Politik: Zweifelhaftes Vorbild
Während viele von weniger Arbeit träumen, führt Griechenland die Sechs-Tage-Woche ein. Ob die Maßnahme die Probleme des Landes löst, ist fraglich.
Seit 1. Juli 2024 gilt in Griechenland eine neue gesetzliche Arbeitszeitbestimmung. Die allein regierende konservative Nea Dimokratia des Premierministers Kyriakos Mitsotakis hat die Sechs-Tage-Woche rechtsverbindlich für einzelne Wirtschaftszweige eingeführt, so etwa für das verarbeitende Gewerbe sowie für einige Dienstleistungen, zum Beispiel für Banken und Versicherungen. Arbeitsministerin Niki Kerameus (seit Mitte Juni im Amt) begründet den Reformbedarf mit „Arbeitskräftemangel“ und der Notwendigkeit, mehr „Flexibilität“ in den Branchen und Unternehmen zu verankern. Sämtliche Oppositionsparteien – links wie rechts von der Nea Dimokratia – stimmten gegen die Gesetzesnovelle. Die zwei gewerkschaftlichen Dachverbände für den Privatsektor und den öffentlichen Dienst – GSEE und ADEDY – liefen Sturm gegen die gesetzliche Ausdehnung zur Sechs-Tage-Woche.
Die neue Rechtslage sieht vor, dass es einen individuellen Aushandlungsprozess zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmerseite geben soll. Die Option, der Forderung des Arbeitgebers nach längerer Arbeitszeit nicht zu entsprechen, ist zwar rechtlich verankert. Allerdings ist im neuen Gesetz nicht eindeutig geklärt, wie dieses Prinzip der Freiwilligkeit für Teilzeitbeschäftigte und solche mit befristeten Arbeitsverträgen angewandt werden soll. Zudem ist zu bedenken, dass eine individuelle Weigerung der Arbeitnehmerin in der Alltagsrealität eines Betriebs schnell an Grenzen stößt, wenn andere Arbeitnehmer die Arbeitszeitverlängerung akzeptieren und der Arbeitgeber Sonderfaktoren wie Krankenstand in der Belegschaft, Urlaubszeiten von Beschäftigten oder kurzfristige Auftragserledigung geltend macht.
Sosehr das Arbeitsministerium das Prinzip der Freiwilligkeit der Arbeitszeitverlängerung betont, so verweist doch die Praxis in zahlreichen Sektoren der griechischen Realwirtschaft auf eine ganz andere Ausgangssituation. Seit Jahren geht der gewerkschaftliche Organisationsgrad zurück. Ebenso hat die Tarifbindung von Unternehmen und Wirtschaftszweigen abgenommen. Letzteres ist eine der langfristigen Folgen der drei makroökonomischen Anpassungsprogramme der Troika, denen Griechenland zwischen 2010 und 2018 ausgesetzt war. Im Übrigen war eine der damaligen Konditionalitäten der Kreditgeber aus Internationalem Währungsfonds, der Europäischen Zentralbank und der Kommission in Brüssel, dass Griechenland gesetzliche Arbeitszeitverlängerungen einführen sollte. Die ab Juli 2024 geltenden Bestimmungen haben demnach einen Vorlauf und können als Teil einer lange anhaltenden Kontroverse angesehen werden, wie arbeitsrechtliche Bestimmungen in Griechenland verändert werden.
Zwischen 2010 und 2022 haben mehr als 500 000 Griechinnen und Griechen das Land verlassen.
Der griechische Arbeitsmarkt war in der vergangenen Dekade von einem starken Wandel gekennzeichnet, der gleichzeitig Strukturprobleme erkennen lässt. Es sind berechtigte Zweifel angebracht, ob diese Probleme durch die Verlängerung der wöchentlichen Arbeitszeit in den Griff zu bekommen sind. Zwar nimmt die Arbeitslosigkeit seit einigen Jahren ab; doch noch immer ist Griechenland eins von nur zwei Ländern in der Eurozone, in dem die registrierte Arbeitslosigkeit weiterhin zweistellig ist. Sie betrug im April 2024 insgesamt 10,8 Prozent und betraf mehr als eine halbe Million Menschen. Lediglich Spanien lag mit 11,7 Prozent noch vor Griechenland.
