Von Gisbert Kuhn

Gisbert Kuhn

Die täglichen Bilder aus dem von Bomben zerfetzten Gaza-Streifen von verwundeten Kindern, verzweifelten Frauen, zerstörten Häusern und Wohnungen, mangelnder medizinischer Versorgung, fehlenden Nahrungsmitteln und ziellos in irgendein Nirgendwo auf der Suche nach Rettung und Sicherheit fliehender Menschenmassen – diese Bilder können niemanden unberührt lassen. Sie übersteigen schier das Fassungsvermögen und lassen einen jedes Mal mit der unbeantworteten Frage zurück, warum Menschen solches ihren Mitmenschen antun. Unschuldigen Zivilisten, wie es in der Regel im Begleittext heißt.

Um Zivilisten handelt es sich bei den Bomben- und Granatenopfern ohne Frage. Zumindest bei den allermeisten. Ob sie freilich alle unschuldig waren (und sind), also im Sinne des Wortes ohne Mitschuld (oder zumindest ohne Mitwissen) an den planmäßigen Vorbereitungen jenes am 7. Oktober mit unsäglichen Gräueltaten verübten Hamas-Überfalls auf nun wirklich unschuldige israelische Zivilisten – diese Frage wird sich endgültig wahrscheinlich nie klären lassen. Die nach vorangegangenen Folterungen und Vergewaltigungen, mitunter bei lebendigem Leib verbrannt zurückgelassenen rund 1 200 Toten und 239 entführten Geiseln sind jedenfalls Zeugnis genug für kaum noch steigerungsfähige Unmenschlichkeit. Und ja, auch das muss konstatiert werden: Der tief geschockte israelische Staat übt, mit weitestgehender Billigung seiner traumatisieren Bürger, seither nicht nur „angemessene“ Vergeltung. Die Vorgehensweise des Militärs grenzt nicht selten schon an Rache.

 Trotzdem: Ursache für all das, was gegenwärtig auf dem winzigen Gaza-Landstrich an schier Unfassbarem geschieht, ist der Terrorüberfall der Hamas-Verbrecher vom 7. Oktober. Erstaunlicherweise aber haben sich – nach einer kurzen Entrüstungsphase – Mitgefühl und Sympathien fast weltweit von dem permanent in seiner Existenz bedrohten Judenstaat abgewandt und gelten nahezu ausschließlich dem „gerechten Anliegen der Palästinenser“. Fast ein Treppenwitz der Geschichte: Ausgerechnet das von Israel über Jahrzehnte wirtschaftlich, technisch und technologisch geförderte Südafrika klagt seinen einstigen Mentor wegen angeblichen Völkermords (Genozid) vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag an. Und Treppenwitz Nummer zwei: Ausgerechnet Wladimir Putin geißelt mit scharfen Worten die Erstürmung eines Krankenhauses in Gaza-Stadt, unter dem eine Kommandozentrale der Hamas verbunkert war. Derselbe Putin, der die Ukraine überfiel und dort geradezu wahl- und sinnlos Kliniken, Schulen und Entbindungsstationen in Schutt und Asche legen ließ. Übrigens ohne dass deswegen ein Protest, vielleicht sogar gar eine Verurteilung aus Südafrika, Brasilien oder Indien zu vernehmen wäre, Von China ganz zu schweigen.

