Der Kreml sucht fieberhaft nach Wegen, die Geburtenrate zu steigern und appelliert an den Nationalstolz junger Frauen. Verfängt die Propaganda?

Kanonenfutter für künftige Kriege? Russische Kinder werden schon früh ans Militär herangeführt.

Die Lösung klingt so einfach: „Man muss einfach so viele Kinder wie möglich gebären und sie so gut wie möglich erziehen. Den Rest erledigen sie selbst“, so formulierte der Gouverneur der Region Kurgan, Wadim Schumkow, in seinem Telegram-Kanal die Antwort für das demografische Problem Russlands. Die Demografie ist tatsächlich eine der größten Herausforderungen, vor denen Russland steht. In diesem Jahr liegt die Geburtenrate auf dem niedrigsten Stand seit 25 Jahren, während die Sterberate gleichzeitig ansteigt. Der Bevölkerungsrückgang hat sich im ersten Halbjahr 2024 laut Schätzungen der russischen Statistikbehörde Rosstat im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um das 1,8-Fache verstärkt. Auch die Geburtenrate sinkt weiter: Im ersten Halbjahr 2024 wurden 2,7 Prozent weniger Kinder geboren als im gleichen Zeitraum des Jahres 2023. Angesichts dieser alarmierenden Entwicklungen reagiert die Politik jedoch nicht mit ausgewogenen demografischen Maßnahmen, sondern mit reiner Propaganda. Der russische Gesetzgeber sucht fieberhaft nach Wegen, Frauen zu mehr Geburten zu bewegen – und zwar eher mit Peitsche als mit Zuckerbrot.

Bereits 2022 wurde in die Staatsduma ein Gesetzentwurf eingebracht, der die „Childfree-Propaganda“, also die „Propaganda der Kinderlosigkeit“, verbieten sollte. Der Entwurf wurde damals abgelehnt, doch am 12. November 2024 verabschiedete das russische Parlament das Gesetz: Das Verbot der „Propaganda der Kinderlosigkeit“ sei für die nationale Sicherheit erforderlich. Laut Elvira Aitkulowa, Mitinitiatorin des Gesetzes und Abgeordnete der Putin-Partei Einiges Russland, verbreiten Anhänger der „Kinderlosigkeits“-Ideologie „Ideen eines freiwilligen Verzichts auf Kinder“ und förderten so eine Entvölkerung. Das Gesetz soll traditionelle Familienwerte stärken und gegen die Verbreitung von Informationen im Internet, in Medien, Filmen und der Werbung vorgehen, die den Verzicht auf Kinder propagieren. Für Verstöße drohen empfindliche Geldstrafen: bis zu umgerechnet etwa 4 000 Euro für Einzelpersonen und bis zu 50 000 Euro für Unternehmen.

Das Gesetz wurde noch nicht einmal in erster Lesung verabschiedet, hat aber bereits praktische Folgen gezeigt. Die Administratoren haben eines der größten Internetforen „Das Glück der Mutterschaft“ geschlossen. In diesem Forum tauschten sich mehrere zehntausend Frauen über Probleme rund um das Muttersein aus. Man könnte sich fragen, was Frauen mit Kindern mit der Ideologie der Kinderlosigkeit zu tun haben. Dies war ein Akt der Selbstzensur. Doch die Ängste der Frauen sind sehr nachvollziehbar. Was als Propaganda für Kinderlosigkeit gelten wird, bestimmen die Machthaber. Einige Experten äußerten bereits die Befürchtung, dass darunter auch Werbung für Verhütungsmittel und Kondome fallen könnte. Wadim Schumkow verglich Anhänger der „Childfree“-Bewegung gar mit Satanisten, die einen „offenen Konflikt mit Gott“ führen. Der Vorsitzende des Ausschusses für Familie, Mutterschaft und Kindheit der Russisch-Orthodoxen Kirche, Priester Fjodor Lukjanow, bezeichnete das Verbot als eine notwendige „Maßnahme zum Selbstschutz der Gesellschaft“ gegen schädlichen Einfluss von außen. Seiner Ansicht nach sei die Ideologie dieser Bewegung von „westlichen Strategen“ entwickelt worden.

Allerdings scheinen die russischen Parlamentarier den Kampf einer nicht existierenden Gefahr erklärt zu haben. Obwohl sie die „Kinderlosigkeits“-Bewegung für eine nationale Bedrohung halten, wollen in Russland laut einer aktuellen Studie lediglich 2,4 Prozent der Frauen und 3,5 Prozent der Männer keine Kinder. Diese Zahlen stammen aus einer 2022 von Rosstat durchgeführten Umfrage zu den reproduktiven Plänen der Bevölkerung und sind seit 2012 nur leicht gestiegen.

