Inschrift_Weserstein
Inschrift Weserstein

Von Gisbert Kuhn

Ganz vorn an der Landspitze der malerischen Barock- und Fachwerkstadt Hannoversch Münden, dort wo von zwei Seiten Flüsse zusammenkommen, um einen neuen – dritten – Strom  entstehen zu lassen, befindet sich seit dem 31. Juli 1899 ein Findling mit einer Aufschrift, die den Besuchern in gereimter Form nahe bringt: „Wo Werra sich und Fulda küssen, sie ihren Namen büßen müssen. Und hier entsteht durch diesen Kuss deutsch bis zum Meer der Weserfluss“. Wie der geografisch „angereicherte“ Name erkennen lässt, heißt das idyllische, niedersächsische, Städtchen eigentlich Münden. Da es jedoch unmittelbar an hessisches Gebiet grenzt, meinte einst das Königreich Hannover, mit dem Zusatz den Besitz nachdrücklich unterstreichen zu müssen.

Unterschätzt und unbekannt

Welfenschloss
Blick auf das Welfenschloss

Hann. Münden, wie der Ort inzwischen abgekürzt landläufig genannt wird, ist der Ausgangspunkt vielfältiger Touren ins Weserbergland. Womit hier vor allem das Gebiet an der Oberweser beschrieben sein soll – das heitere Flusstal mit den grünen Wiesen, heimeligen Dörfern und trutzigen Klosteranlagen links und rechts des Stromes, beidseitig eingerahmt durch die mit zum Teil uralten Eichen und Buchen bestandenen Bergzüge von Reinhardswald, Bramwald und Solling. Es ist, ohne Frage, eine der reizvollsten Regionen in Deutschland. Gleichgültig, was die Besucher zu finden hoffen, es wird ihnen hier geboten – Ruhe und Erholung in abwechslungsreicher Natur, Wandern durch lichte Laubwälder, Wassersport, Geschichte in Gestalt mehr als tausend Jahre alter Klosterbauten und Burgen, Gesundheit im Solbad und märchenhafte Stationen im Sinne des Wortes. Und dennoch ist der Landstrich – erstaunlicherweise – weitgehend unbekannt oder wird, mit Blick auf seine Attraktivität, ganz einfach unterschätzt.
Dieser nördlichste, an Ostwestfalen und Südniedersachsen stoßende, Zipfel Hessens wird nicht grundlos mit vielen Sagen, besonders aber mit Märchen in einem Atemzug genannt. Denn hier ist GrimmGebrüder-Grimm-Land. Bei Dorothea Viehmann im damaligen Dorf (und heutigen Kasseler Stadtteil) Niederzwehren waren die Grimms besonders fündig geworden. Die „Viehmännin“ war ein Hugenotten-Abkömmling. Ihr Vater musste – wie abertausend Andere auch – des protestantisch-calvinistischen Glaubens wegen Ende des 17. Jahrhunderts aus Frankreich fliehen und fand Zuflucht beim hessischen Landgrafen Karl. Sollte jemand einmal bei einer Reise durch Frankreich auf den Märchentitel Neige-Blanche et Rose-Rouge oder Le chat botté stoßen, dann wird er sich vielleicht an seine eigene Kindheit zurück erinnern, als ihm Oma oder Mutter Schneeweißchen und Rosenrot oder Der gestiefelte Kater vorgelesen hatten. Diese Geschichten und viele andere haben tatsächlich ihren Ursprung in unserem westlichen Nachbarland und kamen mit den Hugenotten nach Deutschland, wo sie von den Grimm-Brüdern gesammelt und aufgeschrieben wurden.

