Putins Krieg spaltet orthodoxe Kirche
Von Wolfgang Bergsdorf

Als Wladimir Putin am 24. Februar die Ukraine angriff, um diese „zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren“, drohte das russische Verteidigungsministerium „mit hochpräzisen Waffen“ die militärischen Strukturen der Ukraine außer Gefecht zu setzen. Jedoch würden, zum Schutz der Zivilbevölkerung, „keine Flugzeuge, Raketen oder Artillerie gegen die ukrainischen Städte eingesetzt“. Welch eine Lüge! Eingebrannt in das kollektive Gedächtnis der Fernsehzuschauer haben sich die ikonischen Bilder vom Luftangriff auf das Theater von Mariupol mit dem Ergebnis von mehr als 300 toten Kindern, Frauen und alten Menschen, der Raketenangriff auf den mit Flüchtlingen überfüllten Bahnhof von Kramatorsk und die von russischen Truppen begangenen Massaker an der Zivilbevölkerung in den Kiewer Vororten Butscha und Borodjana. Sie zeigen die unfassbare Brutalität der russischen Kriegsführung. Die gezielte Zerstörung der zivilen Infrastruktur, der Wohnhäuser und Kirchen lässt einen unerklärlichen und unbegreiflichen Vernichtungswillen des Aggressors erkennen. Davor sind bis Ende Mai 7 Millionen Ukrainer ins Ausland geflohen, hinzu kommen noch einmal 7 Millionen Binnenflüchtlinge, die im Westen des Landes Schutz vor den Bombenangriffen suchen. Die Hälfte davon sind Kinder und Jugendliche.
Den Pfad zum Ukraine-Überfall betrat Putin schon sehr früh als Vizebürgermeister von Sankt Petersburg, als er die alte historische Größe Russlands auf einer Tagung in Deutschland beschwor. Nach dem Zerfall der Sowjetunion seien „riesige Territorien an ehemalige Republiken abgegeben worden, darunter auch solche Territorien, die historisch immer zu Russland gehört haben. Ich denke dabei nicht nur an die Krim oder an Nord-Kasachstan, sondern beispielsweise auch an das Kaliningrader Gebiet“ (1994).
Rückblickend muss man sich die Augen reiben, wie konsequent Putin seine Vision von einem neuen Großrussischen Reich konkretisieren konnte und wie wenig westliche Beobachter die notwendigen Konsequenzen daraus gezogen haben. Schritt für Schritt beseitigte der frühere demokratische Hoffnungsträger seitdem die Gewaltenteilung, brachte Justiz und Parlament unter seine Kontrolle, marginalisierte die Opposition, verfolgte seine persönlichen Kritiker mit Gewalt oder mit der Androhung von Gewalt. Dazu entzog er sich systematisch internationalen Verpflichtungen wie der des Budapester Memorandums von 1994. Darin hatte Russland die territoriale Integrität der Ukraine einschließlich der Krim garantiert und als Gegenleistung die auf dem Gebiet der Ukraine verbliebenen sowjetischen Nuklearwaffen kassiert. Die Ukraine hingegen entwickelte immer deutlichere Sympathien für eine Westorientierung in Richtung Europa als einem Raum der Freiheit, des Rechts und der Sicherheit. Waren es zunächst die Jüngeren, die auf dem Maidan 2013/2014 für ihre europäischen Sehnsüchte demonstrierten, so sind es mittlerweile alle Generationen. Und selbst die Mehrheit der russischsprachigen Ukrainer im Osten des Landes wollte nach Europa und erteilte dem russischen Weg einer Diktatur eine Absage.
Der Untergang der Sowjetunion bedeutete das Verschwinden der Ideologie des Marxismus-Leninismus und hinterließ den nackten Imperialismus als geistigen Überbau. Hier erfand Putin das Konstrukt der „Russkij Mir“ (russische Welt), auf das sich der Kreml bei der Annexion der Krim ebenso berief wie bei dem hybriden Krieg in der Ostukraine (2014) und auch bei dem Angriffskrieg gegen die Ukraine (2022). In diese „russische-Welt“-Ideologie gehört seit dem Zarenreich das Konstrukt vom „dreieinigen russischen Volk“. Zu diesem zählen neben den Großrussen auch die Weißrussen (Belarussen) und die Kleinrussen (Ukrainer). Sowohl den Kleinrussen als auch den Weißrussen wird von diesem Narrativ die Eigenschaft abgesprochen, ein eigenes Volk zu sein.
