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Autor Gisbert Kuhn

Lassen wir zunächst einen anderen zu Wort kommen – einen Ausländer, einen Schweizer Freund, der mit seiner Familie lange in Deutschland gelebt und gearbeitet hat. Er schrieb in einem Brief zu Weihnachten zu den aktuellen Geschehnissen bei uns und darüber hinaus: „Ja, die Zeiten sind duster, aber nicht dusterer, bei weitem nicht, als sie auch schon waren! Wir sind als Generation vielleicht auch nur etwas verwöhnt worden von der Geschichte. Gut möglich, dass wir nun als schon Ältere doch noch den Beigeschmack von Zeiten zu kosten bekommen, die bitterer sind. Das heißt, was für unsere Eltern sozusagen selbstverständlich war (vom Krieg reden wir nicht) und leider auch für unsere Kinder und Enkel normal geworden zu sein scheint – nämlich, dass der Kuchen dünn geworden ist und man zusehen muss, wie man ein genügend großes Stück davon abschneiden kann -, wird nun möglicherweise auch für uns zur Herausforderung“.

Wie halten wir es mit unseren Werten?

Weiter in dem nachdenklichen Text: „Und dazu alles, was außerhalb der von uns direkt beeinflussbaren Sphäre geschieht. Es stellt unserer Generation ganz neue Fragen: Wie ernst ist es uns mit der Mitmenschlichkeit? Wie halten wir es mit der Liberalität unserer Gesellschaft, wenn sie unter Druck gerät? Was sagen wir zu – in jedem Sinne – Fremden? Wir stehen auf dem Prüfstand unserer eigenen Werte. Ich bin zuversichtlich, dass wir am Schluss den Test bestehen werden – weiß aber, dass das mit vielen, teils grässlichen und hässlichen Gegenaktionen bezahlt wird. Gerade deswegen ist es so fundamental, dass wir den grundsätzlichen Optimismus nicht verlieren oder aufgeben, der unsere „glückliche Generation“ auszeichnet!“
Gibt es eine bessere Gegenwarts-Beschreibung? Ja, wir haben uns – ganz sicher mit Fleiß, Können und wirtschaftlichem Geschick, aber auch politischem Glück – einen Staat mit einer demokratischen und liberalen Gesellschaft aufgebaut, der fraglos zu Stolz und Selbstbewusstsein berechtigt. Wir haben uns (wenigstens im Prinzip) darin gut eingelebt und dieses Leben als „Normalität“ angesehen. Bis vor kurzem. Genauer: Bis zum Sommer vorigen Jahres. Noch genauer: Bis uns die Millionenschar von Menschen aus den nahöstlichen Kriegsgebieten, den zusammengebrochenen Staaten Nordafrikas sowie den von Hunger und Seuchen geplagten Ländern im Zentrum des Schwarzen Kontinents und sogar den Notstandsregionen in Südosteuropa brutal aus diesem Traum aufweckten. Wir merkten plötzlich, dass wir die ganzen Jahre über die Augen weitgehend verschlossen hatten vor den Realitäten um uns herum. Anders gesagt, dass unsere „Normalität“ keineswegs „normal“ auf dem Erdkreis war und ist – nicht einmal direkt vor unserer Haustür.

Schaffen wir das wirklich?

Mit dem trotzigen Satz „Wir schaffen das“ hat die Bundeskanzlerin wirklich nicht die menschliche Lawine ausgelöst, die sich seit August vorigen Jahres über Mitteleuropa (und dabei vorrangig über Deutschland) ergießt. Denn damals standen bereits viele Zehntausende an den Grenzen Serbiens und Ungarns. Ebenso unbestreitbar, freilich, ist, dass Angela Merkel damit eine Dynamik auslöste, deren Wucht die Politik, die darauf nicht vorbereiteten staatlichen Organe und auch die bürgerliche Gesellschaft einfach überrollte. Die bange Frage ist daher keineswegs unberechtigt, ob „wir“ das „wirklich schaffen“? Denn die Vorhersage des eidgenössischen Freundes ist ja längst Realität geworden – dass nämlich die Bewältigung der anstehenden Herausforderungen „mit vielen, teils grässlichen und hässlichen Gegenaktionen bezahlt wird“.
Es ist ja beliebt, weil leicht und billig, alle Sorgen, Ängste, Kritiken und Anwürfe bei „der“ Politik abzuladen. Facebook und die anderen (un)sozialen Netzwerke quellen schier über von Schimpfkanonaden bis hin zu Gewaltandrohungen, die einer zivilisierten Gesellschaft Hohn spotten. Dazu mehr als 600 Brandattacken auf Notunterkünfte (was den Tod von Menschen ja von vornherein mit einkalkuliert!) und ungezählte tätliche Angriffe auf „die Anderen“. Dies als Schande zu empfinden, ist mithin das Mindeste. Wobei allerdings nie das großartige Engagement der vielen, freiwilligen Helfer unerwähnt bleiben darf, die sich nicht damit begnügt haben, mit einem „Willkommen“-Pappschild auf Bahnhöfen auf der „richtigen“, der “guten” Seite der Gesellschaft zu stehen.