Dornröschen-Schloss Sababurg

Sababurg-01
Die Sababurg im Reinhardswald

Dazu gehört mit hoher Wahrscheinlichkeit auch das Märchen von Dornröschen und dessen hundertjährigem Schlaf hinter von Rosengestrüpp verborgenen Mauern. Als La belle au bois dormant findet es sich ebenfalls im französischen Schrifttum. In Gestalt der mit Türmen und Türmchen bewehrten und von Rosensträuchern umpflanzten Sababurg hat die Geschichte von der Königstochter, der bösen Fee und dem kühnen Prinzen ein gleichsam verzaubertes, bauliches Denkmal gefunden. Nebenbei: Die Sababurg, hoch oben mitten im Reinhardswald, beherbergt ein erstklassiges (wenn auch nicht gerade billiges) Hotel mit exquisiter Küche. Und wer noch mehr Exotik und Verwunschenheit sucht, dem sei der Besuch des benachbarten, riesigen Tierparks oder ein Streifzug durch den ebenfalls nahen Urwald mit seinen viele hundert Jahre alten Eichen empfohlen, die zu umfassen es mitunter bis zu acht erwachsene Personen braucht.
Zurück und hinunter zur Weser sind es gerade einmal acht Kilometer. Dort, an der Uferstraße gelegen, regen nicht zuletzt die Namen zweier Dörfer zum Nachdenken an: Gottstreu und Gewissenruh. Der bereits erwähnte hessische Landgraf Karl siedelte auch dort französische Glaubensflüchtlinge an und gab den Dörfern höchstpersönlich ihre Namen – hier, wo mein Gewissen Ruh findet und dort, wo ich meinem Gott treu sein kann. Es waren so genannte Waldenser, Anhänger einer von dem Lyoneser Kaufmann Petrus Valdes Ende des 12. Jahrhunderts gegründeten christlichen Reformbewegung, die über die Jahrhunderte hinweg immer wieder Verfolgungen ausgesetzt war und heute Teil der Evangelisch Reformierten Kirche ist.

Die Stadt vom Reißbrett

Bad-Karlshafen
Das Rathaus (re) und das Hafenbecken

Noch mehr hugenottische Geschichte an der Oberweser gefällig? Knapp 15 Kilometer stromabwärts liegt Bad Karlshafen. Der Name verrät schon: Auch hier war Landgraf Karl am Werk. An der Mündung der Diemel in die Weser gelegen, wurde die Stadt 1699 gegründet – eine auf dem Reißbrett entworfene, im barocken Baustil quadratisch angelegte Ansiedlung, die heute als Sole-Heilbad um Gäste wirbt und, darüber hinaus, über ein bedeutendes Hugenotten-Museum verfügt. Karl, der Landgraf, hatte bei der Grundsteinlegung freilich weniger den Tourismus im Sinn. Er wollte vielmehr, erstens, Wohnraum schaffen für die zugewanderten Hugenotten. Und zweitens plante er, von hier aus und unter Nutzung des Diemelwassers einen Kanal in seine Residenzstadt Kassel bauen zu lassen, um sich die lästigen Stapelgebühren im hannoverschen Münden zu ersparen. Als Karl starb, waren freilich gerade einmal 17 Kanal-Kilometer fertig. Und dabei blieb es dann auch. Bis vor einiger Zeit der inmitten des Ortes befindliche Hafen zu neuem Leben erweckt wurde. Mit 6,5 Millionen Euro wurden vor einiger Zeit die Anlagen restauriert, um Sportboote aufzunehmen und und auch die Möglichkeit zum Erlangen eines Bootsführerscheins zu bieten. Zur Zeit halten sich in dem 3600-Einwohner-Städtchen noch Freude und Sorge die Waage. Freude über die ohne Zweifel steigende Attraktivität, aber auch Sorge, ob die ohnehin schon klamme Kommune die zusätzlich auf sie zukommenden Kosten werde stemmen können.
Aber gleichgültig, ob motorisiert der „Straße der Weser-Renaissance“ folgend, auf dem von Hann. Münden bis Bremen (ja, sogar noch weiter bis Cuxhaven) führenden Weser-Radweg oder mit dem Paddelboot unterwegs – man sollte sich unbedingt Zeit nehmen. Wo sonst auf Deutschlands Flüssen findet man noch Gierseil-Fähren? Also Fähren, die nicht mit Motorkraft, sondern – an Querseilen hängend – allein durch die Strömung des Wassers von einem Ufer zum andern bewegt werden. Und nicht nur eine, sondern gleich fünf Stück über eine Entfernung von knapp fünfzig Kilometer.

Quacksalber oder Wunderheiler?

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Behandlung durch Dr. Eisenbarth

Hann. Münden wäre sicher auch ohne seinen Doktor Eisenbarth einen Besuch wert. Aber mit ihm ist das Erlebnis zweifellos größer. In der Kirche St. Ägidien ist der 1772 gestorbene, wohl berühmteste Wanderarzt der Barockzeit, beerdigt. Über ihn wird heute noch gestritten, ob er denn nun ein Wunderheiler oder bloß ein Quacksalber gewesen sei. „Ich bin der Doktor Eisenbarth, kurier die Leut´ nach meiner Art“, klang es neun Jahre lang jeden Sommer vor dem Mündener Rathaus zur Gaudi vieler Besucher in einem Theaterstück über das Leben jenes Johann Andreas Eisenbarth, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Jahrmarkt zu Jahrmarkt zog und seine medizinischen Künste anbot. Gesichert ist immerhin, dass er nicht nur Zahnschmerzen und Nierensteine erfolgreich kurierte, sondern auch mit Hilfe eines selbst entwickelten Stecheisens Augenleiden wie den Grauen Star heilte. Leider hat sich die Theater-Truppe mittlerweile aufgelöst, weil der Nachwuchs fehlte. Keine Frage, ein herber Verlust für die Stadt.