Das hinderte allerdings die Sowjetunion 1948 nicht daran, bei der Gründung der Vereinten Nationen auch Belarussland und die Ukraine neben der Sowjetunion als eigenständige Länder mit eigenem Stimmrecht konfigurieren zu lassen. Auf diese Weise hatte sich die Sowjetunion stets drei Stimmen in der UN-Vollversammlung gesichert. Das Putinsche Konzept verweigert hingegen den Ukrainern und Weißrussen nun ihre nationale Identität und versteht sie als subethnische Gruppen in der Großrussischen Nation. Wer sich diesem Konstrukt nicht unterwirft und ein nationales Selbstbestimmungsrecht einfordert, wird zum Nazi erklärt, der mitleidlos ausgelöscht werden muss.
Eine Besonderheit dieser imperalistischen Ideologie ist ihre religiöse Imprägnierung. Die „russische Welt“ wird nicht nur als topographische Größe, sondern auch als sakraler Raum im Sinne der russischen Orthodoxie begriffen. Zur Sakralisierung des Konzeptes der russischen Welt werden immer wieder zwei Narrative genutzt. Den ersten Mythos bildet die Taufe des Großfürsten Wladimir I. und damit die Christianisierung des Fürstentums „Kiewer Rus“ im Jahre 988. Der zweite Mythos beleuchtet Moskau als „Drittes Rom“. Dieser Mythos geht auf den Mönch Feilofei von Pskow (1465-1542) zurück. Er begründet, warum nun Moskau Hort der Rechtgläubigkeit und Hüterin der Wahrheit sei. Der aktuelle Patriarch Kyrill I. als Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche (ROK) nutzt diese Mythen als heilsgeschichtliche Mission. Von Russland aus müsse die christliche Zivilisation gegen die vom Westen ausgehende Usurpation durch Rationalismus, Individualismus und permissiven Liberalismus verteidigt werden. Auf der Grundlage dieses Weltbildes unterstützt Kyrill den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Nur so lasse sich dessen „metaphysischer Sinn“ begründen. Diese Haltung hat Kyrill auf der Sanktionsliste der Europäischen Union landen lassen, deren Umsetzung – interessanterweise -jetzt von Ungarn blockiert wird.
Nachdem Putins Hoffnung auf einen Blitzkrieg, der die Ukraine nach nur wenigen Tagen in die Knie hätte zwingen sollen, spektakulär gescheitert ist, muss Patriarch Kyrill nun sein eigenes Scheitern konstatieren. Vor wenigen Tagen, am 27. Mai, hat ein Landeskonzil in der Ukraine, das sich aus Bischöfen, Priestern, Mönchen und Laien zusammensetzt, die „vollständige Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der ukrainischen orthodoxen Kirche“ (UOK) erklärt. Diese Kirche entstand 1990 mit der staatlichen Unabhängigkeit der Ukraine, unterstand aber bisher als autonome Kirche dem Moskauer Patriarchat. Das jüngste Konzil fand exakt 30 Jahre nach der Bischofssynode von Charchiw statt, die den damaligen Metropoliten Filaret abgesetzt hatte. Dieser hatte es im November 1991 zusammen mit anderen Bischöfen gewagt, den Moskauer Patriarchen um die Verleihung der Autokephalie, also der Eigenständigkeit der Kirche, zu bitten. Jetzt, als Wirkung des russischen Angriffskrieges auf die Kirche, erklärt die UOK von sich aus die Selbstständigkeit.
Diesem dramatischen Signal war drei Tage zuvor ein Konzil der Konkurrenz vorausgegangen, nämlich der orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU), die 2019 die Autokephalie von dem ökumenischen Patriarchen in Konstantinopel erlangt hatte – zum Ärger des Moskauer Patriarchats. Die OKU fordert auf ihrem Konzil die UOK auf, sich endlich vom Moskauer Patriarchen Kyrill loszusagen, weil dieser den Angriffskrieg unterstützt und damit auch die häretische Ideologie der „russischen Welt“. Übrigens ist dies auch die Position der russisch-orthodoxen Kirche in Deutschland, die von Anbeginn des Krieges die russische Invasion abgelehnt hat und sich intensiv um die Geflüchteten aus der Ukraine kümmert.
