“Wenn Frankreich leidet…”
Von Günter Müchler
Brennende Busse, Plünderungen, Mordanschläge: Nach nächtelangen Gewaltexzessen erwacht Frankreich wie aus einem Alptraum. Der Aufstand der „Banlieue“ – der „Vorstädte“, also – hat die staatliche Autorität angeschlagen und eine große Ratlosigkeit offenbart. Es waren junge Franzosen, die den Schrecken in die Straßen trugen. Angehörige der Generation, auf der die Zukunftshoffnungen des Landes ruhen. Wie erreicht man Menschen, die nur noch dem Pulsschlag von Wut und Hass folgen?
Mit banger Erwartung blicken die Verantwortlichen auf den bevorstehenden 14. Juli. Wird der Nationalfeiertag durch neue Krawalle entweiht? Und dann die im nächsten Sommer anstehenden Olympischen Spiele: Sollen Wasserwerfer und Tränengasgranaten das Bild Frankreichs in der Welt prägen? Den Unruhen zum Opfer fiel, fast unbemerkt, der Staatsbesuch von Präsident Emmanuel Macron in Deutschland. Die Absage bedeutet mehr als einen Kollateralschaden. Mit der Visite hatte Macron eigentlich in weltpolitisch kriselnder Zeit die dahindümpelnden deutsch-französischen Beziehungen beleben wollen.
Wehmütig denken die Franzosen an das glorreiche Jahr 1998 zurück. Frankreich richtete damals die Fußball-WM aus. In den Reihen der eigenen Mannschaft fanden sich etliche Spieler mit einer Hautfarbe, welche die nordafrikanische Herkunft verriet. Eine Schande, diese Ausländer, empörte sich seinerzeit Jean-Marie Le Pen, der Chef des rechtsradikalen Front National. Seine rassistische Rechnung ging nicht auf. Die französische Elf triumphierte. Angeführt von Zinédine Zidane, Youri Djorkaeff, Christian Karembeu und Bernard Lama, allesamt Ballkünstler mit Migrationshintergrund, besiegte sie Brasilien im Endspiel mit 3:0-Toren. Frankreich lag sich in den Armen und feierte den Erfolg von „black-blanc-beur“ (beur für nordafrikanisch), wie man die siegreiche Equipe in Anspielung auf die Nationalfarben „bleu-blanc-rouge“ titulierte. Von der Woge patriotischer Harmonie überwältigt, sprach der Schriftsteller Jean d’Ormesson von einem neuen Gesellschaftsvertrag.
Die Euphorie hielt nicht lange an. Schon sieben Jahre später, 2005, brannten die Vorstädte. Drei Wochen lang zogen Jugendliche, viele davon halbe Kinder, vandalisierend durch die vom sozialistischen Wohnungsbau geprägte Banlieue und entzauberten das Bild der in Brüderlichkeit geeinten Nation. Der Schock saß tief. Allzu lange hatte man geglaubt, die „civilisation francaise“ und daran gekoppelt das aus dem Jahr 1889 stammende Staatsbürgerschaftsrecht (ius soli), demzufolge Franzose ist, wer in Frankreich zur Welt kommt, werde alle denkbaren Hürden der Integration aus dem Weg räumen. Warum soll sich benachteiligt fühlen, wer Franzose ist?
Der Knall des unerwarteten Vulkanausbruchs löste eine Kaskade gutgemeinter Gegenmaßnahmen aus. Schulen in prekären Vierteln wurden mit zusätzlichen Lehrern ausgestattet, Kulturzentren eröffnet und so weiter. An der Tatsache, dass in den Vorstädten eine Parallelgesellschaft wucherte, änderte das nichts. Im Gegenteil: Die neuen Medien leisteten der Entfremdung Vorschub, die sich mehr und mehr von der Ausgrenzung in gewollte Abschottung verwandelte. Wer in seiner „Blase“ Genüge findet, ist für die öffentliche Information und nicht mehr erreichbar. Umso besser funktioniert die Abstimmung unter Gleichgesinnten. Bei den jüngsten Krawallen war die taktische Mobilität der Krawallmacher auffällig.