Fast die Hälfte der Russen wünscht sich sogar zwei Kinder, doch häufig mangelt es an finanziellen Mitteln, um diesen Wunsch zu erfüllen.

Die Annahme, es gebe ein weit verbreitetes Streben nach Kinderlosigkeit, entbehrt also jeder Grundlage. Fast die Hälfte der Russen, 45 Prozent, wünscht sich sogar zwei Kinder, doch häufig mangelt es an finanziellen Mitteln, um diesen Wunsch zu erfüllen. Wie eine Studie der Higher School of Economics (HSE) zeigt, liegt das Einkommensdefizit von Familien mit Kindern um das 4,3-Fache über der staatlichen Unterstützung. Familien mit Kindern sind die am stärksten gefährdete Gruppe im Hinblick auf das Armutsrisiko, heißt es in der Studie.

Es ist nicht so, dass die russische Regierung keine Maßnahmen zur Verbesserung der Demografie ergriffen hätte. Seit 2007 gibt es das sogenannte „Mutterschaftskapital“ – eine einmalige Zahlung bei der Geburt eines Kindes, die für den Erwerb von Immobilien oder die Ausbildung der Kinder genutzt werden kann. Für das Jahr 2025 sind jedoch nur 536 Milliarden Rubel (umgerechnet circa 5,3 Milliarden Euro) für das Mutterschaftskapital vorgesehen, was lediglich 0,27 Prozent des BIP entspricht. Auch die Bedingungen für die vergünstigte Familienhypothek, ein weiterer zentraler Mechanismus des Staates zur Unterstützung von Familien, wurden zum 1. Juli 2024 verschärft. Familien können die Vorzugsrate von sechs Prozent nur noch dann in Anspruch nehmen, wenn sie mindestens ein Kind unter sechs Jahren haben – unter den alten Bedingungen konnte das Programm von Familien mit einem Kind bis 18 Jahre genutzt werden.

Langfristig angelegte demografische Maßnahmen sind also teuer. Verbote, die traditionelle Werte stärken sollen, verursachen hingegen kaum Kosten und lassen sich in einem autokratischen System leicht umsetzen. Kein Wunder also, dass die Liste solcher Einschränkungen stetig wächst. So wurde es Mitte 2023 privaten medizinischen Kliniken in einigen Regionen Russlands untersagt, Abtreibungen durchzuführen. Im Juni empfahl das Gesundheitskomitee der Staatsduma dem Gesundheitsministerium, die Abtreibungsfrist von zwölf auf neun Wochen zu verkürzen. Zudem gibt es Vorschläge, eine Steuer auf Kinderlosigkeit einzuführen – wie einst in der Sowjetunion – und die Einnahmen für die Modernisierung russischer Waisenhäuser zu nutzen. Diese Maßnahmen fügen sich in die Reihe von Aktionen russischer Gesetzgeber gegen vermeintliche Bedrohungen ein. So verbot der Oberste Gerichtshof Russlands im November 2023 die Tätigkeit der – faktisch nicht existierenden – „internationalen LGBT-Bewegung“, die als extremistisch eingestuft wurde. Als nächstes soll die Jugend-Subkultur der Quadrobics verboten werden, deren überschaubare Anhängerschaft sich mit Tieren identifiziert, Masken trägt und Tierverhalten nachahmt.

Das Verbieten vermeintlich „destruktiver“ Subkulturen zeigt die Orientierungslosigkeit des Kremls bei der Lösung echter Probleme wie der Demografie. Um sicherzustellen, dass russische Jugendliche nicht von westlichen Einflüssen verführt werden, sondern frühzeitig an die Familienplanung denken, wurde ein neues Schulfach namens „Familienkunde“ eingeführt. Ziel des Faches ist es, bei den Schülern pro-familiäre Werte und Vorstellungen über Ehe, Kinderreichtum und Keuschheit zu verankern, um die demografischen Probleme des Landes zu lösen, wie es im Fachprogramm heißt.