Metropolit Onufrij, der seit 2014 an der Spitze der UOK steht, hat sich vom Konzil der Konkurrenzkirche inspirieren lassen und die Position des Moskauer Patriarchen zum Krieg gegen die Ukraine vollständig abgelehnt und als Verstoß gegen das fünfte Gebot „du sollst nicht töten“ bezeichnet. Ein solcher „brudermörderischer Krieg lässt sich nicht rechtfertigen, weder vor Gott noch vor den Menschen.“ Die Reaktionen des Moskauer Patriarchats auf diese Paukenschläge sind erstaunlich leise. Bisher hat nur ein stellvertretender Abteilungsleiter der ROK davon gesprochen, dass die Kiewer Konzilsbeschlüsse den Anfang eines Schismas darstellen könnten, welche vom amerikanischen Außenministerium initiiert worden sei.
Diese Redeweise von den Amerikanern als den Sündenböcken, denen die Schuld für alles in die Schuhe geschoben werden kann, was aus der Sicht der Russen schiefläuft, feiert mittlerweile ihren 100. Geburtstag. Schon Lenin, mit dem Putin nichts gemein haben will, hatte die Amerikaner als prinzipielle und aktuelle Übeltäter nominiert. Die USA wurden und werden stets dann als Urheber alles Bösen in Stellung gebracht, wenn die russische Propaganda um Argumente ringt. Die Putin-Versteher von heute in der Europäischen Union und auch in Deutschland eifern dem nach. In Deutschland z,B. gibt es sowohl bei der Linken wie auch bei der AfD Politiker mit der Überzeugung, dass letztlich die Amerikaner für den Einmarsch der Russen in die Ukraine verantwortlich sind.
Wer heute ein gewisses Verständnis für den Angriffskrieg der neototalitären Nuklearmacht Russland gegen die freiwillig entnuklearisierte und demokratisierte Ukraine entwickelt, verkennt den Machthunger des imperialistischen Diktators Putin. Mit dem Besitz der Ukraine oder auch nur von Teilen davon wird er sich nicht zufriedengeben. Er lechzt nach mehr. In Georgien wächst denn auch die Angst vor einem erneuten militärischen Überfall, nachdem in Südossetien das Referendum über den Beitritt zur Russischen Föderation abgesagt wurde. Man befürchtet einen Beitritt per Dekret des Präsidenten der abtrünnigen Provinz. Natürlich ist die Erinnerung an den Blitzkrieg noch wach, mit dem Russland Georgien 2004 nach wenigen Tagen niedergerungen hatte. Und auch in Moldavien (Moldau) schlafen die Einwohner schlecht, weil Moskau die Europa-Orientierung der neuen Führung strikt ablehnt.
Die Überlegenheit an Menschen und Material dürfte Russland auf Dauer helfen, die ukrainischen Truppen in die Defensive zu drängen. Nur westliche Präzisionswaffen könnten weitere ukrainische Städte vor der Vernichtung durch russische Raketen bewahren, die Mariupol und wohl bald auch Sewerodonezk unbewohnbar gemacht haben. Es ist deshalb im Interesse nicht nur der Ukraine, sondern der freiheitlichen Demokratien, die russische Militärmaschine zu stoppen, bevor sie die europäische Sicherheitsarchitektur vollständig zerstört haben wird.
Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jahrgang 1941) ist nicht nur Politologe, sondern war, unter anderem als Mitglied von Helmut Kohls so genanntem „Küchenkabinett“, jahrelang selbst aktiv am politischen Geschehen beteiligt . Zudem war Bergsdorf in der Regierungszeit Kohls Leiter der Inlandsabteilung des Bundespresseamtes und anschließend Chef der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums. 1987 war er zum außerplanmäßigen Professor für Politische Wissenschaften an der Bonner Universität ernannt worden. Von 2000 bis 2007 amtierte er als Präsident der Universität Erfurt.
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