Unvorbereitet, unsicher und hilflos

Man kann, mit großem Recht, darüber Klage führen, dass Deutschland in der gegenwärtigen Krise von praktisch allen seinen europäischen Partnern im Stich gelassen wird. Man kann (und muss) mit größter Sorge beobachten, wie die eindrucksvollste aller Nachkriegsleistungen – das Werk der Einigung des „alten“ Kontinents – sich nicht nur in der jetzigen Krise unfähig zeigt, sondern darüber hinaus zahlreiche Partner alles tun, um dieses „Europa“ zerrieseln zu lassen. Und große Teile des Publikums begleiten das – grenzübergreifend – sogar auch noch mit Applaus!
Aber das ändert doch nichts daran, dass wir die Sache hier in den Griff bekommen müssen. Und dabei auch die eingangs gestellten Fragen beantworten müssen – die nach der Ernsthaftigkeit unserer (vorgeblichen?) Liberalität, nach unserer Menschlichkeit, nach unserem Umgang mit „den Fremden“. Selbstverständlich können nicht wir – kann nicht Deutschland – das Elend der ganzen Welt schultern. Aber es ist höchste Zeit, dass der augenblickliche Zustand im Lande überwunden wird, der geprägt ist von einer weitgehenden politischen Hilflosigkeit mit den Ursachen Überraschtsein und Unsicherheit. Denn das schlägt auf die Bürger durch! Immer mehr Menschen beschleicht das Gefühl, hier werde nicht geführt, sondern weitgehend planlos taktiert.

Sinnloser Streit um Begriffe

Schlagendstes Beispiel dafür ist der ebenso sinn- wie nutzlose politische Streit um bestimmte Begriffe. Ob nun „Begrenzung“ des Zuzugs von Flüchtlingen und Asylsuchenden (Merkel, SPD, Teile der Opposition, der Kirchen und anderer Organisationen) oder „Obergrenze“ (CSU mit Bayerns Ministerpräsidenten Seehofer an der Spitze) – es ist ein unwürdiger Zank um des Kaisers Bart. In Wirklichkeit wird Handeln jetzt verlangt, damit es später nicht noch schwieriger (ja, vielleicht sogar unmöglich) wird. So ist es schon lange überfällig, die Kontrolle über die Ankömmlinge zu bekommen. Ein Staat, der seine Grenzen nicht sichern kann und keinen Überblick über „Einreisende“ hat, wird seinen Bürgern nicht das Gefühl geben, sie im Zweifel auch schützen zu können. Ein solcher Staat gäbe sich selbst auf.
Wie steht es – weiter – um unsere viel beschworenen „Werte“? Wie hoch halten wir wirklich die sowohl aus dem Christentum als auch der Aufklärung, der französischen Revolution und den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen stammenden (nicht selten auch bitter erkämpften) Errungenschaften wie Freiheit, wie Gleichheit aller Menschen (also auch Gleichberechtigung von Mann und Frau), wie Religionsfreiheit, wie absoluter Vorrang von Verfassung und Gesetzen, wie Gewaltmonopol des Staates, wie Freiheit von Presse und Kunst usw.? Wie konsequent gehen Ordnungsmacht und Justiz gegen Verstöße dagegen vor? Oder muss die Frage lauten: Wie konsequent dürfen sie dagegen vorgehen? In den Gründungsjahren der Bundesrepublik war die Losung unumstritten, dass nur ein starker Staat wirklich auch ein liberaler Staat sein könne und es keine Freiheit für die Feinde der Freiheit geben dürfe.

Das geht uns alle an

Sicher, das scheinen zunächst Forderungen an die Politik, den Staat und seine Instanzen zu sein. In Wirklichkeit jedoch gehen diese Fragen jeden Bürger an – uns alle. Denn der nicht selten erkennbare Umschwung von Liberalität (also ein möglichst hohes Maß an Toleranz) in Libertinage (also weitgehende Schrankenlosigkeit) kommt ja nicht „von oben“, sondern aus unserer aller Mitte. Wenn vor drei Jahren eine dümmliche Bemerkung eines beschwipsten Politikers in einer Hotelbar (und auch erst Monate später von einer Illustrierten-Redakteurin veröffentlicht) eine geradezu unfassbare, feministische Empörungswelle auslöste, jetzt jedoch sexuelle Übergriffe, Diebstähle und Beleidigungen durch eine Masse unbestreitbar ausländischer Täter in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof erst allmählich Eingang in die überregionalen Medien findet – wenn selbst eine derart ängstlich-zurückhaltende Publizierung im „Netz“ dann nicht selten auch noch als „Hetze“ bezeichnet wird, dann ist etwas faul bei uns; nicht im Staate Dänemark.
Wir stehen, wie gesagt, auf dem Prüfstand. Alle. Im jetzt begonnenen Jahr 2016. Werden wir lernen, dass unsere lieb gewonnene „Normalität“ so nicht weiter Bestand haben wird?
Gisbert Kuhn

Der Autor ist direkt zu erreichen unter gisbert.kuhn@rantlos.de

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