Putin äußerte auf dem Östlichen Wirtschaftsforum im September, dass es in Russland wieder in Mode kommen solle, viele Kinder zu haben, wie früher, als russische Familien sieben, neun oder zehn Kinder hatten. Am selben Tag forderte die Duma-Abgeordnete Zhanna Ryabtsewa die Russinnen auf: „Gebären, gebären und nochmals gebären“. In der Region Tscheljabinsk erhalten Studentinnen unter 24 Jahren deshalb auf Initiative des Gouverneurs eine Million Rubel für die Geburt eines Kindes. All diese Appelle, Verbote, Strafen und Erziehungsmaßnahmen scheinen jedoch kaum Einfluss auf das Geburtenwachstum in Russland zu haben. Bereits 2023 räumte Putins Sprecher Dmitri Peskow ein, dass die Maßnahmen zur Förderung der Geburtenrate nicht das gewünschte Ergebnis gebracht hätten. Laut Prognosen von Rosstat wird die Anzahl der Geburten von 2023 bis 2027 von jährlich 1,244 Millionen auf 1,140 Millionen sinken. Nach Ansicht des unabhängigen Demografen Alexej Rakscha wären zur Steigerung der Geburtenrate in Russland jährlich mehr als sechs Billionen Rubel (circa 60 Milliarden Euro) zur Armutsbekämpfung nötig. „Im Idealfall sollte für jedes Kind eine bedingungslose Zahlung in Höhe des Existenzminimums bis zur Volljährigkeit oder zum Universitätsabschluss gewährt werden“, sagte er der unabhängigen Zeitschrift Serena.

Putin bezeichnet den „Schutz des Volkes, die Förderung von Mutterschaft und Kindheit sowie die Erhöhung der Lebenserwartung“ als die grundlegende Leitlinie der staatlichen Politik. Die Kampagne zur Förderung von Familienwerten und die Aufforderung an Frauen, mehr und früher Kinder zu bekommen, haben jedoch kaum etwas mit dem „Schutz des Volkes“ zu tun und wirken zynisch in einem Land, das einen Krieg gegen seinen Nachbarn führt. Die Lippenbekenntnisse des Kremls stehen in scharfem Widerspruch zur Realität, in der das genetische Erbe und wertvollste Kapital Russlands – seine jungen Männer – Tag für Tag auf den Schlachtfeldern der Ukraine sterben. Genaue Zahlen sind schwierig zu finden. Bereits ein Jahr nach Kriegsbeginn lag nach Schätzungen des Centers for Strategic and International Studies die Anzahl der Getöteten und Verwundeten auf Seiten der Russischen Föderation bei etwa 200 000 bis 250 000. Eine gemeinsame Studie von BBC und Mediasona von diesem Oktober kommt auf 72 000 getötete russische Soldaten. Die NATO schätzt, dass sich allein dieses Jahr die Zahl der verwundeten oder getöteten russischen Soldaten auf 600 000 verdoppelt hat.

Kinder für das Land zu gebären, ohne zu fragen, wie viel Geld es dafür gibt – das sei wahre Heimatliebe.

Den Sinn und Zweck der regelrechten „moralischen Panik über die Geburtenrate“, wie Alexej Rakscha es nennt, die die russischen Behörden in den letzten Monaten entfacht haben, erklärte Michail Minenkow, Bürgermeister von Newinnomyssk, in einer Radiosendung: „Du bist deinem Vaterland etwas schuldig, aber das Vaterland schuldet dir nichts.“ Kinder für das Land zu gebären, ohne zu fragen, wie viel Geld es dafür gibt – das sei wahre Heimatliebe.

In der russischen Sprache gibt es eine geflügelte Redewendung: „Die Weiber werden schon neue gebären“, womit die verächtliche Haltung der (militärischen) Befehlshaber gegenüber dem Wert des menschlichen Lebens gemeint ist. Mit der einen Hand nimmt der Kreml junge Männer und schickt sie ins Kriegsgetümmel, während er mit der anderen Hand vehement an die Gesellschaft appelliert, mehr Kinder in die Welt zu setzen. Die Appelle, für das Vaterland zu gebären, erscheinen wie ein strategischer Plan – um sicherzustellen, dass es auch in 20 Jahren genug „Material“ gibt, das an die Front geschickt werden kann. In einer Gesellschaft, in der Leben geopfert werden, wird das Gebären von Kindern zur Pflicht und die Zukunft der nächsten Generation zur potenziellen Ressource für den Machterhalt des Kremls.

Daria Boll-Palievskaya ist freie Journalistin und Autorin. Sie ist Redakteurin der unabhängigen Online-Zeitung russland.NEWS und schreibt u.a. für Zeit Online und den MDR. 

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