Nichtfranzosen sind immer wieder erstaunt, wie gewalttätig soziale Konflikte in Frankreich ausgetragen werden. Es ist nicht verkehrt, eine der Ursache im „Mythos Revolution“ zu suchen. In der Rangliste nationaler Erinnerungspunkte steht die Revolution von 1789 ganz oben. Der Fortschritt, den sie markierte (Erklärung der Menschenrechte, Abschaffung der Adelsvorrechte, Durchsetzung der Volkssouveränität), war ohne Zweifel bahnbrechend. Wahr ist aber auch, dass Hinrichtungskarren und Guillotine ebenfalls zu den wichtigsten Accessoires der Revolution gehörten. Nicht nur in Paris und den großen Städten: Der parallel geführte Krieg der „Blauen“ gegen die „Weißen“ in der Vendée, den erst Napoleon beendete, der von einigen Historikern als Völkermord angesehen wird, kostete eine Viertelmillion Opfer, darunter Frauen, Greise und Kinder. Der Dichter Victor Hugo hat den die Brutalität des Bruderkriegs in „1793“ beschrieben.
Friedlicher, wenn auch keinesfalls unblutig, lief die Revolution von 1830 ab. Eugène Delacroix‘ berühmter Leinwandschinken „Die Freiheit führt das Volk“ zeigt eine barbusige Marianne, der man nicht im Dunkeln begegnen möchte. Noch ungeeigneter als Gute-Nach-Geschichte war auch der Bürgerkrieg von 1871. Die „Commune“, die revolutionäre Pariser Stadtverwaltung, ließ einen Bischof und zwei Generäle metzeln; dutzende von Geiseln fanden in ihrer zehnwöchigen Herrschaftsperiode den Tod. Aber das war nichts verglichen mit der Gnadenlosigkeit, mit der die republikanische Regierung die widerständige Hauptstadt zurückerobern ließ. In der „Blutwoche“ des Mai 1871 wurden an die 20 000 Pariser ohne Prozess hingerichtet, 4000 landeten in neukaledonischen Straflagern.
Die Spur gewaltsamer Interessendurchsetzung findet sich auch im zeitlichen Nahbereich. Bilder der „Gelbwestenproteste“ und der von Krawallen ummantelten Massenaufläufe gegen die Rentenreform sind uns noch gegenwärtig. Selbst normale Streikaktionen laufen in Frankreich oft gewaltsamer ab als anderswo. Vom Terrorismus gar nicht zu sprechen: 2015 überrollte eine Serie islamistischer Anschläge Frankreich; bei den Anschlägen auf die Zeitungsredaktion von „Charlie Hebdo“ und die Konzerthalle „Bataclan“ starben weit über hundert Menschen. 2020 wurde der Lehrer Samuel Paty Opfer einer Tat von beispielloser Grausamkeit. Er wurde auf offener Straße enthauptet.
Die Polizei? Sie steht im Ruf, „muskulöser“ vorzugehen als beispielsweise die Polizei in Deutschland. Jean-Luc Mélenchon, den Häuptling der linkspopulistischen „La France insoumise“, der bei der letzten Präsidentenwahl immerhin gut 20 Prozent einfuhr, verortet die Polizei auf der Täterseite. Das ist absurd, unterstreicht aber, dass der viel beschworene republikanische Konsens eine Chimäre ist. Der politische Kampf wird in Frankreich beinahe ebenso kompromislos geführt wie der Kampf auf der Straße. Macron trat 2017 mit dem Versprechen an, die traditionelle Spaltung Frankreichs in rechts und links zu heilen. Ob die von ihm geschaffene Mittelpartei seine Amtszeit überleben oder ins Archiv wandern wird, ist aus heutiger Sicht eine offene Frage.
Mit der Absage seines Deutschland-Besuchs betonte Macron den Ernst der Lage. In Berlin zeigte man Verständnis, das Bedauern hielt sich in Grenzen. Haushalt, Heizungsgesetz, Kindergrundeinkommen: Die Bundes-Koalition ist mit sich und ihren Abgründen hinreichend beschäftigt. Da regen die Beziehungen zum gallischen Nachbarn weder auf noch an. Sie sind geschäftsmäßig, und solange man das von ihnen sagen kann, ist man in Berlin zufrieden.
