Politik: Wer lacht zuletzt?

İmamoğlu sitzt in Haft, doch die Opposition ist im Aufwind. Erdoğans Repression hat den Widerstand junger Türkinnen und Türken neu entfacht.

Demonstration von Studenten in Istanbul

Die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu hatte zum Ziel, die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) zu schwächen und ihre Handlungsfähigkeit zu lähmen. Gleichzeitig sollte sie eine abschreckende Wirkung auf die Anhänger entfalten, um politischen Widerstand im Keim zu ersticken. Der Plan sah vor, die Verwaltung der 16-Millionen-Metropole Istanbul unter staatliche Kontrolle zu stellen und die Partei einem Treuhänder zu übergeben. Auf diese Weise wollte man die CHP in interne Machtkämpfe verstricken und als politischen Machtfaktor neutralisieren. Doch es kam anders als erwartet: Anstatt in Lähmung zu verfallen, reagierte die CHP mit beeindruckender Geschlossenheit und Mobilisierungskraft. Die landesweiten Solidaritätsbekundungen stärkten den Zusammenhalt der Partei und positionierten sie erneut als zentrale Kraft der demokratischen Opposition.

Während sich die Protestmärsche in Istanbul, Ankara und Izmir schnell zu einem landesweiten Widerstand gegen Präsident Recep Tayyip Erdoğan ausweiteten, rief der Parteivorsitzende Özgür Özel einen außerordentlichen Parteitag ein. Dies sollte eine präventive Maßnahme gegen eine mögliche Annullierung seiner Wahl vom Herbst 2023 durch den Hohen Wahlrat sein, der oft zum Nachteil von Oppositionsparteien agiert. Die erneute Bestätigung Özels durch eine klare Mehrheit der Delegierten festigte seine Führungsposition innerhalb der CHP und stärkte seine Autorität gegenüber innerparteilichen wie auch externen Herausforderern.

Die Jugendbewegung des zivilen Ungehorsams hat deutlich gemacht, wie groß das politische Widerstandspotenzial und die Radikalisierungsdynamik der sogenannten Generation Z ist – jener Generation, die zuvor oft als apolitisch galt. Ihre Ablehnung der autokratischen Machtausweitung Erdoğans markiert einen Wendepunkt in der politischen Haltung junger Menschen. Gleichzeitig erheben auch Frauen vermehrt ihre Stimmen: Aktivistinnen der CHP-Frauenorganisation treten entschlossen und kämpferisch auf und demonstrieren ihre Unnachgiebigkeit gegenüber der Repression: „Wir werden den Widerstand fortsetzen, bis İmamoğlu freikommt“, lautet ein zentraler Slogan ihrer Bewegung.

Die große Sympathie vieler junger Menschen für den Istanbuler Bürgermeister hängt eng mit seinen konkreten Maßnahmen zusammen. Stipendienprogramme, kulturelle Angebote und der Ausbau öffentlicher Räume haben die Lebensqualität in der Stadt spürbar verbessert. Diese Initiativen stießen besonders in der jungen Bevölkerung auf breite Zustimmung und stärkten das Vertrauen in seine politische Vision. „Durch den Ausbau städtischer Wohnheime hat İmamoğlu viele Studierende von Unterkünften religiöser Gruppen unabhängig gemacht, die unter der AKP stark gefördert wurden“, so die Einschätzung von Ayhan Kaya, einem renommierten Soziologen und Experten für Jugendradikalisierung an der Istanbuler Bilgi-Universität. Das Engagement der Jugend hat offenbar dazu beigetragen, dass sich die CHP, die sich lange von Straßenprotesten distanziert hatte, nun an deren Spitze stellt. Die zunehmende Politisierung der jungen Generation hat die Partei ermutigt, sich stärker an den Protestbewegungen zu beteiligen.

Die zentrale Frage bleibt: Kann es der CHP gelingen, das politische Ruder herumzureißen und einen demokratischen Transformationsprozess in der Türkei einzuleiten?

Die zentrale Frage bleibt: Kann es der CHP gelingen, das politische Ruder herumzureißen und einen demokratischen Transformationsprozess in der Türkei einzuleiten? Unbestreitbar hat ihr entschlossener Widerstand der Partei neuen politischen Auftrieb verliehen. Während Ekrem İmamoğlu sich in Untersuchungshaft befand, wurde er im Rahmen einer parteiinternen Vorwahl formell als Präsidentschaftskandidat für die Wahlen 2028 nominiert. Rund 1,6 Millionen der insgesamt 1,7 Millionen CHP-Mitglieder stimmten für ihn. Hinzu kamen etwa 13,2 Millionen Bürgerinnen und Bürger, die in einer symbolischen, landesweiten Abstimmung ihre Unterstützung für den abgesetzten Istanbuler Bürgermeister bekundeten und damit ihre politische Solidarität signalisierten.