Zwischen 2010 und 2022 haben mehr als 500 000 Griechinnen und Griechen das Land verlassen, um im Ausland zu arbeiten. Diese Migration betraf vornehmlich gut ausgebildete junge Menschen, die während der Krisenjahre von drohender Arbeitslosigkeit betroffen waren. Vor die Wahl gestellt, zu bleiben oder zu gehen, haben viele mit den Füßen abgestimmt. Viele dieser Menschen sind trotz wirtschaftlicher Erholung und besserer Arbeitsmarktbedingungen auch heute noch nicht bereit, nach Griechenland zurückzukehren. Diesen Personenkreis durch eine Verlängerung der wöchentlichen Arbeitszeit zu „motivieren“, eine Beschäftigung in Griechenland aufzunehmen, erscheint eher abwegig. Auch betriebliche Personalprobleme werden durch solche Angebote nicht gelöst. Erst recht nicht, wenn viele dieser Beschäftigten im Ausland Erfahrungen mit Homeoffice, hybriden Arbeitszeitmodellen und womöglich bereits einer Vier-Tage-Woche gemacht haben.
In zahlreichen Wirtschaftszweigen Griechenlands ist seit Beendigung der Covid-Pandemie ein wachsender Mangel an Personal und Fachkräften erkennbar geworden, insbesondere in der Bauindustrie, der Landwirtschaft, im Tourismus und in der Gastronomie. Die Mitsotakis-Regierung war angesichts dieser Defizite herausgefordert, illegalen Einwanderern einen Schutzstatus vor Abschiebung und Zugang zum gesetzlichen Arbeitsrecht zu gewähren. Diese Reform betrifft allerdings Sektoren und Beschäftigte, die ohnehin schon die Sechs-Tage-Woche als Regelarbeitszeit erleben – häufig ohne Tarifregelung oder Zuschläge, wie sie jetzt gesetzlich eingeführt werden.
In der Debatte um die Einführung der Sechs-Tage-Woche wurde von Regierungsseite immer wieder hervorgehoben, dass die Reform auch Einkommensgewinne für Beschäftigte mit sich bringe. Das muss sich in der Praxis allerdings erst erweisen. Ob und wie lange einzelne Betriebe die neuen Zuschläge – bis zu 40 Prozent mehr Gehalt, an Sonn- und Feiertagen sogar 115 Prozent zusätzlich – bezahlen können, bleibt abzuwarten.
Diese Argumentation unterschlägt zudem eine wichtige Konsequenz längerer Arbeitszeiten mit höheren Zuschlägen: Die Mehrarbeit und Brutto-Einkommensgewinne können bei verschiedenen Beschäftigtengruppen, insbesondere im Niedriglohnsegment, dazu führen, dass die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in höhere Steuerklassen rutschen und höhere Sozialversicherungsabgaben zu leisten haben. In solchen Fällen wären die erzielbaren Einkommensgewinne gering und stünden im Widerspruch zu dem damit verbundenen Aufwand für die Beschäftigten.
Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass die gesetzliche Novellierung aus Athen demnächst in Luxemburg verhandelt wird.
