Von Wolfgang Bergsdorf

Wolfgang Bergsdorf

Kennen Sie Sergei Alessandrowitsch Karaganow? Sie sollten sich diesen Namen merken, denn das ist ein interessanter Mann im Umfeld des Diktators Wladimir Putin, der es als einziger Russe 2005 auf die „Liste der globalen Intellektuellen“ geschafft hat. Aber nicht deshalb ist er im Kontext des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine interessant, sondern weil er das Geschehen jenseits propagandistischer Verbrämung erläutern kann. Karaganow ist Politikwissenschaftler und Politiker, der den „Rat für Außen- und Verteidigungspolitik“ in Moskau leitet. Für ihn, Jahrgang 1952, hat Putin immer ein offenes Ohr.

Von Karaganow stammt der Begriff „Souveränität“ als Letztbegründung des russischen Handelns. Die Formel von der „souveränen Demokratie“ tritt die Nachfolge an für den kommunistischen Sprachgebrauch von der „Volksdemokratie“ und meint dasselbe. Mit der parlamentarischen Demokratie, basierend auf Rechtsstaatlichkeit und periodischen Wahlen, mit deren Hilfe die Bürger ihre Regierung bestimmen, hat die „souveräne Demokratie“ nichts zu tun. Der Begriff rückt vielmehr den Staat ins Zentrum der Betrachtung und damit dessen Stärke einschließlich seines militärischen Gewaltpotenzials. Dementsprechend bedeutet „souveränes Internet“ ein staatszentriertes System, in dem alle „staatsfeindlichen Inhalte“ von der Zensur ausgemerzt werden. Ausgangspunkt aller Betrachtungen ist auch hier der Staat, nicht die Freiheit des Einzelnen.

Von Karaganow stammt – wie schon der Name sagt – die Grundidee der Karaganow-Doktrin, die Moskau verpflichten will, die „Menschenrechte der Russen“ zu verteidigen, die im nahen Ausland leben, um so Einfluss auf die Politik dieser Regionen nehmen zu können. Der Politikwissenschaftler beklagt, dass Russland seinen Nachbarn keine politischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder ideologischen Anreize bieten könne zur Kooperation und sie (die Nachbarn) stattdessen den Westen als Garanten für attraktivere wirtschaftliche und politischem Modelle halten. Russland bleibe deshalb keine andere Wahl als ihre Gefolgschaft und Unterwerfung mit Gewalt zu erzwingen (Originalton Karaganow vom 26. Februar 2022, also zwei Tage nach dem Überfall). Die Ukraine müsse unterworfen werden, um eine weitere Expansion der NATO zu verhindern.

Als Rechtfertigung für diese – nicht provozierte – Invasion in die Ukraine nannte Karaganow die Überzeugung, dass sie ohnehin kein lebensfähiger Staat sei und „höchstwahrscheinlich langsam zerfallen“ oder alternativ in kleinere Teile zersplittert werde, und „etwas an Russland, etwas an Ungarn, etwas an Polen gehen und etwas kann formell unabhängig bleiben“ werde (22. April 2022). Besonders interessant in diesem Zusammenhang ist seine Antwort auf die Frage, ob er den ukrainischen Präsidenten Selenskyi für einen Nazi halte? „Natürlich nicht. Es geht in diesem Konflikt schlicht um russische Interessen“, also um seine Souveränität. Russland besteht auf seinem ius ad bellum, also auf seinem Recht auf Krieg als Ausweis seiner Souveränität und territorialen Hegemonien.

Das erinnert stark an den deutschen, Staatsrechtslehrer Carl Schmitt, der sich den Beinamen „Hitlers Kronjurist“ verdient hat, als er beim so genannten Röhm-Putsch 1934 den Willen des Führers zum Maßstab des Rechts machte. Seitdem wird Schmitt immer wieder als Quelle für die Rechtfertigung von Diktatoren und Großraumdenkern benutzt. Er teilte die Welt in Einflusssphären auf und wollte die aggressive Expansion von Hitler-Deutschland theoretisch unterfüttern. Dazu erfand Schmidt die Denkfigur des „Interventionsverbotes für raumfremde Mächte“.

Die Entscheidung Putins zum Angriffskrieg gegen die Ukraine markiert eine historische Zäsur, deren Ausmaße und Fernwirkungen möglicherweise noch viele Generationen beschäftigen werden. Nichts wird mehr so sein wie es einmal war. Die Rückkehr der Gewalt in die internationale Politik hat nicht nur Europäer und Nordamerikaner aus ihrer jahrzehntelangen Naivität herausgerissen, indem das regelbasierte Miteinander des internationalen Systems abrupt außer Kraft gesetzt wurde. Der aktuelle Krieg hat die militärische Option als Fortsetzung der Politik enttabuisiert. Die internationale Gemeinschaft war auf den Schock eines mit militärischen Machtmitteln agierenden, neoimperialistischen Russland nicht vorbereitet.

Man bemüht sich nun unter großen Schwierigkeiten um eine angemessene Reaktion, ohne schon jetzt erkennen zu können, welcher Ordnung die Staatengemeinschaft in Zukunft folgen wird. Die überwältigende Kritik an dem russischen Angriffskrieg in der Vollversammlung der Vereinten Nationen lässt die Hoffnung aufscheinen, dass eine qualifizierte Mehrheit der Staaten an einer regelbasierten, vom Völkerrecht getragenen internationalen Ordnung festhalten will, obgleich Großmächte wie Russland oder auch China diese als Hindernisse für die eigenen Großmachtambitionen betrachten.

