Politik: Das erschöpfte Land

In Israel wächst der Widerstand gegen den Krieg – quer durch alle politischen Lager. Wie lange kann Netanjahu den Unmut noch ignorieren?

In weiten Teilen der Bevölkerung gibt es eine starke Unzufriedenheit mit dem Krieg in Gaza.

Ich habe gerade eine Woche in Israel verbracht. Auch wenn es auf den ersten Blick so wirkt, als hätte sich seit dem 7. Oktober 2023 wenig verändert – der zähe Krieg im Gazastreifen zieht sich unvermindert hin –, so war diesmal doch etwas anders. Zum ersten Mal seit Kriegsbeginn spürte ich dort eine neue Stimmung. Noch ist es zu früh, um von einer breit angelegten Anti-Kriegs-Bewegung zu sprechen – eine solche wird wohl erst entstehen, wenn alle israelischen Geiseln zurückgekehrt sind. Aber es gibt deutliche Signale: Immer mehr Israelis, von links über die politische Mitte bis hin zu Teilen der Rechten, kommen zu dem Schluss, dass dieser Krieg für Israel ein moralisches, diplomatisches und strategisches Desaster ist.

Der ehemalige Premierminister Ehud Olmert schrieb: „Die israelische Regierung führt derzeit einen Krieg ohne Ziel, ohne Planung und ohne Aussicht auf Erfolg.“

Aus der politischen Mitte meldete sich der ehemalige Premierminister Ehud Olmert mit einem Essay in der Zeitung Haaretz zu Wort. Darin rechnet er mit Premierminister Benjamin Netanjahu und dessen Koalition ab: „Die israelische Regierung führt derzeit einen Krieg ohne Ziel, ohne Planung und ohne Aussicht auf Erfolg“, so Olmert. „Was wir in Gaza tun, ist ein Vernichtungskrieg: wahllos, grenzenlos, grausam und kriminell gegenüber der Zivilbevölkerung.“ Seine Schlussfolgerung: „Ja, Israel begeht Kriegsverbrechen.“

Auch innerhalb der rechten Likud-Partei regt sich Kritik: Amit Halevi, ein erklärter Kriegsbefürworter und Mitglied von Netanjahus Partei, wurde nach seiner Gegenstimme zur Verlängerung der Notfall-Einberufung von Reservisten aus dem Verteidigungs- und Außenausschuss der Knesset ausgeschlossen. In einem Interview mit Yediot Ahronot sprach Halevi Klartext: „Dieser Krieg ist ein Betrug. Man hat uns über seine Erfolge belogen.“ Seit 20 Monaten führe Israel einen Krieg mit gescheiterten Plänen – und die Hamas sei nach wie vor nicht besiegt.

Auf der linken Seite sprach Yair Golan, Vorsitzender der liberalen Allianz „Demokraten“, im israelischen Rundfunk von einer drohenden internationalen Isolation: „Israel droht ein Paria-Staat zu werden, wie es einst Südafrika war, wenn wir nicht wieder anfangen, uns wie ein normales Land zu verhalten. Ein normales Land kämpft nicht gegen Zivilisten, tötet keine Babys als Hobby und setzt sich nicht das Ziel, Bevölkerungen zu vertreiben.“ Auf Kritik wegen seiner Wortwahl reagierte Golan mit einer Klarstellung: Er richte sich nicht gegen das Militär, sondern gegen die Politiker, die den Krieg aus Gründen fortsetzen, die nichts mehr mit Israels Sicherheitsinteressen zu tun hätten.

Golan hat wohl ein unglückliches Wort gewählt, aber seine Warnung ist berechtigt. Solange keine unabhängigen ausländischen Journalisten aus Gaza berichten dürfen, bleibt das volle Ausmaß der Zerstörung verborgen. Doch wenn der Krieg endet und Reporter frei berichten können, wird der Schock über das menschliche Leid groß sein – für Israel und für Jüdinnen und Juden weltweit. Golan fordert daher: einen sofortigen Waffenstillstand, die Rückführung der Geiseln, internationale – auch arabische – Truppen nach Gaza, die Reste der Hamas später bekämpfen. Wer in einem Loch steckt, sollte aufhören zu graben. Netanjahu aber gräbt weiter – aus der Überzeugung, die Hamas durch Bomben zur Herausgabe der Geiseln zwingen zu können, und weil ihm seine religiös-nationalistische Koalition signalisiert hat: Stoppt der Krieg, ist seine Regierung am Ende.

Der Preis dafür: täglich neue zivile Opfer in Gaza. Der Haaretz-Militärexperte Amos Harel erklärt den Hintergrund vieler Angriffe: „Viele Bombeneinsätze sind in Wirklichkeit Attentatsversuche auf Hamas-Führer – oft während sie mit ihren Familien zusammen sind. Diese Funktionäre leben nicht mehr in Privathäusern oder Wohngebäuden – sie befinden sich in der Regel in überfüllten Zeltlagern mit Tausenden von Zivilisten. Selbst wenn das Militär mehrere Vorsichtsmaßnahmen ergreift, führen diese Angriffe zu massenhaften Tötungen.“ Doch es ist nicht allein die Zahl der toten Zivilistinnen und Zivilisten, die die Stimmung in Israel kippen lässt. Es ist die Erschöpfung der Gesellschaft insgesamt. Harel nennt Selbstmorde (die vom Militär nicht gemeldet werden), zerbrechende Familien, ruinierte Existenzen. Die Regierung verspricht derweil weiterhin den „Sieg“.