Genau hier aber liegt das Problem. Seit Jahren folgt die deutsche Frankreich-Politik unausgesprochen der Devise, dass Halten auch schon ein Erfolg sei. Der letzte Kanzler, dem die Beziehungen zu Frankreich und damit das Thema Europa ein Herzensanliegen war, hieß Helmut Kohl. Gerhard Schröder, der stets gern vorführte, dass auch Sozialdemokraten cool kalkulierende Realpolitiker sein können, war die historisch getränkte Politiksicht Kohls und seiner Vorgänger absolut fremd und jenseits des Verfallsdatums. Angela Merkel besaß weder zu Frankreich noch zur europäischen Idee einen emotionalen Bezug. Ideeller Input wie das das „Schäuble-Lamers-Papier“ (das Mitte der 90-er Jahre zum Nachdenken über Kerneuropa aufrief) oder die europäische „Finalität“ (Joschka Fischer) war unter ihr nicht angesagt. Französische Initiativen wurden in Berlin konsequent ausgesessen. Unter Olaf Scholz hat sich daran wenig geändert.
Macron hatte sich für Deutschland ein symbolträchtiges Programm ausgedacht. Er wollte das Marbacher Literaturarchiv und den dortigen Schiller-Saal besuchen. Friedrich Schiller, Autor des Revolutionsstücks „Die Räuber“, war 1792 von der französischen Nationalversammlung zum „citoyen francais“ ehrenhalber ernannt worden – eine Auszeichnung, die er freilich nach der Hinrichtung Ludwig XVI. desillusioniert zurückgab. Auf Macrons Besuchsliste stand auch das in Ludwigsburg beheimatete Deutsch-Französischen Institut. Dort, in Ludwigsburg, hatte Charles de Gaulle im September 1962 eine Rede an die deutsche Jugend gehalten, deren aufwühlender Kernsatz lautete: „Ich beglückwünsche Sie, junge Deutsche zu sein das heißt Kinder eines großen Volkes“. In (West-)Deutschland, wo nach den Gräueln der Nazizeit das Bedürfnis nach Lossprechung und Anerkennung gerade unter jungen Menschen ausgeprägt war, löste die Rede des Präsidenten und ehemaligen Chefs von „France libre“ große Begeisterung aus. Zu Recht gilt sie als Markstein der französisch-deutschen Aussöhnung, die ein paar Monate später durch den Élysée-Vertrag beglaubigt wurde.
In den 50 Jahren, die seither verflossen sind, ist eine Menge geschehen. Hunderte von Städtepartnerschaften, ein Jugendaustausch, der inzwischen an die zehn Millionen junger Leute zusammengeführt hat, grenzüberschreitende Verwaltungskooperationen und ein enges Geflecht an Konsultationen auf Regierungsebene haben das „couple franco-allemand“ zum weltweiten Vorbild geadelt, wie aus Feinden Freunde werden können. Die deutsch-französische Freundschaft sei mittlerweile so „selbstverständlich wie das Atmen“, formulierte jüngst Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
Die Tücke liegt freilich im Beiwort „selbstverständlich“. Denn Normalität schrumpft Neugier und Wertschätzung. Das lehrt die menschliche Erfahrung. Das deutsch-französische Tandem wirkt heute lahm und ausgeleiert. An hiesigen Schulen wird weniger Französisch gelehrt und gelernt; für Frankreich gilt umgekehrt dasselbe. Abnehmend ist auch das Interesse füreinander, wie eine aktuelle Umfrage des Instituts Allenbach ergab.
Gefragt sind daher dringend Impulse. Das Erlebnis Trump, die Möglichkeit der Wiedergängerei des amerikanischen Egomanen, und vor allem Putin, der den lange für undenkbar gehaltenen Krieg zurück nach Europa gebracht hat, müssten Anlass genug sein, dass Europa – wie es Macron 2017 in seiner bedeutsamen Sorbonne-Rede forderte – sich auf die eigenen Beine stellt. Die europäische Handlungssouveränität zu erreichen, setzt allerdings voraus, dass die deutsch-französischen Beziehungen sich nicht weiter im Verwaltungsmodus leerlaufen. Die Unruhen in Frankreich bedeuten auch in dieser Hinsicht einen Rückschlag. „Wenn Frankreich leidet, blutet uns das Herz“, erklärte dieser Tage der stellvertretende Unionsfraktionsvorsitzende Andreas Jung. Ein schöner Satz, der in aktive Politik übersetzt werden sollte.
Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.