Auf die Menge kommt es an
von Günter Müchler

Beim Metaphysischen Grundgesetz handelt es sich um Geschichtsphilosophie. Aufgestellt hat das Gesetz Friedrich Engels, ein Säulenheiliger des Marxismus. Danach kommt es, wenn durch quantitative Änderungen ein bestimmter Punkt erreicht oder überschritten ist, zu einem Umschlag der Qualität. Wissenschaftlich ist das Gesetz vom dialektischen Sprung Spekulation. Allerdings erleben wir im Alltag, dass es nicht ganz aus der Luft gegriffen ist. So droht eine Speise, der zu viel von einer einzelnen Zutat hinzugefügt wird, umzukippen. Ein anderes Beispiel ist der Fahrstuhl, der bei Überlast zum Standstuhl wird. In der Regel halten wir uns, durch Erfahrung klug geworden, an die Mengenangaben eines Rezepts; die Warnhinweise in der Fahrstuhlkabine nehmen wir ernst. Ausgerechnet die Politik tut sich dagegen schwer mit dem Metaphysischen Grundgesetz. Die Migrationsdebatte wird seit Jahrzehnten so geführt, als seien Maß und Menge ohne Belang. Das hat Folgen, unter denen nicht zuletzt Schulen und Schüler leiden.
Alle Achtung, Karin Prien! Die Bundesbildungsministerin hat Mut bewiesen, als sie den Finger in die Wunde legte und vorschlug, den Anteil ausländischer Kinder an deutschen Grundschulen zu deckeln. Eine Obergrenze von dreißig oder vierzig Prozent sei denkbar, erklärte die CDU-Politikerin. Prien war vor ihrer Berufung durch Friedrich Merz Ministerin in Schleswig-Holstein. Dort blickt man gern ins benachbarte Dänemark. Im dänischen Schulsystem sind Obergrenzen für Ausländerkinder Praxis.
Prien dürfte klar gewesen sein, dass sie sich mit ihrem Vorstoß auf vermintes Gelände begeben würde. Das Echo war erwartungsgemäß kritisch und kam wie aus der Pistole geschossen. Man kennt das: Bei den Grünen löst der Verdacht, es könne regulatorisch in das Laissez-Faire der Migrationspolitik eingegriffen werden, zuverlässig Abwehrreflexe aus. Auch die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Natalie Pawlik, ließ sogleich die Jalousien herunter. „Deutschland braucht keine Quote im Klassenzimmer“, gab die Beauftragte apodiktisch zu Protokoll. Auffällig war die abschätzige Wortwahl. Pawlik gehört der SPD an, und bei Sozialdemokraten ist es eigentlich Usus, Quoten für eine vorzügliche Steuerungsmethode zu halten.
Tatsächlich würde die Einführung von „Quoten im Klassenzimmer“ eine kleine Revolution bedeuten. In Deutschland hat jedermann das Recht, seinen Wohnort frei zu wählen, was den Schulort vorbestimmt. Sollte man dieses Recht einschränken? Und wenn ja: Wäre das tägliche Herummanövrieren von Schulkindern nicht eine Horrorvorstellung? Nicht unbedingt, sagen Fachleute und verweisen auf die Vereinigten Staaten. In den USA wurden über einen großen Zeitraum Erfahrungen mit dem „bussing“ gesammelt. „Bussing“ bedeutet: Schwarze Schüler aus benachteiligten, meist innerstädtischen Wohnquartieren werden mit Bussen in solche Bezirke transportiert, wo die Schulen der Gutbetuchten stehen – und umgekehrt. Mischung soll helfen, Rassenschranken zu überwinden.
Die Einwände, die gegen schulische Migrantenquoten erhoben werden, sind bedenkenswert. Prinzipiell sollte man nur dann an Gewohnheiten und Regeln rütteln, wenn höherrangige Zwecke dagegenstehen und Gefahr im Verzug ist. Das ist beim Thema Quote und Klassen durchaus der Fall. Es wäre unsinnig, in dem Bemühen, die Kollateralschäden der Massenmigration einzudämmen, ausgerechnet die Schulen auszublenden. Die Schule ist der zentrale Ort des Spracherwerbs, und der Spracherwerb ist das A und O der Integration. Wer nicht gelernt hat, vernünftig Deutsch zu sprechen und zu schreiben, schleppt ein Bleigewicht mit sich, das jeden Schritt im Einwanderungsland erschwert und das Lebensschicksal negativ programmiert: kein Schulabschluss, kein Beruf, Dauerkundschaft beim Sozialamt.
