Das Problem mit Schottland …

Glasgow prescht forsch mit einem erneuten Referendum über die Unabhängigkeit des Landes vor. Doch London hält weiterhin alle Trümpfe in der Hand.

© Eleonora Pavlovska auf Pixabay.com

Wie alle Kinofans spätestens seit Braveheart wissen, waren sich die Engländer und die Schotten nie so grün wie die Highlands im Frühjahr. Seit den schottischen Parlamentswahlen im Mai 2021 ist nun mehr als ein Jahr vergangen. Die regierende Scottish National Party (SNP) hat sich zwar nicht die Mehrheit der Sitze sichern können (einer fehlt), konnte aber mit der Scottish Green Party eine Koalitionsregierung bilden.

Beide Parteien propagieren die schottische Unabhängigkeit, und genau wie vor den Wahlen gibt es im schottischen Parlament insgesamt eine Mehrheit für die Durchführung eines neuen Unabhängigkeitsreferendums und für die Gründung eines souveränen schottischen Staats. Nach jahrelanger Untätigkeit aufgrund der Pandemie hat die schottische Regierung dem Thema Unabhängigkeit nun mit zwei wichtigen Ankündigungen wieder neues Leben eingehaucht.

In dieser Woche stellte die schottische Regierungschefin, Nicola Sturgeon, die Pläne ihrer Regierung zur Erfüllung ihrer Zusage, bis Ende 2023 ein Unabhängigkeitsreferendum abzuhalten, vor. So strebt die schottische Regierung ein Referendum für den 19. Oktober 2023 an. Die britische Regierung stimmt einer Abstimmung jedoch nicht zu. Daher hat der oberste Rechtsberater der schottischen Regierung, der Lord Advocate, den Obersten Gerichtshof des Vereinigten Königreichs ersucht, darüber zu entscheiden, ob das schottische Parlament selbst ein Referendum ansetzen kann.

Bereits vor ein paar Wochen hatte Sturgeon versucht, die Diskussion über die schottische Unabhängigkeit neu zu beleben. Gemeinsam mit ihrem Kollegen von den Grünen erklärte Sturgeon, die Zeit für eine neue Unabhängigkeitsdebatte sei gekommen. Parallel dazu veröffentlichte die schottische Regierung einen Bericht, der die wirtschaftliche und sozialpolitische Bilanz des Vereinigten Königreichs und anderer europäischer Länder vergleicht und aufzeigen soll, dass Schottland als unabhängiger Staat besser dran wäre. Für die SNP ist die Frage der Unabhängigkeit nun das Kernanliegen der schottischen Politik.

Für die SNP ist die Frage der Unabhängigkeit nun das Kernanliegen der schottischen Politik.

Die schottische Unabhängigkeitsdebatte besteht seit langem aus zwei Elementen: Neben der verfahrenstechnischen Frage, ob ein Referendum abgehalten werden sollte, steht die inhaltliche Frage, ob Schottland überhaupt unabhängig werden sollte. In den letzten Jahren stand die Verfahrensdiskussion im Mittelpunkt. Seit 2017 herrscht Stillstand in der politischen Auseinandersetzung zwischen schottischer und britischer Regierung um ein neues Referendum. Darüber konnte weder zwischen den Parteien im schottischen Parlament noch zwischen den Regierungen in Edinburgh und London ein Konsens hergestellt werden.

Es ist daher bemerkenswert, dass sich die SNP bewusst dafür entschieden hat, die erneute Unabhängigkeitskampagne zu starten, bevor sie ihre Referendumspläne bekannt gab. Dem Bericht aus dem Juni soll in den kommenden Monaten eine Reihe von Veröffentlichungen unter dem Titel Building a New Scotland folgen. Laut Sturgeon reichen die Themen von Wirtschaft und Finanzen, Währung, Sozialfürsorge und Renten bis hin zu EU-Mitgliedschaft, Handel, Verteidigung und Sicherheit. Zusammengenommen enthalten diese Berichte im Vorfeld des Referendums, das ja bis Ende nächsten Jahres angepeilt ist, das Plädoyer der schottischen Regierung für die Unabhängigkeit.

Zwei Aspekte der neuen Kampagne springen ins Auge. Zum einen markiert die Veröffentlichung der New-Scotland-Berichte eine Abkehr von der Strategie, die im Vorfeld des Unabhängigkeitsreferendums 2014 gefahren wurde. Damals warb die schottische Regierung mit einem einzigen 650-Seiten-Bericht unter dem Titel Scotland’s Future für die Souveränität. Trotz seines Umfangs wird diesem Bericht bis heute vorgeworfen, dass er vage und mit heißer Nadel gestrickt gewesen sei. Mit der New-Scotland-Reihe möchte die SNP ähnlicher Kritik vorbauen, indem sie Kernthemen der inhaltlichen Debatte gezielt und geplant behandelt.