Es ist deshalb nicht überraschend, dass auch Karaganow für eine engere Zusammenarbeit zwischen Russland und China in wirtschaftlicher und strategischer Hinsicht plädiert, weil so die westlichen Demokratien in die Zange genommen werden könnten. Es gibt aber auch in Moskau warnende Stimmen, die Russlands Souveränität durch eine verstärkte Zusammenarbeit mit China gefährdet sehen. Denn das wirtschaftliche Potenzial Chinas übertreffe das russische bei weitem. Und jegliche Abhängigkeit Moskaus von Peking verzwerge das Gewicht Russlands in der Welt.

Aber auch die Europäische Union muss, durch den Realitätsschock des Ukraine-Krieges geweckt, ihre wirtschaftliche Abhängigkeit von China sukzessive dort zu verringern versuchen, wo sie als Erpressungspotenzial genutzt werden kann. Denn die Globalisierung der wirtschaftlichen Beziehungen und ihre gegenseitigen Abhängigkeiten haben – auch das ist aus dem Ukraine-Krieg zu lernen – nicht in jedem Falle eine friedenssichernde Wirkung. Diese Erkenntnis verdanken wir den internationalen Regelverletzungen, die China seit vielen Jahren auf sich nimmt, um im südchinesischen Meer zu expandieren und im Inneren die Repression gegen Minderheiten zu vergrößern.

Immer erkennbarer wird das langfristige Ziel Chinas, die liberale Ordnung des Westens zu mindestens in Teilen der Welt zu ersetzen durch ein System, in dem Peking dominiert und selber die Regeln im Rahmen asymmetrischer Machtbeziehungen setzt. Chinas regelmäßige Drohkulisse gegenüber Taiwan hat alle Staaten in Ostasien erschreckt. Nun wird auch das weit von der Ukraine entfernte Japan seine militärischen Potenziale völlig neu konzipieren und künftig bis zu 2 Prozent seines Bruttosozialproduktes in die Verteidigung investieren.

Die beiden Großmächte China und Russland haben in den vergangenen Jahren massiv aufgerüstet und ihre Außenpolitik immer aggressiver gestaltet. Gleichzeitig wurden sie im Inneren wachsend repressiver mit zahllosen Bürger- und Menschenrechtsverletzungen. Auch der Westen müsse sich der Tatsache stellen, dass Russland und China heute die Hauptakteure „einer Entzivilisierung und eines Rückfalls in die Barbarei sind, im Innern wie in den internationalen Beziehungen“, schreibt der Trierer Politikwissenschaftler Joachim Schild in einem lesenswerten Aufsatz über das „Ende der europäischen Naivität“ (FAZ vom 27. Juni. 2022).

Der G-7-Gipfel in Elmau und der NATO-Gipfel in Madrid sollten Putin, aber auch dem Präsidenten der Volksrepublik China nachdrücklich verdeutlichen, dass die Demokratien des Westens und mit ihnen auch die überwiegende Zahl der anderen Nationen das Zerbomben der regelbasierten internationalen Ordnung durch den russischen Angriff auf die Ukraine nicht reaktionslos hinnehmen wollen. Anders als nach der russischen Annexion der Krim 2014, gibt es nun eine beispiellose Verschärfung des Sanktionsregimes gegen Russland, eine umfangreiche militärische Hilfe für die Ukraine und eine großzügige finanzielle Unterstützung für das vom Krieg zerstörte Land. Die NATO unternimmt neue militärische Anstrengungen an der Ostgrenze des Bündnisses.

Besonders verwerflich sind die russischen Angriffe auf die Getreidesilos und andere landwirtschaftlichen Einrichtungen der Ukraine. Zusammen mit Russland ist die Ukraine der größte Getreidelieferant in der Welt. Der Ausfall des ukrainischen Getreides durch Zerstörung oder durch die Blockade der ukrainischen Häfen wird vor allem in Afrika Hunger auslösen. Russland weiß, dass die Sanktionen nicht Getreide betreffen und behauptet gleichwohl, dass der Westen die Exporte behindere. Eine von Moskaus Spitzen-TV-Moderatorinnen spricht deshalb in einem Interview mit Präsident Putin vom „Hunger als unsere Hoffnung“.

Auch hierüber musste der G-7-Gipfel in Elmau beraten und hat für den Kampf gegen den Hunger in der Welt über die bisherigen Zusagen hinaus weitere 4,5 Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt. Er tat dies in der Gewissheit, dass Russland nichts unversucht lassen wird, um diese Kosten für die europäischen und nordamerikanischen Steuerzahler weiter in die Höhe zu treiben. Die russische Propaganda macht indessen klar, warum wir keine Alternative haben, diese hohen finanziellen Belastungen zu schultern. Nach der Unterwerfung der Ukraine werden im russischen Fernsehen schon weitere Ziele des russischen Neoimperialismus ins Visier genommen: Usbekistan und Kasachstan, aber auch die baltischen Staaten. Ganz offen! Sage darum niemand später, davon nichts gewusst zu haben.

 

Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jahrgang 1941) ist nicht nur Politologe, sondern war, unter anderem als Mitglied von Helmut Kohls so genanntem „Küchenkabinett“, jahrelang selbst aktiv am politischen Geschehen beteiligt .  Zudem war Bergsdorf in der Regierungszeit Kohls Leiter der Inlandsabteilung des Bundespresseamtes und anschließend Chef der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums. 1987 war er zum außerplanmäßigen Professor für Politische Wissenschaften an der Bonner Universität ernannt worden. Von 2000 bis 2007 amtierte er als Präsident der Universität Erfurt.

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