Es ist naturgemäß nicht leicht, gegen Gefühle zu argumentieren. Zumal diese meistens von hohen, in der Regeln einseitigen Moralvorstellungen geleitet sind. Es ist auch nicht leicht, gegen einen mainstream zu steuern. Zumal tagtäglich zehntausende, nicht selten unsäglich leidende, Menschen diesen Emotionen verständlicherweise Nahrung geben. Unschuldige Zivilisten! Haben sie alle wirklich nichts gewusst von dem gewaltigen Bunkersystem, das über hunderte von Kilometern den praktisch gesamten Untergrund des Gaza-Areals durchzieht? Betonierte und geflieste Röhren mit modernster Belüftungs- und Bewässerungstechnik, breit genug sogar für Kraftwagen. Wusste an der Erdoberfläche wirklich niemand, wohin der Zement verschwand, den die finanziellen Geberländer (allen voran die USA, Deutschland und die EU) eigentlich für den Bau von Krankenhäusern, Schulen und Wohnungen sowie zum Betrieb einer funktionierenden Verwaltung vorgesehen glaubten? Hat wirklich kein Gaza-„Palästinenser“ bemerkt, wie die an sich für die Trinkwasserversorgung gedachten Metallröhren verschwanden und in Form von totbringenden Raketen wieder auftauchten?

Und nicht zuletzt: Sind die Bilder von den Freudentänzen (nein, nicht in Berlin-Neukölln) auf den Straßen Gazas vergessen, die jedes Mal jubelnd aufgeführt wurden, wenn wieder einmal ein islamistischer Selbstmord-Attentäter Passanten mit in den Tod riss? Vor wenigen Tagen erstarrte die Führung der Vereinten Nationen und besonders die für humanitäre Hilfe zuständige Behörde, als Israel die direkte Beteiligung von 12 palästinensischen UNO-Bediensteten an dem Massaker vom 7. Oktober nachwies. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, um sich vorzustellen, dass die Dunkelziffer an Tätern viel höher ist. Und ganz gewiss könnten sich nur die wenigsten davon auf „Befehlsnotstand“ berufen. Kein Wunder. Sind doch die allermeisten der „Kämpfer“  bereits in der Schule mit dem Gift namens „Hass“ infiziert worden. Mithilfe von vor Antisemitismus nur so strotzenden Büchern – finanziert in aller Regel mit Hilfsgelder der EU…

Andererseits – so wenig glaubwürdig es ist, dass die Zivilbevölkerung Gazas keine Ahnung von den gewaltigen Bunkerarbeiten und Terrorakten der Hamas hatte, so wenig kann man das den israelischen Sicherheitsorganen abnehmen. Mag sein, dass dem Geheimdienst nicht jedes einzelne Projekt bekannt war. Aber die israelischen Behörden ließen es im Großen und Ganzen geschehen – wohl, weil sie überzeugt waren, alles im Griff zu haben. Genauso wie die Milliardengelder aus den Golf-Emiraten mit Wissen und Billigung Israels an die Hamas flossen. Könnte es daher sein, dass die diversen Regierungen in Jerusalem und der dazu gehörende Sicherheitsapparat einer – im Nachhinein gesehenen – fatalen Selbsttäuschung zum Opfer fiel. Dem Glauben nämlich, dass ein gewisses Quantum israelischen Wohlverhaltens womöglich ähnliches auf der Gegenseite auslösen und langfristig vielleicht sogar zu einer friedlichen Lösung des Konflikts führen werde?

Ein solch folgenreicher Irrtum wäre nicht der erste in der jüngeren Geschichte gewesen und wird auch nicht der letzte sein. Ein Beispiel gefällig? Sogar eines, an dem unser Land führend beteiligt war und was ihm heute teuer zu stehen kommt. Es geht um das Verhältnis zu Russland. „Friedensdividende“ hieß der Jubelbegriff, verbunden mit der Gewissheit, dass mithilfe eines umfangreichen internationalen Vertragsgeflechts mehr oder weniger der ewige Friede ausbrechen werde. Landesverteidigung (ohnehin nicht sonders beliebt in Deutschland) fand nun auch politisch praktisch nicht mehr statt, auf Sicherheit bedachte Außenpolitik genau so wenig. Dann kamen der 24. Februar 2022 mit Putins Überfall auf die Ukraine und ein jähes Erwachen in einer brutalen Wirklichkeit.

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und später Berichterstatter über Europa in Brüssel.

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