Von Gisbert Kuhn  

Gisbert Kuhn

Wladimir Putin will nicht Alleinschuldiger sein, falls der von ihm losgetretene Eroberungskrieg gegen die Ukraine nicht nur weiterhin nicht „nach Plan“ verlaufen, sondern möglicherweise sogar vollständig in einem Desaster enden sollte. Das zeigt eine Formulierung in seiner „Teilmobilisierung“ der Armee, die in der öffentlichen Aufregung um die martialische Ankündigung des Kreml-Despoten weitgehend unbeachtet blieb. Der Hinweis nämlich, er folge mit dieser Maßnahme den Vorschlägen und Forderungen seines Verteidigungsministers Sergej Shoigu und der Generalität. Eine derartige Bemerkung eines Alleinherrschers bedeutet doch nur eines – mag ihm der „Fall der Fälle“ auch noch so unwahrscheinlich erscheinen, so will er sich doch absichern. Dann möchte der alte KGB-Fuchs Putin nicht als Alleinschuldiger vor seinem Volk und den dann ganz gewiss sehr schnell bereitstehenden Scharfrichtern in der Partei und dem „Apparat“ treten. Dafür hat der „überlegene Stratege“ und „Retter Russlands“ jedenfalls die Ausrede schon gefunden: Seht her, ich bin doch bloß den Ratschlägen der Experten gefolgt!

Ein Eingeständnis eigener Unsicherheit, gar keine Frage. Deshalb sollte es auch gut im Gedächtnis gespeichert werden, auch wenn gegenwärtig überhaupt nichts dafür zu sprechen scheint, dass sich Putin in absehbarer Zeit tatsächlich einmal sowohl für die Folgen seiner Großmachtphantasien als auch die Schandtaten seiner Gefolgschaft bis hinunter zu den plündernden, mordenden und vergewaltigenden Soldaten vor den Opfern und dem Recht würde verantworten müssen. Doch die Geschichte misst nicht in Tagen oder Wochen. Und das Gedächtnis der Völker ist lang. Vorerst freilich gilt es, sich einer Lage zu stellen, so wie sie tatsächlich ist. Und das heißt schlicht und einfach, mit der von ihm befohlenen Teilmobilisierung Russlands hat der Despot im Kreml die krisenhafte Situation in der Welt um eine weitere Drehung erhöht.

Jawohl, der Welt! Denn mit seinem Überfall auf die Ukraine am 24. Februar hatte Putin nicht nur den mühsam international aufgebauten Glauben zerschossen, dass die Völker und Staaten – einem allseits akzeptierten Regelwerk folgend – ihre Probleme und Konflikte friedlich beilegen würden. Nein, der ursprünglich einmal wohl als eine Art Spaziergang und „Heim-ins-Reich“-Aktion ist den Russen geplante Einmarsch ist nicht nur dank des in dieser Härte unerwarteten Widerstands der Ukraine völlig außer Kontrolle geraten. Er führt den Völkern rund um den Globus vor Augen, was sie erwartet, wenn Demokratie und Recht außer Kraft gesetzt werden. Man muss ganz bestimmt nicht bei jedem Wort Putins in Angst und Schrecken verfallen. Doch eines haben die vergangenen Monate eigentlich jedermann klarmachen müssen: Ihm nicht zu glauben, führt am Ende zu bösem Erwachen. Will konkret heißen: Niemand braucht sofort in den Schutzkeller rennen, wenn Putin oder einer seiner Vasallen mit dem Einsatz von Kernwaffen drohen. Aber dass er zu diesem „ultimativen Mittel“ greifen könnte, wenn ihm das Wasser bis zum Hals steht, sollte auch nicht in den Bereich des Unmöglichen geschoben werden.

Das stellt, fraglos, Deutschland und die Bundesregierung, in Wirklichkeit jedoch uns alle, vor neue Probleme. Sind wir, wie die Verteidigungsministerin jüngst (ziemlich forsch und voreilig) glaubte verkünden zu müssen, wirklich die europäische Führungsmacht? Wer eine derartige Rolle beansprucht, muss auch mit Inhalten dienen können. Mit software, das heißt geistig, moralisch, politisch. Und nicht minder mit hardware – also finanziell, wirtschaftlich und, nicht zuletzt, militärisch. In der Vergangenheit konnten sich die Bundesregierung, Deutschland und auch wir uns als Gesellschaft bei der Antwort auf die ukrainische Bitte nach Panzern und anderen „schweren“ Waffen relativ bequem hinter dem Hinweis auf das Verhalten der NATO-Verbündeten verstecken. Als „Führungsmacht“ (falls man das wirklich ansteuern sollte) ginge das nicht mehr; dann müsste man selbst den Takt vorgeben.