Die Befürworter der griechischen Arbeitszeitnovellierung argumentieren auch mit dem Hinweis, dass die gesetzliche Einführung der Sechs-Tage-Woche einen bereits existierenden Zustand am Arbeitsmarkt rechtlich anerkenne und entsprechende Kompensationsregeln garantiere. In der Tat gibt es zahlreiche Unternehmen und Branchen, in denen die Sechs-Tage-Woche seit Jahren Alltagsrealität ist. Viele Griechinnen und Griechen arbeiten bereits in zwei Jobs. Allerdings tun sie das häufig keineswegs freiwillig. Die Lohnkürzungen während der Krisenjahre, die Inflationsentwicklung der vergangenen fünf Jahre sowie steigende Mieten und Energiekosten zwingen die Bürgerinnen und Bürger förmlich dazu, länger zu arbeiten beziehungsweise zwei Jobs zu haben, um überhaupt über die Runden zu kommen. Anders gesagt: Diese ökonomische Realität ist in der arbeitenden Bevölkerung keineswegs akzeptiert, sondern erzwungen.
Ein interessanter Nebenaspekt der neuen Arbeitszeitdebatte ist der Versuch einzelner Medienvertreter und Interessenverbände in Deutschland, das Narrativ „von Griechenland lernen“ öffentlichkeitswirksam zu platzieren. In den letzten Wochen ist aufgefallen, dass kaum eine griechische Reform der vergangenen zehn Jahre in Deutschland eine solche Aufmerksamkeit erhalten hat, wie jene der Arbeitszeitverlängerung. Während Gewerkschaften in Deutschland wieder verschiedene Modelle von Arbeitszeitverkürzung in ihre Forderungskataloge für Tarifverhandlungen aufnehmen, halten wirtschaftsnahe Verbände das „Modell Griechenland“ hoch. Der Arbeitgeberverband BDA begrüßte ausdrücklich den „Mut“ Griechenlands. Ebenso verweist der Bundesverband Mittelstand auf die positive Entwicklung in Athen, mit der Einschränkung allerdings, dass Arbeitszeitverlängerungen nicht durch staatliche Intervention auf den Weg gebracht werden sollten.
Schließlich ist die neue griechische Arbeitszeitregelung im europäischen Kontext zu betrachten. Die Arbeitszeitregeln auf EU-Ebene aus dem Jahre 2003 besagen, dass die wöchentliche Arbeitszeit, auf sieben Tage verteilt, 48 Stunden nicht übertreffen darf (Mehrarbeit inklusive). Die Arbeitszeitdirektive der Kommission erlaubt bestimmte Abweichungen in den EU-Mitgliedstaaten, wenn sie qua Gesetz und/oder qua Tarifvertrag beschlossen werden. Ob die neue gesetzliche Arbeitszeitregelung in Griechenland EU-konform ist, wird möglicherweise der Europäische Gerichtshof zu klären haben. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass die gesetzliche Novellierung aus Athen demnächst in Luxemburg verhandelt wird.
Die gesetzliche Flexibilisierung hin zur Sechs-Tage-Woche in Griechenland steht im Gegensatz zu betrieblichen Entwicklungen in anderen EU-Ländern, welche mit der Vier-Tage-Woche experimentieren oder die Wünsche von Beschäftigten nach hybrider Arbeitszeitgestaltung, inklusive Homeoffice, zu integrieren versuchen. Die bestehenden Strukturprobleme der griechischen Wirtschaft und die hohe Arbeitslosigkeit unterstreichen, dass zahlreiche Unternehmen nicht so sehr Probleme bei der Arbeitszeitgestaltung haben, als vielmehr die Herausforderung bewerkstelligen müssen, geeignetes Personal auszubilden und zu rekrutieren. So erfordern Infrastrukturmängel im öffentlichen Transportwesen, insbesondere bei der Eisenbahn, erhebliche Investitionen, unabhängig von den gesetzlichen Arbeitszeitregeln. Auch die anhaltende Inflation in Griechenland sowie die Auswirkungen der Alterung der Gesellschaft werden durch die Einführung einer Sechs-Tage-Woche nicht gelöst.
Dr. Jens Bastian ist Fellow am Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Zuvor war er als unabhängiger Berater und Finanzanalyst in Athen tätig.
Schreibe einen Kommentar