Die Oberweser und ihre Klöster – wie auf einer Perlenschnur aufgezogen reihen sich die romanischen Bauwerke links und rechts an den Ufern des Flusses. Viele Jahrhunderte lang – von der Zeit Karls des Großen und seiner „Sachsenkriege“ bis zur Reformation – zählten manche von ihnen zu den bedeutendsten Trägern des abendländischen Wissens und der damit verbundenen religiösen und wissenschaftlichen Kultur. Eines ist vom andern nur einen mönchischen Tages-Fußmarsch entfernt, so dass der Austausch von Informationen auch im Mittelalter leicht zu bewältigen war. Nach den Sachsenkriegen und der anschließenden Christianisierung in Richtung Osten hatten die Klöster nicht zuletzt die Aufgabe, das zuvor u. a. von Karl dem Großen militärisch eroberte Gebiet geistig-geistlich abzusichern. 

Stätten des Innehaltens

Kloster Bursfelde
Kloster Bursfelde

Auch jetzt noch sind die einstigen Klöster Stätten des Innehaltens. Allein schon die Kirchen in ihrer beeindruckenden, schlichten romanischen Gradlinigkeit laden zum Verweilen und Betrachten ein. Beginnen wir mit Bursfelde, nur wenige Kilometer Weser abwärts von Hann. Münden entfernt. Die ehemalige Benediktiner-Abtei von 1093 mit ihrer Doppelkirchen-Basilika ist jetzt Endpunkt des im niedersächsischen Loccum beginnenden und auch über thüringisches Gebiet führenden, 300 Kilometer langen, evangelisch-lutheranischen Pilgerwegs. Wer im Sommer hier anlangt, findet nicht nur ein spirituelles protestantisches Zentrum vor, sondern kann sich zudem an den Bursfelder Sommerkonzerten erfreuen.
Ein wahres romanisches Kleinod finden Freunde kirchlicher Architektur im einstigen Benediktinerinnen-Kloster Lippoldsberg, einer Gründung des Mainzer Erzbischofs Lippold von 1051. Hier ist am und im Haupthaus nie auch nur das Geringste stilistisch verändert worden. Lediglich einer der beiden Türme brannte während des Dreißigjährigen Krieges ab. Besonders beachtenswert ist im Innern der im 19. Jahrhundert wieder aufgefundene, reich verzierte steinerne Taufstein aus der Mitte des 13. Jahrhunderts. Leider nur noch die Fundamente sind erhalten vom ehemaligen Kloster in Helmarshausen, heute ein Ortsteil von Bad Karlshafen. Dabei gehörte diese, 997 gegründete, Benediktiner-Abtei vom frühen Mittelalter an – so wie die Reichenau im Bodensee oder St. Gallen – zu den „Schreibstuben des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation“. Es waren Helmarshausener Mönche, die zum Beispiel das berühmte, jetzt in der Bibliothek von Wolfenbüttel aufbewahrte, Evangeliar Heinrichs des Löwen schrieben.

Der Dichter des Deutschlandlieds

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Schloss Corvey

Sogar in das Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen ist die Eingangshalle der Klosterkirche Corvey bei Höxter. 822 wurde die Abtei von Karl dem Großen persönlich gegründet, als erstes karolingisches Benediktiner-Mönchkloster überhaupt. Das Westwerk gilt als das älteste in der Welt. Zahlreiche Reichstage wurden in Corey abgehalten. Doch dieser Ort hat auch Bezug zur neueren deutschen Geschichte. Heinrich Hoffmann von Fallersleben war dort Mitte des 19. Jahrhunderts als Bibliothekar beim Fürsten Ratibor angestellt. In Corvey ist er begraben – der Dichter, der (auf die damals britische Insel Helgoland verbannt) das Deutschlandlied schrieb.
Fazit: Wer sich in Nordhessen, Südniedersachsen oder Ostwestfalen aufhält und nicht das Weserbergland besucht, ist selber schuld.

 Titelfoto: Die Sababurg im Reinhardswald im Weserbergland

 

Info:

Weserbergland Tourismus e.V.

Deisterallee 1

31785 Hameln

Tel: 05151 93000

Internet: www.weserbergland-tourismus.de

 

 

 

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