Spracherwerb wird erleichtert oder erschwert je nach Umfeld. Es gibt Schulen, an denen der Anteil von Schülern ausländischer Herkunft verschwindend gering ist. Das ist gut für die Lehrer und gut für die Schüler, egal ob sie aus der Mehrheitsgesellschaft kommen oder aus Einwandererfamilien stammen. Häufig findet man solche Schulen in den von Besserverdienern geprägten Quartieren, wahlsoziologisch also dort, wo die Grünen ihre Hausmacht haben. Die Regel sind solche Schulen nicht. An vielen steht die Pyramide auf der Spitze, das heißt, Deutsch-Muttersprachler befinden sich in der Minderheit. An manchen Schulen – und keineswegs nur in notorischen Brennpunkten wie Berlin-Neukölln oder Duisburg-Marxloh – liegt der Ausländeranteil bei neunzig Prozent. Auf den Schulhöfen werden fünfzig und mehr Sprachen gesprochen. Und ein Pfingstereignis wie in der Bibel ist nicht in Sicht. Obwohl momentan die Einwanderungsziffern zurückgehen, spricht bei weiter sinkenden Geburtenraten die Wahrscheinlichkeit für eine Zuspitzung der Situation.
Das Problem an den Schulen ist nicht die wachsende Zahl farbiger Kinder, und es sind auch nicht die Mädchen mit Kopftuch. Das Problem ist, dass es für diese Kinder zu wenige Sprachvorbilder gibt. Gewiss, im Unterricht wird deutsch gesprochen. Aber schon in der Pause zerfällt die gemeinsame Plattform in dutzende Idiome. Und kaum sind die Kinder Zuhause, ist das Deutsche völlig außer Kraft gesetzt. Diesen Teufelskreis könnte eine Deckelung des schulischen Ausländeranteils wenigstens teilweise durchbrechen.
Weshalb bekommt man hierzulande das Problem nicht in den Griff, ungeachtet der enormen Summen, die für Integration ausgegeben werden? Sicher ist Deutschland noch nicht so lange Einwanderungsland wie es die USA oder Kanada sind. Aber an sich müsste die Zeit gereicht haben um herauszufinden, dass es bei der Einwanderung einen Schwierigkeitsgrad gibt, der mit der Menge ansteigt. Anschauungsunterricht bietet die türkische Migration in ihren Etappen. Das Erstaunen war auch unter Fachleuten groß, als sich herausstellte, dass die dritte Generation der Türken in Deutschland schlechter Deutsch spricht als die Pioniergeneration. Dabei hatte man doch im Laufe der Zeit gelernt, wie wichtig die Beherrschung der Sprache für eine gelungene Integration ist, und das Geflecht der Unterstützungsmaßnahmen war deutlich in die Breite gegangen. Zurückgegangen war jedoch zugleich der Ehrgeiz der Jungen, in der Sprache des Einwanderungslandes heimisch zu werden. Warum? Weil man inzwischen (durch Ghettoisierung) auf Straße und Spielplätzen Verhältnisse vorfand wie in der Türkei, weil Opa und Oma, Onkel und Tante nebenan wohnten, weil im Kinderzimmer türkisches Fernsehen lief und kurz gesagt kein Anreiz mehr da war, sich der Anstrengung der Anpassung zu unterziehen. Die schiere Zunahme der Zahl hatte Verhaltensweisen verändert.
Wieder lohnt es sich, auf Dänemark zu schauen. Im sozialdemokratisch (!) regierten Nachbarland begnügt man sich nicht damit, ein Auge auf die Zusammensetzung von Schülerschaften zu haben. Auch der Verfestigung ethnischer Wohnghettos wirkt man entgegen, sogar durch Häuserabriss und Umsiedlung. Klar, dass dies alles mit Risiken und Nebenwirkungen einhergeht, die nicht bei Arzt oder Apotheker abzufragen sind. Klar ist aber auch, dass die Integrationsrechnung todsicher schief geht, wenn die Zahl der zu Integrierenden aus dem Ruder läuft. Darüber herrscht in Dänemark Einigkeit.
In Deutschland hingegen fühlt man sich mit der Binde über den Augen am wohlsten. Als auf dem Höhepunkt der unkontrollierten Einwanderung der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer „Obergrenzen“ für den Zuzug verlangte, war er bei seiner Regierungschefin endgültig unten durch, und in den gesellschaftlich tonangebenden Kreisen wurde dem christlich-sozialen Politiker die Gabe der christlichen Nächstenliebe abgesprochen. Seither sind zehn Jahre vergangen, die Sicht auf das Migrationsgeschehen ist um einiges realistischer geworden. Aber noch immer werden Begriffe wie „Obergrenze“ oder „Kontingente“ gern für den politischen Totschlag verwendet. Und noch immer fällt den meisten Politikern und Verbandsvertretern, geht es um die Situation an den Schulen, nichts Besseres ein als die Forderung nach verbesserten Personalschlüsseln.
Wenn Karin Prien mit ihrem Vorstoß die Sterilität des Diskurses etwas aufmischen würde, wäre eine Menge gewonnen. Zu viel von Einem verändert die Qualität. Mag sein, dass Engels‘ Lehre vom dialektischen Sprung für die Enträtselung der Geschichte wenig bringt. Für die Enträtselung dessen, was an unseren Schulen nicht funktioniert, ist sie hilfreich.
Dr. Günter Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.
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