Bei den spätestens 2028 anstehenden Präsidentschaftswahlen gilt Ekrem İmamoğlu als aussichtsreicher Herausforderer von Recep Tayyip Erdoğan. Im März lag er mit 45,7 Prozent vor dem amtierenden Präsidenten, der auf 41,8 Prozent kam – ein Trend, der sich seitdem verstärkt hat. Auch die CHP insgesamt profitiert vom politischen Rückenwind. Während die regierungsnahe Volksallianz bei den Parlamentswahlen 2023 noch 49,5 Prozent der Stimmen erzielte, ist ihre Unterstützung bis Mai 2025 auf 40,5 Prozent gesunken. Die CHP hingegen konnte ihren Stimmenanteil von 25 auf 32 Prozent steigern und hat nun die Möglichkeit, einen neuen Oppositionsblock zu bilden. Laut aktuellen Umfragen könnte ein Bündnis aus der Guten Partei, der Neuen Wohlfahrtspartei, der Siegespartei und der Arbeiterpartei der Türkei bis zu 45 Prozent der Wählerstimmen erzielen. Dennoch bedeutet die wachsende Popularität nicht zwangsläufig, dass der CHP bereits umfassende politische Gestaltungsspielräume zur Verfügung stünden.

Bis zu den nächsten Wahlen verbleiben noch rund drei Jahre, und angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament ist es für die Opposition de facto ausgeschlossen, eine Parlamentsauflösung zu erzwingen und vorzeitige Wahlen herbeizuführen. Eine vorgezogene Parlamentsauflösung erfordert eine Zweidrittelmehrheit, die ohne die Zustimmung der ultranationalistischen MHP und der pro-kurdischen Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker (DEM) nicht erreichbar ist. Die MHP bleibt fest in Erdoğans Regierungsallianz eingebunden, während die DEM-Partei Gespräche mit dem Regierungslager führt, um Lösungen für die Kurdenfrage zu erarbeiten.

Erdoğan steht innenpolitisch unter wachsendem Legitimierungsdruck – aufgrund seiner repressiven Maßnahmen gegen İmamoğlu und die Istanbuler Stadtverwaltung sowie der gezielten Instrumentalisierung der Justiz.

Erdoğan steht innenpolitisch unter wachsendem Legitimierungsdruck – aufgrund seiner repressiven Maßnahmen gegen İmamoğlu und die Istanbuler Stadtverwaltung sowie der gezielten Instrumentalisierung der Justiz. Auch innerhalb seiner eigenen Partei wächst die Unzufriedenheit. Außenpolitisch gelingt es ihm jedoch, diesen Druck zu kompensieren und sein Profil zu schärfen. Als Vermittler im Russland-Ukraine-Krieg, Sicherheitspartner der EU und stabilisierende Kraft in Syrien präsentiert sich Erdoğan als international geachteter Staatsmann. Die Selbstauflösung der PKK und das offizielle Ende ihres bewaffneten Kampfes eröffnen ihm zusätzlich die Möglichkeit, sich als Friedensstifter zu inszenieren und sein innenpolitisches Ansehen aufzupolieren.

Mit seiner Strategie der „terrorfreien Türkei“ und dem Dialog mit PKK-Gründer Abdullah Öcalan hat Erdoğan geschickt einen Keil zwischen die CHP und die pro-kurdische DEM-Partei getrieben. In der Folge ist nicht ausgeschlossen, dass sich die pro-kurdische DEM-Partei dem Regierungslager anschließt. Möglich wäre dies durch gezielte Angebote der Regierung, wie politische Zugeständnisse oder etwa eine Amnestie für PKK-Funktionäre. Im Gegenzug könnte die DEM-Partei eine Verfassungsänderung mittragen, die Erdoğans exekutive Befugnisse weiter ausweitet. Der mögliche Deal verdeutlicht das grundlegende Spannungsverhältnis zwischen kurdischer Autonomiepolitik und der autoritären Machtsicherung.

Ein Bruch des bestehenden Machtgefüges erscheint nur unter der Bedingung einer fortschreitenden wirtschaftlichen Destabilisierung möglich – zusätzlich zu anhaltenden und sich ausweitenden Protesten sowie wachsendem gesellschaftlichen Widerstand. Die Verhaftung von Ekrem İmamoğlu löste erhebliche ökonomische Turbulenzen aus: Die Istanbuler Börse verlor 1,9 Billionen Lira an Kapitalisierung, die Kapitalflucht beschleunigte sich, der Leitzins stieg auf 44,6 Prozent, und die Risiko-aufschläge für türkische Staatsanliehen erreichten 383 Basispunkte. Diese Indikatoren spiegeln einen massiven Vertrauensverlust der Märkte wider, was die wirtschaftliche und politische Stabili-tät des Regimes gefährdet.

Sollte sich dieser Trend verstärken, könnten einzelne Abgeordnete der Volksallianz aufgrund wachsender Unzufriedenheit in Wirtschaftskreisen und der Angst vor einer Post-Erdoğan-Abrechnung ihre Loyalität aufkündigen. Eine weitere Gefahr für den Regierungsblock besteht darin, dass der gesundheitlich angeschlagene MHP-Vorsitzende Devlet Bahçeli amtsunfähig wird oder seine Frak-tion nicht mehr disziplinieren kann – seit Monaten bleibt er bereits wöchentlichen Fraktionssitzungen seiner Partei fern. Die Instabilität innerhalb der MHP würde auch die Volksallianz destabilisie-ren und den Weg für eine Parlamentsauflösung sowie vorgezogene Wahlen ebnen. Einen angeschlagenen Erdoğan abzuwählen, wäre für die CHP und ihren Kandidaten İmamoğlu keineswegs aussichtslos.

Dr. Yaşar Aydın ist Wissenschaftler im Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) der Stiftung für Wissenschaft und Politik.

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