend gestottert haben. Oft entwickeln sie eine besondere Sensibilität für die Sprache. Biden gelang eine glänzende Rede. Sie enthielt alle Elemente, die gemeinhin bei solchen Gelegenheiten erwartet werden. Allerdings wurden die Akzente doch sehr unterschiedlich gesetzt. Die Zerrissenheit des Landes stand im Vordergrund – und damit die Herausforderung, Brücken zu bauen. Amerika sei heute ein kaputtes Land, das der Heilung bedürfe. Fortschritt lasse sich nur in Einheit und Geschlossenheit erreichen. Es gelte, vieles zu reparieren, was beschädigt wurde und Neues zu errichten. Der Sturm auf das Kapitol habe die friedliche Machtübertragung nicht verhindern und damit dem Sieg der Demokratie nichts anhaben können. Heute gebe es einen neuen Anfang. Amerikaner seien noch nie gescheitert, wenn sie einig waren.

Wie ein cantus firmus, den man aus der Musik kennt, durchzog der Appel zur Überwindung der gesellschaftlichen Spaltungen Joe Bidens Rede. Das war auch die zentrale Botschaft der Inaugurationsfeier insgesamt, die von starken Einflüssen aus Hollywood geprägt wurde. Unüberschaubar war das Meer von Fahnen, viele Uniformen waren zu sehen. Und auch die musikalischen Präsentationen von Lady Gaga, Jennifer Lopez und (der sich eigentlich dem republikanischen Lager zurechnende) Country-Sänger Garth Brooks, vor allem aber der Auftritt der jungen, farbigen Lyrikerin Amanda Gorman machten sich die Versöhnungs- und Einheitsbotschaft des neuen Präsidenten zu eigen.

Mit ihrem bewegenden Gedicht ist die 22-Jährige die jüngste Dichterin, die auf der Amtsantrittsfeier des ältesten aller US-Präsidenten zu Wort kam. Innerhalb von kürzester Zeit wurde die Nachfahrerin von Sklaven zum Star im „Netz“. Sie vermochte es, auch die Fernsehzuschauer fern von Washington in ihren Bann zu schlagen. Auch bei ihr hat Stottern in der Kindheit später zu einer besonderen Sensibilität für Sprache geführt.

Auffällig war, dass Biden darauf verzichtete, auf seine Biografie einzugehen. Mit einigen Todesfällen innerhalb seiner engsten Familie hätte er ja leicht begründen können, weshalb ihm Schmerz und Leid nicht fremd sind und daher Mitgefühl zu einem Charakterzug wurde. Als jahrzehntelanger Senator und als Vizepräsident unter Barak Obama konnte er- darüber hinaus – jenes Maß an Erfahrung sammeln, das nötig ist, um mit Erfolg die Aussöhnung des Landes mit sich selbst in Angriff zu nehmen

Für europäische Ohren präsentierte diese Rede, wie ja überhaupt die amerikanische politische Rhetorik, ein hohes Maß an patriotischem Pathos, das anders allerdings (anders als bei seinem Vorgänger) nicht hohl klang, sondern viel Substanz enthielt. Auch die religiöse Aufladung der Rede des Katholiken Joe Biden – u.a. mit Zitaten des Kirchenlehrers Augustinus – ist für amerikanische Ohren nichts Ungewöhnliches. Vielleicht hat ihm hierzu Pater Leo O´ Donovan SJ geraten, früherer Präsident der Georgetown-Universität der Jesuiten in Washington, der auch bei der Amtseinführung ein Gebet sprach. Dieser hatte den neuen Präsidenten auch auf den von den Nazis ermordeten Jesuiten Alfred Delp aus dem Kreisauer Widerstands-Kreis gegen Hitler aufmerksam gemacht, den Biden in seiner letzten Weihnachtsansprache als Hoffnungsträger hervorhob.

Dass amerikanische Präsidenten in aller Regel gute Redner sind, ergibt sich aus dem scharfen Auslesungsprozess, in dem die rhetorischen Fähigkeiten eine besondere Rolle spielen. Freilich, ob den Rednern später wirklich einmal historische Bedeutung attestiert wird, aber die Taten. Deshalb war der neue Präsident gut beraten, schon am ersten Tag in seinem neuen Amt sozusagen Pflöcke einzuschlagen.

Für die Europäer sind, in diesem Zusammenhang, mindestens sieben Entscheidungen von Bedeutung. Die Kündigung des Pariser Klimaabkommens wurde zurückgenommen, der vorbereitete Austritt der USA aus der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurde gestoppt. Außerdem kommt das Atomabkommen mit dem Iran kommt wieder auf die Tagesordnung. Auch an dem Abrüstungsabkommen mit Russland will Joe Biden festhalten. Der von Trump verhängte Einreisestopp für Bewohner aus den meistens muslimischen Ländern wird zurückgenommen, der Weiterbau der Mauer an der amerikanischen-mexikanischen Grenze eingestellt und schließlich auch die Einwanderungs-Problematik auf den Prüfstand gestellt. Das alles sind Vorhaben von enormer symbolischer und praktischer Bedeutung. Sie lassen erkennen, wohin Präsident Biden seine Politik treiben will: Gräben zuschütten, Grenzen überwinden, neue Regeln suchen, um Freiheitsräume zu sichern und neue Berechenbarkeit in der internationalen Politik zu erreichen.

 

 

 

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