Der Krieg dringt bis in die Kinderzimmer vor. Die Nachrichtensprecherin Lucy Aharish, die erste israelische Muslimin im hebräischsprachigen Hauptprogramm, erzählte mir eine Geschichte über ihren vierjährigen Sohn Adam. Während einer Gedenkminute für gefallene Soldatinnen und Soldaten ertönte das charakteristische Sirenensignal. Adam, auf dem Boden spielend, reagierte panisch und begann, seine Spielsachen einzusammeln – bereit für den Schutzraum. Aharish erklärte ihm: „Diese Sirene ist anders. Dafür stehen wir still – zum Gedenken an Helden, die uns beschützt haben.“ Wenn Kinder zwischen Sirenentönen unterscheiden lernen müssen – jenen, bei denen man stehen bleibt, und jenen, bei denen man sich in Sicherheit bringen muss –, dann dauert ein Krieg schon viel zu lange.

Auch in Gaza regt sich leiser Protest, trotz der Lebensgefahr durch die Hamas.

Auch in Gaza regt sich leiser Protest, trotz der Lebensgefahr durch die Hamas. Laut einer Umfrage des unabhängigen palästinensischen Meinungsforschungsinstituts PSR in Ramallah unterstützen 48 Prozent der Befragten die jüngsten Anti-Hamas-Proteste. Die Hamas wird sich am Ende ebenso verantworten müssen. Sie griff am 7. Oktober 2023 israelische Grenzgemeinden an, provozierte damit die absehbare israelische Reaktion – und opferte die eigene Zivilbevölkerung, um internationale Sympathie zu gewinnen. Ihre Führer versteckten sich in Tunneln oder im Ausland. Gaza ist heute unbewohnbar, doch die Hamas verlangt weiter einen vollständigen israelischen Rückzug und einen unbefristeten Waffenstillstand als Preis für die Freilassung der Geiseln. Ein Pyrrhussieg – wäre die Hamas erfolgreich, hätte sie alles zerstört, um den Status quo vom 6. Oktober 2023 wiederherzustellen.

Paradoxerweise hat Netanjahu mit seinem brutalen Vorgehen das „Widerstandsnetzwerk“ des Iran geschwächt. Libanon, Syrien, der Irak, die Palästinensische Autonomiebehörde – sie alle wären heute offener für eine Annäherung an Israel und die Abraham-Abkommen. Doch Netanjahu nutzt diese historische Chance nicht. Er verweigert jegliche Initiative in Richtung einer Zwei-Staaten-Lösung mit einer reformierten Autonomiebehörde. Stattdessen hält er an einer Koalition mit rechtsextremen Siedlern und Ultraorthodoxen fest, die ihn nur stützen, solange ihre Interessen gewahrt bleiben. Die Fragen, die mir Israelis stellten, wenn ich Kritik an Netanjahu äußerte, waren bezeichnend: „Glaubst du, Trump kann uns retten?“ – das wohl deutlichste Indiz für den Zustand einer angeschlagenen Demokratie.

Nach meiner Rückkehr aus Israel hatte ich das Gefühl, dieselbe politische Tragödie wie dort nun auf der „Hauptbühne“ zu sehen – in den USA. Trump und Netanjahu bedienen sich derselben Methoden zur Aushöhlung demokratischer Institutionen: Angriffe auf Justiz und Deep State, Machtsicherung durch Polarisierung. Trump, um sich zu bereichern und Eliten zu stärken. Netanjahu, um Korruptionsprozesse zu entgehen und Macht an Siedler und Ultraorthodoxe zu übertragen.

Schon am Tag nach Netanjahus Wahlsieg 2022 schrieb ich: „Das Israel, das wir kannten, ist verschwunden.“ Ich hoffe, ich lag falsch. Und ich hoffe noch mehr, dass ich nicht bald dasselbe über Amerika schreiben muss. Das Jahr 2026 wird entscheidend sein: Dann stehen in Israel Wahlen an, und in den USA Zwischenwahlen. Alle, denen an Demokratie und Anstand gelegen ist, haben bis dahin eine Aufgabe: Organisieren, organisieren, organisieren – um die Macht zu gewinnen.

Denn nichts anderes zählt. Und alles steht auf dem Spiel.

Thomas L. Friedman ist Kommentator bei der New York Times mit Schwerpunkt Außenpolitik. Er arbeitet seit 1981 für die Zeitung und hat dreimal den Pulitzer-Preis erhalten. Er hat sieben Bücher verfasst, unter anderem „Von Beirut nach Jerusalem“, für das er mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde.                                           

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