Zweitens konzentriert die schottische Regierung ihre Energien auf die inhaltliche Debatte. Die New-Scotland-Berichte sollen in erster Linie Argumente für die Unabhängigkeit darlegen, um die Wählerschaft von den Vorteilen zu überzeugen. Sie sollen nicht die ungelöste Frage beantworten, wie ein Referendum zustande kommen kann, wenn die britische Regierung es ablehnt. So mutet es durchaus etwas seltsam an, dass eine neue Kampagne für das Unabhängigkeitsreferendum auf den Weg gebracht wird, obwohl das Referendum selbst zwischen Edinburgh und London noch gar nicht vereinbart wurde. Dass es dennoch geschieht, lässt auf den Druck schließen, der auf SNP und Grünen lastet, da beide Parteien sich für ein Referendum wie auch für die künftige Souveränität einsetzen.

Umfragen der letzten Monate belegen, dass die Wählerschaft in der Verfassungsfrage gespalten ist.

Seit die schottische Regierung nach dem Brexit erstmals die Frage eines erneuten Unabhängigkeitsreferendums aufwarf, fordert sie konsequent eine „rechtmäßige“ und „verfassungskonforme“ Volksbefragung. Ziel ist es somit, die Unabhängigkeit auf solidem Wege zu erreichen, wenn sich die Wählerschaft dafür entscheidet. Dieses Ziel lässt sich nur in Kooperation mit der britischen Regierung erreichen. Der britische Premierminister Boris Johnson hat allerdings auch nach der Wahl des schottischen Parlamentes im vergangenen Jahr wiederholt klargestellt, dass er nicht gewillt ist, über das Thema zu reden. Vor diesem Hintergrund umgeht die SNP nun Verfahrensfragen und richtet abseits externer Verhandlungen den Blick auf Wahlkampfargumente. Diese Argumente kann die schottische Regierung der Bevölkerung direkt, mit eigener Stoßrichtung und nach eigenem Zeitplan präsentieren.

Ein Unabhängigkeitsreferendum kann die Souveränität herbeiführen, und eine Mehrheit in der Bevölkerung für die Unabhängigkeit kann ein Referendum nach sich ziehen. Umfragen der letzten Monate belegen, dass die Wählerschaft in der Verfassungsfrage gespalten ist, wobei die pro-britische Seite leicht vorne liegt. Die SNP und die Grünen sind optimistisch genug, ihre Kampagne wieder mit voller Kraft voranzutreiben, und werden nun versuchen, mehr Unterstützung für ihre Sache zu erhalten. Die Kampagne wird sich nun verstärkt an Menschen wenden, die sich gegen den Brexit ausgesprochen, zuvor aber die Unabhängigkeit abgelehnt haben und sich von triftigen Argumenten und einer soliden Perspektive womöglich überzeugen lassen. Vor allem an diese Bevölkerungsgruppe richten sich die New-Scotland-Berichte.

Auch die Parteimitglieder und die Unabhängigkeitsbewegung insgesamt setzen die SNP-Führung unablässig unter Druck, in Sachen Souveränität greifbare Fortschritte zu liefern. Wenn die SNP, die seit Jahren ein neues Referendum fordert, nun verspricht, das Volk bis Ende nächsten Jahres zu befragen, muss sie dieses Versprechen unbedingt halten. Sollte die Partei im Mai 2026 zu den nächsten Parlamentswahlen in Schottland antreten, ohne dass ein Referendum stattgefunden hätte, könnte sie von ihrer traditionellen Anhängerschaft abgestraft werden. Von der neuen Unabhängigkeitsstrategie der Regierung hängt somit auch das Überleben der Partei und ihrer Führung ab.

Die SNP hat jetzt ihre Unabhängigkeitskampagne offiziell eingeläutet. Konkret wird sie darauf abzielen, die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Veröffentlichung der New-Scotland-Berichte und die widerstreitenden Argumente rund um die Kernthemen der Debatte zu lenken. Dennoch kann die Partei nicht leugnen, dass sie verfahrenstechnisch im Dialog mit der britischen Regierung in einer Sackgasse steckt. Die schottische Regierung kann ihre Argumente für die Unabhängigkeit unabhängig davon präsentieren – und vieles spricht für diese Vorgehensweise. Um ein Referendum und einen gangbaren Weg in die Souveränität zustande zu bringen, muss sie sich jedoch so oder so mit der britischen Regierung einigen. Diese Tatsache lässt sich nicht wegargumentieren.

Aus dem Englischen von Anne Emmert

Anthony Salamone ist Geschäftsführer von European Merchants, einer schottischen politischen Analysefirma in Edinburgh. Er ist Politikwissenschaftler und Mitglied des Edinburgh Europa Institute sowie der Royal Society of Arts.

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