So oder so – war die Lage schon vorher gefährlich genug, hat Putin mit seiner Teilmobilisierung und der Ankündigung von wie auch immer „getürkten“ Volksabstimmungen über die Zugehörigkeit von vier besetzten ukrainischen Provinzen im Osten den Brand noch zusätzlich befeuert. Dadurch, dass die Gebiete wieder bei Russland eingegliedert würden, wäre in Zukunft jeder Beschuss als Angriff auf russisches Gebiet zu bewerten. Ob die Unterstützer der Ukraine dies ebenfalls so sehen oder nicht – es läge bei Putin, sie zu direkten Kriegsteilnehmern zu erklären. Andererseits: Die jetzigen, wirklich erstaunlichen, Erfolge der ukrainischen Truppen im Osten hingen, ohne Frage, von der Qualität und Genauigkeit der vom Westen gelieferten Systeme ab. Diese Effektivität könnte vielleicht, in der Tat helfen, den Krieg und das sinnlose Sterben zu verkürzen. Sie könnte aber auch genau das Gegenteil bewirken. Mögen die russischen Waffen und/oder deren Bedienungen auch überraschend schlecht gewesen sein – der dem Kremls-Chef zur Verfügung stehende gesamte Militärapparat ist immer noch gewaltig und sprengt alle Vergleiche zu den westlichen Armeen. Anders ausgedrückt, jeder weitere Erfolg mit westlichen Waffen erhöht das Risiko russischer Reaktionen bis hin zum atomaren Gedankenspiel.

Was im täglichen, aufgeregten Diskurs über Putin, die Teilmobilisierung und das gesamte Geschehen in der Ukraine erstaunlicherweise nahezu untergeht, ist der Blick auf die damit fast automatisch einhergehende Kraftverschiebung in der Welt. Ob Putin seine ukrainischen Ziele „nach Plan“ erreicht oder (was wahrscheinlicher ist) nicht, ändert nichts daran, dass er sich und sein Land immer mehr zum Spielball anderer Mächte werden lässt – allen voran Chinas. Politisch hat sich Putin ohnehin schon in dessen Hand begeben. Russland unterstützt bedingungslos das Eroberungsstreben Xi Jinpings gegenüber Taiwans und die Unterdrückungsmaßnahmen Pekings gegen die Uiguren und erhält dafür als Ausgleich – keine direkte Verurteilung des Ukraine-Kriegs durch Peking und den Appell nach einer politischen Lösung des Konflikts. Das kann man kaum als gutes Geschäft ansehen. Dass das Reich der Mitte technologisch ohnehin weit enteilt ist und die russische Wirtschaft angesichts der westlichen Sanktionen dringendst auf hightec aus China angewiesen ist, macht – aus Moskauer Sicht – die Sache nicht besser.

Damit rundet sich der Kreis. Bis hin zu dem interessanten Punkt, dass (und warum) Wladimir Putin die Entscheidung, weitere 300 000 Soldaten aus der Reserve zu aktivieren, auf die vereinte Generals-Kamarilla geschoben hat. Auf den ersten Blick ist das eine gewaltige Zahl. Weit mehr als eine Viertelmillion Menschen! Mehr als die Bundeswehr seit Jahren insgesamt aufbieten kann. Aber die Mobilisierung sagt natürlich noch gar nichts über den damit erhofften Zweck aus. Gerade hat uns alle der teils erbärmliche Zustand überrascht, in dem sich die gegen die Ukraine eingesetzte Armee befindet – technisch, in ihrer Ausrüstung, bei der Verpflegung, beim Nachschub, der taktischen Führung usw. Und das waren reguläre Kampf-Einheiten. Dagegen die „neuen?“ Das sind Reservisten, großenteils seit langem außer Übung. Funktioniert die Einberufung, die Ausrüstung, Unterbringung, militärische „Auffrischung“? Wie lange wird es zwangsläufig dauern, bis diese Ersatzreserve eingesetzt werden kann? Wie ist deren Motivation, da sie aus ihren Familien, Beziehungen, sozialen Umfeldern gerissen wurden. Wie wird sich auf die Motivation auswirken, wenn immer mehr Fälle von bevorzugender Vetternwirtschaft bekannt werden? Und wird es die Bevölkerung weiterhin stoisch hinnehmen, wenn die Gefallenenzahlen es unübersehbar machen, dass die angebliche „Spezial-Operation“ in Wirklichkeit ein brutaler Krieg ist?

Noch einmal: Putin hat sich abgesichert, indem er die eigentliche Verantwortung für das weitere Geschehen in der und um die Ukraine der militärischen Führung in Russland zuschob. Damit hat er allerdings und letztendlich auch sein eigenes, persönliches und politisches Schicksal in deren Hände gelegt.

 

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel

 

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